VI.

[749] Es ist ein unerbittliches Gesetz, welches Tage an Tage, Wochen an Wochen, Monden an Monden und Jahre an Jahre reiht. Keine Stunde, keine Sekunde darf stehen bleiben; sie geht, sie muß gehen, um der nächsten Raum zu geben, und mit ihnen geht der Mensch mit seinem Denken und Treiben, hinauf oder hinunter, bergan oder bergab, unaufhaltsam und ohne Stillstand, gezogen und getrieben von den guten oder schlimmen Gewalten, denen er die Herrschaft über sich einräumt. Und dieses Steigen oder Sinken des Menschen, es ist mit seinen inneren und äußeren Erfolgen nicht nach kurzen Zeitspannen bemerkbar; seine Wirkungen wachsen stät und langsam aus sich heraus, und erst nach Jahren tritt die Veränderung zu Tage.

So war es mit dem Teichbauer zwar langsam, aber immerfort bergab gegangen. Es gehört eine schöne Zeit dazu, ein Anwesen wie den Teichhof durch die Gurgel zu jagen und die Karte zu zertrümmern, aber es war doch geschehen. Nun saß die fremde, vornehme und kranke Frau auf dem Hofe; der Balzer hatte bei einem seiner Spießgesellen eine armselige Dachstube bezogen; niemand wußte, wovon er sein Leben fristete, wenn es nicht der Wilddiebstahl war, der ihm den ärmlichen Unterhalt gewährte, und es kam endlich so weit, daß man ein scharfes Auge auf ihn richtete. Jetzt stand er vor dem Vorsteher, der ihn durch den Büttel zu sich beschieden hatte.

»Balzer, ich habe Ihn von Amtswegen rufen lass'n. Steh' Er mir Red' und Antwort auf die Frag'n, die ich an Ihn richt'n werd'!«

»Warum net, wenn Ihr net unnütz fragt!«

»Von unnützem Gered' kann hier an dieser Stell' wohl net das Gesag' sein. Also, was treibt Er für Arbeit und wovon nimmt Er seine Nahrung her?«

»Ich treib' was mir beliebt und leb von Dem, was mir schmeckt.«

»Gut! Das ist deutlich genug gesproch'n, so daß ich ganz genau merk', woran ich mit Ihm bin. Wer sich vor seinem Vorgesetzt'n so dreist benimmt, wie Er, dem hält man kaane lange Red' und macht kurz' Federlesens mit ihm.«

»Mein Vorgesetzter? Vorsteher, was fällt Euch ein? Ich waaß kaan Wort davon, daß ich Euch mir voraufgestellt hab. Ihr thut, was Euch gefällt, ich bekümmere mich net darum, und wovon ich leb', das ist meine Sach' und geht Euch auch nix an.«

»Daß es mich 'was angeht, und daß ich Sein Vorgesetzter dennoch bin, das soll Er bald erfahr'n. Merk Er nur auf, was ich Ihm jetzt sag! Ich geb' Ihm die volle Woch' noch Frist, daß Er sich nach ordentlicher Arbeit umthut und mir dann persönlich meldet, wo Er im Dienst steht. Thut Er dies aber net, so kommt Er in das Gemeindehaus und unter die Aufsicht des Armenpflegers. So ist's in der letzt'n Sitzung beschlossen word'n und das hab' ich Ihm amtlich zu eröffnen. Jetzt kann Er gehn!«

Balzer wollte mit einer Entgegnung losbrechen, der Vorsteher aber, dies voraussehend, hatte bei dem letzten Worte die Thür zum Nebenraum ergriffen und ihn allein stehen lassen.

Es blieb ihm nichts übrig, als zu gehen. Draußen aber ballte er die Fäuste gegen das Haus und murmelte eine grimmige Verwünschung vor sich hin. Dann aber blieb er, wie von einem plötzlichen Gedanken befallen, stehen, dachte einige Augenblicke über denselben nach und schritt dann hastig vorwärts.

»Ja, das ist das Best', was ich thun kann, und es ist verwunderlich, daß ich net schon längst darauf gekommen bin. Seit ich dies Mad'l gesehn hab', läßt mir's weder Ruh noch Rast. Ich bin der Lump, ja der Lump bin ich, so sag'n sie hier im Ort', und auch fast alt geword'n; und sie ist reich und schön, so schön und vortrefflich und noch so jung; doch wenn ich den Teichhof wieder bekommen könnt, so wär' ich gleich wieder der Mann, vor dem sie die Mütz' abziehn, und dann wollt ich dem Vorsteher 'mal zeig'n, wer mein Vorgesetzter ist. Ich geh', es bleibt dabei!«

Er schritt dem Teichhof zu. Es sah dort jetzt weit anders aus als zu seiner Zeit, und man merkte auf den ersten Blick, daß hier trotz der Krankheit der Herrin Alles sich im richtigen Zustande befand.

Unter der Thür stand Alma und fütterte aus einer Schüssel voll goldgelber Körner das um sie herumflatternde Geflügel. Als sie ihn erblickte, glitt es halb wie Furcht, halb wie Unmuth über ihr liebliches Angesicht.

»Grüß Gott, Jungfer! Ist die Bäu'rin zu Haus'?«

»Ja. Was wollt Ihr?«

»Ich hab' mit ihr zu sprech'n.«

»Sagt's mir, was Ihr begehrt! Es ist so gut, als hört's die Mutter.«

»Ich muß mit ihr selber red'n.«

»Sie ist unwohl und läßt darum niemand zu sich, wenn's net nöthig ist.«

»So sagt, daß es pressirt!«

»Wartet hier, bis ich wiederkehr'.«

Er setzte sich auf die vor der Thür stehende Bank. Seine Augen blickten zornig im Hofe umher.

