Der Lieblingsbaum

[33] Den ich pflanzte, junger Baum,

Dessen Wuchs mich freute,

Zähl ich deine Lenze, kaum

Sind es zwanzig heute.


Oft im Geist ergötzt es mich,

Über mir im Blauen,

Schlankes Astgebilde, dich

Mächtig auszubauen.


Lichtdurchwirkten Schatten nur

Legst du auf die Matten,

Eh du dunkel deckst die Flur,

Bin ich selbst ein Schatten.


Aber haschen soll mich nicht

Stygisches Gesinde,

Weichen werd ich aus dem Licht

Unter deine Rinde.
[33]

Frische Säfte rieseln laut,

Rieseln durch die Stille.

Um mich, in mir webt und baut

Ew'ger Lebenswille.


Halb bewußt und halb im Traum

Über mir im Lichten

Werd ich, mein geliebter Baum,

Dich zu Ende dichten.


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 33-34.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe 1892)
Gedichte.
Die schönsten Liebesgedichte (insel taschenbuch)
Ausgewählte Novellen / Gedichte (Fischer Klassik)
Gedichte: Apparat zu den Abteilungen III und IV
Gedichte: Apparat zu den Abteilungen VIII und IX. Nachträge, Verzeichnisse, Register zu den Bänden 1 bis 7