Ihr Heim

[113] Lang vorüber ging ich den Gehegen,

Drin der Giebel deines Heimes ragt,

Dieser Pforte, diesen Schattenwegen!

Wer da wohne, hab ich nicht gefragt.

Wer da wohne

Hinter einer dunkeln Lindenkrone,

Hat das Herz mir nicht vorausgesagt.


Pfade liefen durch die feuchte Wiese,

Kleine Sohlen sah ich hier und dort

Eingezeichnet auf dem weichen Kiese,

Aber meines Weges zog ich fort.

Ich begehrte

Zu verfolgen nicht die flücht'ge Fährte,

Zu betreten nicht den stummen Ort.


Auch ein Rauschen hört ich aus der Linde,

Die der Hauch der Abendlüfte bog;

»Komme, Wandrer«, rief es, »komm und finde!«

Während rascher ich des Weges zog.

Ich vertraute

Dem Versprechen nicht der Geisterlaute,

Deren Wehn mir oft das Herz betrog.


Und den Stern der Liebe sah ich eilen

Dort zum dunkelscharfen Bergesrand,

Auf dem schlanken Giebel blitzend weilen

Wie ein zitternd Feuer, eh er schwand.

Im Entweichen

Gab der Freund am Himmel mir ein Zeichen,

Wann er über meinem Glücke stand.
[113]

Längst versunken glaubt ich's in die Ferne,

Das so nahe mir verborgen lag!

Wer versteht den stillen Wink der Sterne

Vor dem rechten, dem bestimmten Tag?

Vor der Stunde,

Die ihn zieht zu dem ersehnten Bunde,

Den nicht Tod noch Leben trennen mag?


Lang vorüber ging ich deiner Liebe

Durch den Staub des Lebens unbewußt,

Daß zur Wonne mir die Klage bliebe,

Und ein leiser Schmerz in sel'ger Brust –

Schmerz und Klage

Über ohne dich verdarbte Tage,

Die mit deinem Kuß du stillen mußt.


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 113-114.
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