Vision

[64] Als ich jüngst vom Pfad verirrt war,

Wo kein Jäger und kein Hirt war,

Führt' ein Licht aus dunkelm Tann

Mich an eines Hüttleins Schwelle,

Drin bei matter Ampelhelle

Eine greise Parze spann.


Draußen schlug der Wind die Schwingen,

Und die Bergesströme singen

Hört ich ihren dunkeln Sang...[64]

Und ich sah den Faden schweben,

Und der Faden schien ein Leben –

Meines? dacht ich zauberbang.


Wage, Mensch, die höchsten Flüge,

Deiner Parze starre Züge

Sehen längst das nahe Ziel!

Tummle dich, ein kühner Ringer:

Ihre hagern, harten Finger

Enden bald das edle Spiel..


Eine Träne seh ich zittern,

Einen Kranz mit Silberflittern

Seh ich hangen an der Wand:

In der Alpenhütte Kammer

Spinnt an einem alten Jammer

Einer Greisin welke Hand.


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 64-65.
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