Die Ampel

[105] An des Jahres Wende sprach ich: Muse,

Keiner Mutter Hand beschert mich! Gib mir

Du mein Angebinde, Muse! fleht ich.

In die Kammer, lauschend von dem Lager,

Sah ich bald der Schwestern eine schreiten.

Auf mein Tischchen setzt sie einer Ampel

Zarte Form mit schlankgeschweiften Henkeln,

Aber die mir keineswegs antik schien.

Ich erschrak. Was meinst du, Muse? Rätst du

Nächtlich auszufeilen meine Verse?

Schon entschwebend, wandte sie das Antlitz

Halb. Ich sah des Musenhauptes edeln

Umriß mit den spottend feinen Lippen...

Als ich dann in neuem Jahr erwachte,

Keine Ampel! Doch ich fand sie wieder –

Und erkannte gleich sie an der zarten

Form und an den schlankgeschweiften – Henkeln

In des Liebchens Hand, das mir die Treppe

Nächtlich hellt' mit stillen Ampelstrahlen.

Scheidend auf die letzte Stufe setzt' sie

Das Geschenk der Muse sacht und küßt' mich.


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 105.
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