Ohne Datum

[104] (An meine Schwester)


Du scherzest, daß ein Datum ich vergaß,

Und meinst, ich dürfte bei dem Stundenmaß

Mit einem Federstriche mich verweilen.

Du schreibst: »Datiere künftig deine Zeilen!«

Doch war das Zählen meine Sache nie,

Nach dem Wievielten such ich stets vergebens,

Auch diese Zeilen, wie datier ich sie?

»Aus allen Augenblicken meines Lebens!«


Kurz ist und eilig eines Menschen Tag,

Er drängt, er pulst, er flutet, Schlag um Schlag,

Wie eines Herzens ungestümes Klopfen...

Wer teilt die Jagd des Bluts und seiner Tropfen?

Es ist der Sturm, der nie zur Rüste geht,

Die Wechselglut des Nehmens und des Gebens,

Und meine Haare flattern windverweht

In allen Augenblicken meines Lebens.
[104]

Zu ruhn ist mir versagt, es treibt mich fort,

Die Stunde rennt – doch hab ich einen Hort,

Den keine mir entführt, in deiner Treue!

Sie ist die alte wie die ewig neue,

Sie ist die Rast in dieser Flucht und Flut,

Ein fromm Geleite leisen Flügelschwebens,

Sie ist der Segen, der beständig ruht

Auf allen Augenblicken meines Lebens.


Ich hemme die beschwingten Rosse nicht,

Ich freue mich, mit jedem neuen Licht,

Das Feld gestreckten Laufes zu durchmessen,

Ein fernes, dunkles Gestern zu vergessen,

Ich fliege – hinter mir versinkt die Zeit –

Im Morgensonnenstrahl verjüngten Strebens!...

Vorbei!... Nur du allein weißt noch Bescheid

Von allen Augenblicken meines Lebens.


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 104-105.
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