»Das ist der Teichhof, der mir gehört', und nun darf ich net 'mal eintret'n, sondern muß vor der Thür wart'n wie der Bettelbub', dem nix gehört, als der Pfennig und aan finster Gesicht. Aber wart' nur, mit dem Balzer ist's noch lange net Matthäi am Letzt'n;[749] er kommt schon wieder zu Courasch', und dann pfeift die Flöt' wieder nach seiner Art und Weis'.«

Das Mädchen kehrte zurück.

»Kommt herauf!«

Sie führte ihn die Treppe empor und öffnete eine Thür.

»Hier tretet ein!«

Die Fenster des Zimmers, in welchem er sich jetzt befand, waren von reichen Gardinen verhüllt, und die blauen Rouleaux, welche tief herabgelassen waren, dämpften das Tageslicht so weit, daß Dämmerung in dem Raume herrschte. In einem dunkelsammetnen Fauteuil ruhte, in leichte, weite Falten gehüllt, eine Frauengestalt, deren feine, blasse Züge kaum zu erkennen waren. Eine leise Stimme frug:

»Wer seid Ihr?«

»Der Balzer.«

»Ah, der frühere Besitzer meines Gutes! Ich sah Euch noch nicht, weil ich den Hof von der Gantkommission und nicht direkt aus Eurer Hand kaufte. Was wollt Ihr?«

»Ich wollt' Euch meinen Dienst anbiet'n. Ihr seid krank und habt kaane Mannsperson bei Euch, die zum Recht'n sieht; da geht gar Viel's derquer und der Schad'n bleibt net aus. Ich kenn' jed'n Schrittbreit von dem Teichhof und dem, was zu ihm gehört, und waaß genau, was er verlangt. Die Leut sag'n all', daß Euch der rechte Hausmeister fehlt, der für Euch sorgt und Aufsicht führt.«

»Sagen sie auch, daß Ihr der richtige Mann zu diesem Posten seid?«

Die Stimme klang lind und weich, aber es lag etwas in ihrem Tone, was den Balzer mit der Antwort zögern ließ. Sie fuhr fort:

»Ich will nicht bestreiten, daß ich einer männlichen Kraft bedarf, die den fehlenden Herrn ersetzt, doch grade Euch kann ich nicht dazu wählen.«

»Warum?«

»Es müßte Euer Ehrgefühl beleidigen, da Stellvertreter zu sein, wo Ihr früher Herr waret.«

»So nehmt mich wenigstens zum Knecht: ich will einmal gern auf den Hof!«

Er bemerkte nicht, daß er mit diesen Worten einen doppelten Fehler beging.

»Das geht ja noch viel weniger, mein Lieber, denn jeder Befehl, der Euch ertheilt würde, müßte Euch bitter treffen, und das will ich Euch nicht anthun.«

»Auch net als Taglöhner?«

»Ebenso wenig. Ich glaube doch, daß es Euch nicht schwer werden kann, im Dorfe zu finden, was Ihr sucht. Ich bin hier fremd und kenne Eure Ansprüche und Leistungen nicht so, wie Eure Bekannten.«

Es war eigenthümlich, diesem schwachen, kranken Wesen gegenüber fühlte Balzer nicht den Muth zur Gegenrede. Es war eine Art von Beklemmung plötzlich über ihn gekommen, die ihm das Geständniß entriß:

»Die mög'n nix von mir wiss'n und ich komm' in das Armenhaus, wenn ich hier bei Euch net Hülf' und Unterstützung find'.«

Es entstand eine Pause, während welcher die Augen der Frau mit eigenthümlichem Ausdrucke auf ihm ruhten; das war trotz der Dämmerung zu erkennen. Er aber blickte vor sich nieder und bemerkte es nicht.

»Könnt Ihr denn nichts Anderes beginnen?«

Er holte tief Athem.

»Dazu gehört Geld, und das hab' ich net.«

Seine Augen flogen wie Hülfe suchend im Zimmer umher und fielen auf einen offen stehenden Schrank. In demselben stand eine eiserne Kassette, in welcher der Schlüssel steckte.

»So überlegt einmal, was Ihr anfangen könntet, und wenn ich gewiß sein kann, daß die Gutthat nicht weggeworfen ist, so werde ich Euch vielleicht beispringen, denn ich hoffe, daß ich nur Gutes von Euch höre.«

Bei diesen Worten mußte er daran denken, daß gerade das Gegentheil stattfinden werde, und das brachte den alten Geist wieder über ihn.

»So ist's also nix mit dem Dienst?«

»Leider nein.«

»Dann behaltet auch die Gutthat für Euch. Der Balzer wird sich schon selber beispringen!«

Er warf die Thür krachend in das Schloß und ging.

Drunten im Hofe stand jetzt ein mit feinen Polstern ausgeschlagener und mit warmen Decken versehener Schlitten. Eine Magd trug die Wärmflasche herbei, und der Kutscher war beschäftigt, die Pferde anzuschirren. Sie blickten mißtrauisch auf die unordentlich gekleidete Gestalt des Vorübergehenden.

»So könnt' man's auch hab'n,« murmelte er, »wenn der Giftheiner net gewes'n wär, der mir das ganze Leb'n verstört und vernichtet hat. Alles auf's Schönst' und Vornehmst' ausgestattet, wie sich's nur so wünsch'n läßt. Aber die Kass' da drob'n ist noch besser als der Schlitt'n, und ich gebrauch' sie nothwend'ger als die Madam, die so schön höflich grob sein kann. Sie mag nur immer nach mir frag'n, mir ist der Leumund gleich!«

Als er aus dem Feldwege in die Straße einbog, begegnete ihm Der, an welchen er soeben mit Grimm gedacht hatte.

