2. Das Vöglein auf der Eiche.

[9] Ein Holzhauer arbeitete oftmals im Walde, und um keine Zeit zu verlieren, ließ er sich von seiner Frau das Eßen in den Wald bringen. Da schlachtete die Frau eines Tags ihr eigen Kind und kochte es und brachte es dem Manne hinaus; der aß nun das Fleisch ohne Arg. Als er aber heimgieng, hörte er im Walde auf einer Eiche ein Vöglein singen und verstand ganz deutlich die Worte:


Zwick, zwick,

Ein schönes Vöglein bin ich!

Meine Mutter hat mich kocht,

Mein Vater hat mich geßt.


Als der Mann nach Hause kam, erzählte er seiner Frau, was er von dem Vöglein gehört hatte und fragte nach seinem Kinde. Die Frau sagte: »Das Kind liegt schon im Bett und schläft; was Du mir aber da von dem Vöglein erzählst, das kann ich nimmermehr glauben.« Und obgleich der Mann es ihr ganz fest versicherte, daß er die Worte genau so gehört habe, so wollte sie es doch nicht zugeben und sagte, daß er sich getäuscht haben müße.

Am andern Morgen früh gieng der Mann wieder in den Wald, und wie er an die Eiche kam, sang dort das Vöglein dasselbe Lied, welches es gestern gesungen hatte. Da verwunderte er sich noch mehr und gieng auf der Stelle wieder heim, um seine Frau zu holen, damit sie selbst es hören möchte. Und so wie sie nun mit einander an den Eichbaum kamen, da sang das Vöglein:
[10]

Zwick, zwick,

Ein schönes Vöglein bin ich!

Meine Mutter hat mich kocht,

Mein Vater hat mich geßt.


Kaum aber war das Lied aus, so fiel der Eichbaum krachend um und schlug die böse Frau todt. Dem Holzhauer aber geschah kein Leid.

Quelle:
Ernst Meier: Deutsche Volksmärchen aus Schwaben. Stuttgart 1852, S. 9-11.
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