Einer Toten

[112] Wie fühl ich heute deine Macht!

Als ob sich deine Wimper schatte

Vor mir auf diesem ampelhellen Blatte

Um Mitternacht!

Dein Auge sieht

Begierig mein entstehend Lied.


Dein Wesen neigt sich meinem zu,

Du bist's! Doch deine Lippen schweigen –

Und liesest du ein Wort, das zart und eigen,

Bist's wieder du,

Dein Herzensblut,

Indes dein Staub im Grabe ruht.


Mir ist, wann mich dein Atem streift,

Der ich erstarkt an Kampf und Wunden,

Als seist in deinen stillen Grabesstunden

Auch du gereift

An Liebeskraft,

An Willen und an Leidenschaft.
[112]

Die Marmorurne setzten dir

Die Deinen – um dich zu vergessen,

Sie erbten, bauten, freiten unterdessen,

Du lebst in mir!

Wozu beweint?

Du lebst und fühlst mit mir vereint!


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 112-113.
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