»Der Heiner! Der Hallunk' trägt sich gerade wie aan Baron, mit Marderpelz und Krimmermütz'. Ich straf' ihn mit Verachtung und thu', als ob ich ihn gar net bemerk'.«

Es war wirklich ein ganz stattlicher Anblick, welchen Heinrich Silbermann bot, und man merkte es, daß seine Sängerfahrten selbst auf den Stoff und Schnitt seiner Kleidung Einfluß gehabt hatten. Im Gebirge tritt der Winter früher ein als im Niederlande; es hatte seit einigen Tagen stark geschneit und eine tüchtige Schlittenbahn hingeworfen, welche unter seinen Schritten stark erknirschte. Wie er so dahinging mit seinen sichern, elastischen Bewegungen, sah er bedeutend jünger aus als er war und es war ein schneidender Kontrast, den die herabgekommene Gestalt des lautlos an ihm vorübergleitenden Feindes mit ihm bot.

Schon lag das Dorf eine ziemliche Strecke hinter ihm, als er lautes Schellengeläute vernahm. Er drehte sich um; ein Schlitten nahte sich im raschen Laufe des muthigen Gespannes. Alma saß darin. Sie sah den Dahinschreitenden und glaubte, es sei ein Herr aus der Stadt. Als sie aber im Vorbeifahren einen Blick in sein Gesicht warf, ließ sie sofort halten.

»Grüß Gott, Heiner! Hätt' Dich beinah' gar net erkannt, so stolz und vornehm schaust' heut aus. Willst' nach der Stadt?«

»Grüß Gott, Alma! Ja.«

»So steig mit ein! Oder halt, hast' auch gelernt zu fahr'n?«

»Warum net?«

»So kannst' die Zügel nehmen. Der Knecht wird zu Haus' gebraucht und hat net gut abkommen können. Jetzt kann er heim lauf'n.«

Der Knecht stieg ab und übergab Heiner die Zügel mit der Peitsche. Dieser griff zu und wollte den verlassenen Sitz einnehmen.

»Nein, net da vorn, Silberheiner. Komm herein zu mir, da ist's warm und wir können auch mit 'nander sprech'n!«

Er stieg ein, nahm die Pferde scharf zusammen, und fort gings in raschem Lauf. Er hatte mit dem herrlichen Mädchen nur zweimal gesprochen, sie überhaupt nur diese beiden Male getroffen, aber das ganze Dorf war von ihrer Schönheit, ihrer Herzensgüte und ihrem Lobe voll, und gerade die Art und Weise dieser zwei Begegnungen war ganz geeignet gewesen, sie für ihn unvergeßlich zu machen. Jetzt hatte sie selbst ihn aufgefordert, mitzufahren, ja, ihn selbst an ihre Seite genöthigt, und nun saß er neben ihr und wagte kaum, einen Blick auf den blauseidenen Schleier zu werfen, unter welchem sich ihre weichen, warm leuchtenden Züge verbargen wie die Frühlingssonne hinter leichtem Federgewölk.

»Fährst net gern Schlitt'n, Heiner?« klang es schalkhaft aus den warmen Hüllen heraus.

»Sehr gern,« antwortete er treuherzig.

»Aber net mit mir?«

»Mit Dir am Allerliebst'n, Alma. Warum denn net?«

»Weil Du so aan absonderlich' Gesicht machst.«

»Sag, was willst' für aan's?«

»So wie damals, als – als – als – –«

Er wartete einige Augenblicke; als aber das sich besinnende Mädchen nicht fortfuhr, ergänzte er:

»Als damals auf dem Fichtler?«

»Ja, als Du zum letzt'n Male mit der Alwin' droben gewes'n bist.«

»Mit der Alwin'?« Sein offenes Gesicht nahm den Ausdruck tiefsten Erstaunens an. »Wie kommst' dazu, davon zu wiss'n? Denn nur die Alwin' und ich, wir haben's gewußt.«

»Ich sag's Dir später, Heiner!«

»Wann!«

»Wenn Du mir auch 'mal so viele Gedicht' geschenkt hast wie ihr.« Seine Verwunderung wuchs.

»Auch dies hast' vernommen? Aber Du darfst ja doch kaan Gedicht von mir erhalt'n!«

»Weshalb.«

»Bei ihr durft's geschehen, denn sie hat mich lieb – – gehabt.«

Er legte den Nachdruck auf das letzte Wort, und dabei ging es über sein Gesicht wie eine tiefe Traurigkeit.

»Dann hat sie Dich verlass'n!«

Er antwortete nicht, sondern neigte nur leise den Kopf. Da[750] grub sich ihre kleine, behandschuhte Hand aus den Pelzen hervor und legte sich auf seinen Arm.

»Kannst sie wohl gar nie vergess'n, Heiner?«

»Was hilft's, wenn ich d'ran denk! Der Leichtsinn ist besser d'ran als ich; der lacht und nimmt den Wechsel.«

Er schwang die Peitsche und ließ die Thiere weiter ausgreifen, als wolle er durch den rascheren Galopp der Erinnerung entgehen. Sie aber ließ ihn nicht los.

»Hättst auch 'was Andres find'n sollen!«

»Ich hab's net vermocht. Und wenn ich's gewollt hätt', wohin sollt' ich schaun?«

»Recht hast', Heiner; sie sind für Dich zu schlecht.«

»Nein, zu schlecht net, Alma, sondern zu obenhin. Wer tief baut, will auch tief wohnen und dann verstand'n sein.«

»So willst' allein bleiben fürs Leb'n?«

»Es kann net anders sein!«

Sie zog die Hand zurück und ließ den Blick mit tiefer Theilnahme auf ihm ruhen. Das junge Mädchen war innerlich weit über ihre Jahre hinaus entwickelt; sie mußte von einer ausgezeichneten Mutterhand geleitet worden sein, und ihr bisheriges Leben war vielleicht nicht blos ein Weg durchs Glück gewesen.[751]

»Waaßt, Heiner, daß ich Dich gar oft schon gesehen hab?« unterbrach sie das Schweigen wieder.

