Der verwundete Baum

[34] Sie haben mit dem Beile dich zerschnitten,

Die Frevler – hast du viel dabei gelitten?

Ich selber habe sorglich dich verbunden

Und traue: Junger Baum, du wirst gesunden!

Auch ich erlitt zu schier derselben Stunde

Von schärferm Messer eine tiefre Wunde.

Zu untersuchen komm ich deine täglich

Und meine fühl ich brennen unerträglich.

Du saugest gierig ein die Kraft der Erde,

Mir ist, als ob auch ich durchrieselt werde!

Der frische Saft quillt aus zerschnittner Rinde

Heilsam. Mir ist, als ob auch ich's empfinde!

Indem ich deine sich erfrischen fühle,

Ist mir, als ob sich meine Wunde kühle!

Natur beginnt zu wirken und zu weben,

Ich traue: Beiden geht es nicht ans Leben!

Wie viele, so verwundet, welkten, starben!

Wir beide prahlen noch mit unsern Narben!


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 34.
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