90. Die schmale Brücke.

[297] Es war einmal ein Schäfer, der hatte eine große große Schaafheerde, mit der zog er fort über Berg und Thal, weit in die Welt hinaus. Da kam er an ein tiefes Waßer, über das führte zum Glück eine Brücke; die Brücke aber war so winzig klein und schmal, daß immer nur ein einzig Schaaf hinübergehen konnte; und eher durfte nie eins von den übrigen Schaafen das schmale Brücklein auch nur betreten, als bis das andre Schaaf drüben war; denn sonst hätte das Brücklein leicht brechen können. Da kannst Du wohl denken, wie lange das dauert, ehe die vielen vielen Schaafe alle hinüber kommen. – Ja, siehst Du, und jetzt müßen wir ganz ruhig so lange warten, bis sie alle mit dem Schäfer drüben sind; das wird wohl noch eine Weile dauern, und dann will ich die Geschichte von dem Schäfer und seiner großen großen Schaafheerde Dir weiter erzählen.[297]


»Ich möcht' mich der wundersamen Historien, so ich aus zarter Kindheit herübergenommen, oder auch, wie sie mir vorkommen sind in meinem Leben, nicht entschlagen, um kein Gold.«

Luther.[298]

Quelle:
Ernst Meier: Deutsche Volksmärchen aus Schwaben. Stuttgart 1852, S. 297-299.
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