»Wo?«

»An Deinem Fenster, wenn ich beim Kantor bin. Er wollt' die Kantat' aufführ'n, aber es geht net, weil der Solotenor fehlt.«

»Er mag den Balzer nehmen!«

»Das macht' er auch; aber der ist ja so fertig worden, daß niemand mit ihm singen möcht.' Heut war er auf dem Teichhof bei der Mutter.«

»Der Balzer? Was hat er dort zu schaff'n?«

»Hausmeister wollt' er werd'n, dann Knecht und nachher Tag'löhner.«

»Und was ist ihm für Antwort geschehn?«

»Die einz'ge die es giebt. Er hat gehen müss'n. Es mag ihn niemand mehr, und nur der Kantor spricht net ganz bös von ihm.«

»Weil er ihn hat zum Schwiegersohn machen woll'n. Der Balzer ist an mir und Allem schuld.«

»Der Balzer und das Theater, net wahr, Heiner?«

Fast hätte er mit einem Ruck die Pferde angehalten, so durchzuckten ihn diese Worte.

»Alma, bist' etwa allwissend?«

»Nein,« lächelte sie.

»So sag', woher Du so All's erfahren hast!«

»Schreib mir erst die Gedicht'!«

Hatte er ihr nicht gesagt, weshalb er das nicht dürfe? Und nun forderte sie ihn dennoch wieder auf!

»Sei doch net so schlimm zu mir, Alma!«

Verstand sie, was er sagen wollte und doch kaum selbst verstand? Sie schlug die Augen nieder, und der Schleier verhüllte seinem Blicke ihr tiefes Erröthen. Schon vor langer, langer Zeit, schon in der Ferne hatte sie von ihm gehört und seinen Namen gekannt. Obgleich noch Kind, war sie die einzige Vertraute einer reumüthigen Seele gewesen, welche täglich und stündlich an den einfachen erzgebirgischen Vogelsteller denken mußte, obgleich sie von allem Luxus eines reichen und hochgestellten Lebens umgeben wurde. Die kranken, bleichen Züge zuckten wehmüthig, wenn sie den Silberheiner nannten, und Alma war es dabei, als müsse sie einen Theil der Schuld auf ihre junge Seele nehmen, um sie zu sühnen für das einzige Wesen, welches ihr nahe stand. Nun war sie hier, hatte ihn gesehen, ihn gesprochen, er saß an ihrer Seite und – war es dieses Bedürfniß der Sühne oder war es etwas Anderes, sie hätte ihre Arme um ihn legen und ihm Frieden geben mögen, so gern, so unaussprechlich gern.

Sie hatten jetzt die Stadt erreicht. Heiner wandte sich ihr wieder zu.

»Wo steigst' ab, Alma?«

»Im ›Bären,‹ Heiner. Fährst doch wieder retour?«

»Ich muß wohl. Hast doch sonst den Kutscher net!«

»Und wo hast' zu thun?«

»In der Buchhandlung.«

»So gehst' erst mit in die Stub' und bestellst den Kaffee!«

Es war ihm wie im Traume. Woher war dieses Mädchen mit seiner geheimsten Vergangenheit so gut bekannt? Das Vertrauen, mit welchem sie ihn zu ihrem Ritter machte und die Selbstverständigkeit, welche sie bei Allem vorauszusetzen schien, begannen ihn verwirrt zu machen. Tausend viel höher Stehende als er hätten sich von ihrer Gunst beglückt gefühlt, sie vielleicht um hohen Preis zu[762] erringen gesucht, und nun ward sie ihm, dem armen Vogelsteller, so ohne alle Anstrengung zu Theil!

Er konnte nicht weiter denken. Der Gasthof war erreicht, der herbeieilende Hausknecht nahm das Geschirr in Empfang und auch der Wirth kam, sobald er das Mädchen erkannt hatte, mit außerordentlicher Schnelligkeit vor die Thür und rief, das Käppchen vom Kopfe reißend:

»Willkommen, tausendmal willkommen, mein gnädigs Fräulein Komtess'. Tret'n Sie näher, herein in die Stub', ins gute Zimmer. Es ist kaan Mensch d'rin; Sie sind ganz allein und ungestört!«

Komtesse? Heiner wußte nicht wie ihm geschah. Er schlug die Decken zurück, und ehe er zur Seite treten konnte, war sie aus dem Schlitten heraus, hatte ihre Hand auf seinen Arm gelegt und rauschte an seiner Seite am Wirthe vorüber in das Zimmer, dessen Thür der Kellner weit aufgerissen hatte.

»Kaffee!« befahl er. Er hatte sich schnell in seine Rolle gefunden; sie sollte sich nicht über ihn zu beklagen haben.

»So,« meinte sie, als sie mit seiner Hülfe abgelegt hatte und auf dem Sopha saß, »jetzt kommst' herbei und thust Bescheid! Oder trinkst lieber ein Bier?«

Er verneinte mit einer Handbewegung und nahm ihr gegenüber Platz. Sie schenkte ein, gab ihm Milch und Zucker und hielt ihm dann das Bisquit vor.

»Willst'?«

»Bitte, erst nach Ihnen, Komtesse?«

Sie lachte glockenhell auf.

»Laß die Komtess', Heiner, und bleib wie zuvor. Hast erst net gewußt, was ich bin und sollst es jetzt auch net wiss'n. Wir hab'n einige Tag' hier gewohnt, eh' wir auf den Teichhof zog'n, und daher kennt der Wirth den Titel. Und die Sprach', bei der mußt' erst recht fest bleib'n; der Dialekt ist herz'ger als das Hochdeutsch. Also nimm; ich bin die Hausfrau und komm' darum erst nach Dir!«

»Was bin dann ich, Alma?« frug er zulangend.

»Du bist noch nix, und willst' was werd'n, so mußt' schön folg'n.«

»Wem?«

»Mir; wem sonst? Aber sag', was willst' beim Buchhändler?«

»Es ist aan Bescheid, den ich mir hol'n will.«

»Worüber? Darf ich's wiss'n?«

Er wurde sichtlich verlegen.

»Nun? Hast schon Lust, net zu folg'n?«

»Weg'n den Gedicht'n.«

»Ah? Erzähl' mir's doch!«

»Es waaß kaan Mensch davon, net 'mal der Vater, aber Dir will ich's net vorenthalt'n. Ich bin net stolz auf die Gedicht' und bild' mir auch sonst nix ein, doch ist in unsrer Mundart noch nie 'was gedruckt word'n, obgleich sie ihre Berechtigung hat gerade so wie plattdeutsch, bayrisch, schwäbisch oder öst'reichisch Darum hab' ich gedacht, ich wollt 'mal die Auswahl treff'n und in Verlag geb'n. Hätt's geglückt, so wär's mir die größte Freud' und Ehr' gewes'n.«

»Und nun willst' sie hier dem obskur'n Bücherkrämer anbiet'n?«

»Ich hab' sie versandt an große und berühmte Firmen und immer den Bescheid erhalt'n: ›Ihre Gedicht' zeug'n von Talent, aber wir mög'n net!‹ So ist's mehrere Jahr' lang gewes'n, bis ich's endlich müd' geword'n bin. Nun will ich sie in Selbstverlag nehmen und dem Buchhändler hier in Kommission geb'n.«

»Hast' denn Geld dazu?«

»Ich weiß net ob's langt: daher will ich heut frag'n.«

»Wie viel hast?«

Er sah verlegen vor sich nieder.

»Sag's!« bat sie dringlich.

»Von dieser Ausgab' darf der Vater nix wiss'n, obgleich ich meine Kass' für mich hab. Er hat auch sein wenig Geld, aber das darf ich net rechnen. Darum hab ich meine Sparniß getheilt zwisch'n ihm, mir und dem Buch.«

»Und was kommt auf den Theil?«

»Tausend Taler und einig's d'rüber.«

»Was? Ueber dreitausend Thaler hast'? Du bist' viel, viel reicher als ich!« rief sie in aufrichtiger Verwunderung.

»Reicher als Du? Was denkst'! Hast' net den groß'n Teichbauerhof?«

»Der gehört doch net mein, sondern der Mutter; Du aber hast das Geld verdient mit saurer Arbeit, mit dem Hand'l, mit – – –«

»Mit dem Vogelhand'l net; was der bringt, lass' ich dem Vater. Was ich hab', stammt von der Sängerfahrt; die bringt 'was ein, wenn man zu spar'n versteht.«

»Und da willst' so viel riskir'n? das ist nix, Heiner, da kommst' um Dein Geld!«

»Meinst' daß ich falsch spekulir'?«

»Nein; Dein Buch wird gehn und seine Leser find'n, aber es muß in gute Hand gelegt werd'n, und die find'st net hier im Ort.«

»Ich hab' sie anderswo auch net gefund'n.«

»Hast's falsch angefangen, Heiner! Schick' die Gedicht' wohin Du willst, sie werd'n gar net geles'n, denn wer kennt den Heinrich Silbermann von hier? Empfehlung mußt' hab'n, Konnexion, und die Vorred' muß aan berühmter Dichter oder Professor schreib'n. Und wenn nachher aan bekannter Verleger das Buch kauft, so hast Honorar und Ehr' dazu.«

Heiner war ganz erstaunt über ihre Sachkenntniß.

»Das hab' ich schon gewußt; aber woher den Dichter oder Professor nehmen und dann den Verleger? Doch sag', Du sprichst ja so klug wie aan Buch!«

»Das ist net weit her. In Warschau, wo wir war'n, gab's gar viel' Künstler und Dichter, die bei uns verkehrt'n. Da hab' ich viel von solchen Dingen sprechen hör'n. Hast' das Manuskript fertig?«

»Natürlich. Hier in der Tasch' ist's, damit ich's dem Buchhändler zeig'n kann.«

»Darf ich's sehn Heiner?«

»Ja.«

Es war ihm anzusehen, wie schwer ihm diese Antwort wurde. Er brachte es auch nur höchst langsam hervor und schien große Lust zu haben, es wieder einzustecken. Schnell aber hatte sie es gefaßt und es ihm aus der Hand genommen.

»Zeig her!«

Ohne einen Blick hineinzuwerfen, steckte sie es in die Innentasche ihres Pelzes.

»Warum steckst' es ein?«

»Weil Du Dein Geld behalt'n sollst, Heiner. Ich geb's der Mutter, und dann wird's gedruckt, darauf kannst' Dich verlass'n.«

»Nein, Alma, das darf ich net zugeb'n; ich muß die Gedicht' wieder hab'n. Bitt', gieb sie mir zurück!«

»Willst' schon wieder unfolgsam sein! Hier in der Tasch' sind sie, und da bekommst sie net wieder heraus! Oder willst' vielleicht mit mir ringen?«

»Das kann mir net einfall'n; wenn ich Dich gar schön bitt', so giebst' sie mir gutwillig wieder.«

»Nein, das ist nun abgemacht. Statt zum Buchhändler, gehst' nun mit mir. Ich hab' viel' Einkäuf' zu besorg'n, und da wirst' mich führ'n!«

Seine fortgesetzten Bitten blieben erfolglos; er mußte sich in den Willen des schönen Mädchens ergeben. Der Lohn blieb auch nicht aus: er durfte fast den ganzen Tag an ihrer Seite bleiben, und es war ihm, als sei Alles hinter ihm versunken und eine neue Welt vor ihm aufgegangen, die sein zaudernder Fuß kaum zu betreten wagte.

Als sie den Schlitten wieder bestiegen, brach die Dämmerung bereits herein; aber der Schnee leuchtete und ließ die Straße gut erkennen. Die Pferde merkten, daß es heimwärts gehe, und es bedurfte weder der Zügel noch der Peitsche, um sie in schnellem Gang zu erhalten.

»Die Luft geht scharf, Alma; frierst net vielleicht?«

»Ein wenig ans Gesicht, sonst net.«

»So komm!«

Er schlang das Zügelende um den Arm, umfaßte sie und legte ihren Kopf an seine Schulter, wo sie der Zug nicht treffen konnte. Sie ließ es still geschehen und blieb regungslos in der Stellung, welche er ihr gegeben hatte. Die Straße ging heimwärts viel bergab, und da viel Schnittgerinne sie durchschnitten, so schlingerte der Schlitten oft in höchst bedrohlicher Weise.

»Hast' net Angst daß wir umschütt'n?« frug er sie.

»Bei Dir bin ich sicher!« klang es leise, aber in einem Tone, der ihm bis ins tiefste Herz erklang.

Das Händchen war ihr aus dem Muff entglitten; er ergriff sie und hielt sie fest.

»Glaubst' das wirklich?«

»Ja.«

Sie hob bei diesem Worte das Köpfchen zu ihm empor; er schob den Schleier ein wenig auf die Seite und neigte sich zu ihr nieder. Die Schnee- und Sternenhelle ließ ihr Gesicht in einem traumhaften Glanze erscheinen, zwischen welchem die großen, dunklen Augen wie aus unergründlichen Seelentiefen emporschauten. Dann ließ er den seidenen Flor wieder fallen und sprach kein Wort, bis der Schlitten vor dem Eingange des Teichhofes hielt. Der nach Hause geschickte Knecht ergriff die Pferde; die beiden Insassen stiegen aus.

»Hab Dank, Heiner, für den Schutz. Ich werd's der Mutter erzähl'n!« sprach Alma, ihm die Hand reichend.[763]

»Ich hab' zu dank'n, net Du. Sag der Mutter den schönst'n Empfehl', da ich net selber zu ihr darf!«

»Wirst schon auch noch dürf'n, wenn sie wieder wohler ist!«

Das schwere Kleid, in welchem sie heut ging, rauschte durch den helle erleuchteten Flur. Heiner trat in die dämmerige Nacht zurück und ging nach Hause. Wortkarg aß er sein Abendbrod, und ebenso wortkarg war er auch im Gesangverein, der heut seinen Versammlungsabend hatte. Die Erlebnisse des Tages beschäftigten ihn so, daß die Erinnerung daran ihn vollständig in Anspruch nahm, und als die Sänger sich zerstreuten, spürte er noch nicht das geringste Bedürfniß nach Schlaf und Ruhe, und unwillkürlich wandten sich seine Schritte dem Teichhofe zu.

Noch immer beschäftigte ihn die Frage, woher Alma Daten aus seiner Vergangenheit kannte, von denen nur er und Alwine wissen konnte; er fand jedoch keinerlei zureichende Antwort darauf. Eine Komtesse war sie, eine Gräfin; welch ein Unterschied zwischen ihr und ihm! Er mochte gar nicht daran den ken, denn dieser Gedanke wirkte erkältend auf die wunderbar selige Stimmung, in welcher er sich befand. Er gab sich derselben vollständig hin und fühlte nicht das mindeste von der Kälte, welche hier außen im Freien herrschte.

So war er an den mit dichtem Gebüsch bestandenen Rand des Teiches gekommen, der an der hinteren Seite des Hofes lag und ihm den Namen gegeben hatte. Er beschloß, die Gebäude zu umschreiten, war aber noch gar nicht weit am Wasser hingekommen, als es ihm war, als knirsche jenseits der vor ihm liegenden Ecke der Schnee unter vorsichtigen, mit Fleiß gedämpften Schritten. Er fühlte keine Lust, sich hier bemerken zu lassen und trat daher so tief wie möglich zwischen die Sträucher hinein.

Ein Mann kam um die erwähnte Ecke und blieb unweit seines Versteckes stehen. Er hatte sich das Gesicht geschwärzt, dennoch aber und trotz der ihn jedenfalls unkenntlich machenden sonderbaren Kleidung erkannte Heiner, daß es Balzer sei. Dieser warf einen beobachtenden Blick um sich, stieg dann über den Gartenzaun und glitt über den freien Raum des Gartens nach der Scheune hin, welche einen der Hintertheile des Hofes bildete. Was hatte der Mensch vor? Etwas Gutes sicherlich nicht, das zeigte die Schwärzung des Gesichtes. Aber ihm sofort zu folgen war nicht räthlich, weil dies wegen der Lichte des Gartens von ihm bemerkt worden wäre.

Heiner wartete daher einige Minuten, ehe er den Zaun übersprang und den im Schnee eingedrückten Fußspuren nachging. Sie führten auf eine Spalte, welche sich mit der Zeit zwischen der ausgefaulten Diele und dem abgeschliffenen Thore gebildet hatte und hinlänglich war, einen nicht zu starken Mann durchkriechen zu lassen. Nachdem er sich durch angestrengtes Horchen überzeugt hatte, daß der Verfolgte die Scheune bereits verlassen haben müsse, drängte er sich hindurch und gelangte so auf die Tenne. Eine Untersuchung derselben zeigte, daß eine vordere Pforte derselben geöffnet und unverschlossen sei. Er trat von hier auf den inneren Hof. Wohin hatte Balzer hier seinen Weg genommen?

Nach langem Suchen gewahrte Heiner ein geöffnetes Fenster, welches zur Erleuchtung des Treppenaufganges bestimmt war. Es hatte eine zerbrochene Scheibe gehabt und war also leicht aufzustoßen gewesen. Er stieg hinein. Lärm zu machen hielt er nicht für gut, da Balzer dadurch zur vorzeitigen Flucht veranlaßt werden konnte; er beschloß vielmehr, sich so leise wie möglich zwei Treppen hoch zu begeben, wo, wie er wußte, die Knechte schliefen. Diese vorsichtig zu wecken, war jedenfalls das Beste; dann konnte der Eindringling auf frischer That ertappt und festgenommen werden.

Mit der Oertlichkeit nicht bekannt, nahm er, auf dem Korridor angekommen, zu einem Zündhölzchen seine Zuflucht, dessen Aufleuchten ihm zwei Reihen Thüren und die obere Treppe zeigte. Schon hatte er den Fuß auf die untere Stufe gesetzt, als es ihm war, als seien in dem hinteren Zimmer Stimmen erklungen. Er glitt bis an die Thür; er hatte sich nicht getäuscht, aber sie war verschlossen.

»Heraus mit dem Schlüssel!« hörte er jetzt vernehmlich die verstellte Stimme Balzers.

Hier war Gefahr im Verzuge. Rasch glitt er noch zur Nebenthür, um diese zu untersuchen. Sie ließ sich öffnen. Heiner trat ein und übersah nach drei Schritten die ganze Scene.

Das Zimmer, in welchem er sich befand, war dasjenige, wo Balzer heut mit der Besitzerin gesprochen hatte. Daneben lag der Schlafraum, zu welchem eine jetzt weit aufgerissene Verbindungsthür führte. Eine Nachtlampe, von einem chinesischen Schirme bedeckt, erhellte ihn nur spärlich. Die Damen waren wohl im Begriffe gewesen, zur Ruhe zu gehen, als Balzer bei ihnen eintrat. Er hatte den Schrank verschlossen gefunden, und da er sich in Folge der Schwärze für sicher hielt und von den wehrlosen Frauen keinerlei Widerstand erwartete, so hatte er sich ganz einfach zu ihnen begeben und den Schrankschlüssel verlangt. In der Rechten ein scharfgeschliffenes Waidmesser, hielt er mit der Linken die Hofherrin gefaßt, deren Züge nicht zu erkennen waren. Alma hatte sich entsetzt an die Mutter geklammert; ihre aufgelösten Haare hingen wie ein reicher, kostbarer Schleier um die Gestalt, deren wundervolle Formen in dem leichten Negligée eine verrätherische Hülle fanden; sie bebte am ganzen Körper und ihre erschrockenen Augen hingen an dem verbrecherischen Eindringling, wie an einer gespenstigen Erscheinung.

»Still sollt Ihr sein, net den Mux dürft Ihr thun, sonst ist's um Euch geschehn! Gebt den Schlüssel heraus zum Schrank, denn die Kassett' muß ich hab'n!«

»Der Schlüssel bleibt mein,« erwiderte die muthige Frau, »und wenn Ihr nicht sofort geht, so rufe ich meine Leute herbei!«

»Versucht's nur, wenn Ihr könnt! Das Messer wird net spaß'n!«

Sie versuchte, sich von ihm loszureißen.

»Hül – – –«

Sie konnte den Hülferuf nicht vollenden; ein rascher Griff um ihren Hals benahm ihr die Möglichkeit dazu. Er holte mit dem Messer aus, da aber schmetterte ein fürchterlicher Faustschlag auf seinen Schädel nieder, so daß er im Augenblicke lautlos zusammenbrach.

»Da hast' genug, Spitzbub'! Grüß Gott, Alma! War's so zur recht'n Zeit?«

»Heiner!«

»Nur das eine Wort rief sie; aber es lag in demselben eine ganze Welt voll Entzücken, und dann sank sie mit einem herzerschütternden Schluchzen zu Boden.«

»Alma!« rief er und »Mein Kind!« ihre Mutter.

Sie knieten vor dem Mädchen, welches die Augen geschlossen hatte und unter konvulsivischen Bewegungen erzitterte.

»Die Essenz, Heiner, schnell, schnell!«

»Wo ist sie?«

»Dort auf der Toilett' das Flaçon!«

Er brachte es herbei, und während er den Kopf des Mädchens in seinen Arm nahm, besprengte die Mutter das blutleere Gesichtchen mit den belebenden Tropfen.

Hinter ihnen regte es sich leise. Balzer erwachte aus seiner Betäubung und öffnete die Augen; die wiederkehrende Besinnung zeigte ihm, daß er unbeachtet sei; er erhob sich und verschwand geräuschlos im Dunkel des Nebenzimmers.

»Es hilft! Nun noch aan wenig Wasser, Heiner!«

Alma öffnete die müden Lider und sah die Beiden mit sich beschäftigt.

»Was ist's – wo bin – – wo ist der fürchterliche Mann?«

Erst jetzt dachten sie an den Verbrecher. Heiner schnellte empor und stieß einen Ruf der Ueberraschung aus.

»Er ist fort!«

»Fort?« frug die Mutter. »Das ist das Best', was er thun konnt'. Immer laß ihn, Heiner! Er wird den Weg schon find'n.«

»Aber ich muß ihn doch festhalt'n; es ist der Balzer!«

»Das hab' ich schon gewußt; aber es hat ihm nix genutzt, und da woll'n wir ihn ruhig laufen lass'n.«

»Laufen lass'n – den Räuber, den Mörder?«

»Ja, Heiner. Ich mag weg'n ihm net auf's Gericht, und er wird auch ohne uns noch seine Straf' bekommen.«

»Wie Ihr wollt, so ist mir's recht; aber es ist net gut, wenn so aan Mensch frei davongehn darf!«

Sie hatte eine Hülle um den Kopf gelegt und so weit vorgezogen, daß sie das Gesicht überragte. Dann trat sie zu ihm und ergriff seine Hand.

»Heiner, die Rettung jetzt, die werd' ich nie vergess'n. Ich sag' ganz groß'n Dank! Aber wie ist's denn so gut und glücklich gekommen?«

Er fand nur schwer die Worte, seine Anwesenheit beim Hofe zu erklären, und berichtete dann das Weitere.

Alma sprach kein Wort der Anerkennung, aber das glückliche Lächeln in ihrem jetzt wieder gerötheten Angesicht sprach deutlicher als Worte.

Jetzt endlich kam auch das Gesinde herbei, welches durch die Unruhe in den Räumen der Herrschaft aufmerksam geworden war.

»Es ist nix von Bedeutung, Ihr Leut'!« meinte die Herrin. »Der Heiner hat Jemand durch die Scheun' kriech'n sehn und es mir gemeldet. Schaut nach, ob Ihr Wen findet, und geht dann ruhig schlaf'n!«

Auch Heiner ging, nachdem er den freundlichsten Abschied erhalten hatte; aber er verließ die Umgebung des Hofes nicht eher, als bis die bald entdeckten Fußspuren ihm die Ueberzeugung gaben, daß auch Balzer heimgekehrt sei.[764]

Die Frauen blieben in einer leicht erklärlichen Aufregung zurück. Das Bedürfniß des Schlafes war ihnen vollständig vergangen, und so saßen sie bei einander und besprachen das Ereigniß in allen seinen erschütternden Einzelheiten.

»Du hast Dich bisher so von allem Verkehr zurückgezogen, Mama, damit man Dich nicht erkennen solle, und nun ist er doch bei Dir gewesen,« meinte Alma schließlich.

»Aber er hat mich nicht erkannt.«

»Nein, sonst hätten wir es sicher merken müssen. Nicht wahr, nun erfüllst Du schon aus Dankbarkeit für seine heutige Hülfe meine Bitte?«

»In Beziehung seiner Gedichte? Ja. Ich habe das Manuskript noch gar nicht aufgeschlagen; ich wollte mir die Lektüre bis zu einer Stunde völliger Muse aufheben; da wir aber nun doch noch nicht zur Ruhe gehen, so laß uns einmal hineinsehen!«

Sie nahm die Schrift aus ihrem Verwahrsam und schlug die Blätter auseinander. Ihre feinen, leidenden Züge bekamen Leben, ihre Augen, erst so matt, begannen zu glänzen, und von Blatt zu Blatt rötheten sich ihre Wangen mehr und mehr. Sie traf auf viel, auf sehr viel Bekanntes, und allemal war es ein inniges, glückliches Lächeln, mit welchem sie es begrüßte. Sie las selbst und laut; Alma hörte mit nicht geringerer Theilnahme zu; sie fühlte nicht, daß jedes auf die unglückliche Liebe des Dichters bezügliche Wort ihr Herz mit leisem Stachel traf, und als die letzte Zeile verklungen war, umarmte sie die Mutter innig und flüsterte tiefathmend:

»Er muß Dich sehr, sehr lieb gehabt haben!«

»Ja!« entfuhr es langsam ihren Lippen. »Und diese Liebe habe ich mit schwarzem Undank belohnt!«

»Aber auch dafür gelitten, Mama! Der elende Glanz des Bühnenlebens, der böse Papa mit – – –«

»Er ist todt, Alma, und Du hast ihn nie gekannt; er war Aristokrat und Millionär und konnte es mir später nie verzeihen, daß er mir im Rausche der Jugend die Rechte der Frau eingeräumt hätte. Laß ihn ruhen. Es ist kein Wunder, daß das Andenken an Heiner nie verlöschen konnte, sondern vielmehr diesen mir in immer hellerem, edlerem Glanze zeigte.«

»Er wird Dir vergeben und Dich wieder lieben, Mama!«

Es war ein stilles, ergebungsvolles, beinahe trauriges Lächeln, mit dem die Mutter antwortete.

»Ich denke an kein Opfer, das er mir bringen müßte!«

Sie spielte mit einem Blatte, welches zwischen der letzten Seite und dem Einbande des Manuskriptes gelegen hatte. Es umwendend, bemerkte sie, daß es beschrieben sei. Sie las und gab es dann mit einem unbeschreiblichen Blicke der Tochter hin.

»Ein Opfer?« hatte diese gefragt.

»Ja, ein Opfer. Lies selbst!«

Das Mädchen sah die wenigen Zeilen, und tiefe Gluth bedeckte ihr Gesicht bis zum Nacken herab. Sie las:


»Ich sah der Sonne letzten Strahl

Um dunkle Wolken sprüh'n

Und unter Küssen ohne Zahl

Die Tanne hell erglüh'n.


Ich sah den lieben Tannenbaum

Im gold'nen Morgenlicht,

Sie kam zurück; es war kein Traum,

Und dennoch war sie's nicht.


Es war ihr Bild, nein, nicht ihr Bild,

Sie selbst war's, doch verklärt

Und nun ist aller Schmerz gestillt,

Der, ach, so lang gewährt.«


Sie sagte nichts; aber als die Mutter ihre Arme um sie legte, da drückte sie das Köpfchen fest an den treuen, entsagungsfreudigen Busen und in ihren Wimpern glänzte ein großer, heller Thränentropfen.

»Alma, er wird mir verzeihen und glücklich sein!«

»Und der Großvater?«

»Er ist starr und unversöhnlich, doch wollen wir zu Gott bitten, daß er ihm das Herz lenkt und verzeihlich stimmt. Die Vorsehung ist eine liebevolle Mutter ihrer Menschenkinder; sie zählt die Thränen und läßt nicht eine davon verloren gehen. Auch die meinen werden getrocknet werden; diese Überzeugung und die Liebe zu meinem guten Kinde, sie allein haben mir die Kraft gegeben, die mich in allem Leide aufrecht erhält. Komm', laß uns nun zur Ruhe gehen!«[765]

Quelle:
Der Giftheiner. Eine Erzählung aus dem Erzgebirge von Karl Hohenthal. In: All-Deutschland! 3. Jg. 1879. Heft 20–25. Stuttgart (1879). Nr. 48, S. 762-766.
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