Lethe

[111] Jüngst im Traume sah ich auf den Fluten

Einen Nachen ohne Ruder ziehn,

Strom und Himmel stand in matten Gluten

Wie bei Tages Nahen oder Fliehn.


Saßen Knaben drin mit Lotoskränzen,

Mädchen beugten über Bord sich schlank,

Kreisend durch die Reihe sah ich glänzen

Eine Schale, draus ein jedes trank.


Jetzt erscholl ein Lied voll süßer Wehmut,

Das die Schar der Kranzgenossen sang –

Ich erkannte deines Nackens Demut,

Deine Stimme, die den Chor durchdrang.


In die Welle taucht ich. Bis zum Marke

Schaudert ich, wie seltsam kühl sie war.

Ich erreicht die leise ziehnde Barke,

Drängte mich in die geweihte Schar.
[111]

Und die Reihe war an dir zu trinken,

Und die volle Schale hobest du,

Sprachst zu mir mit trautem Augenwinken:

»Herz, ich trinke dir Vergessen zu!«


Dir entriß in trotz'gem Liebesdrange

Ich die Schale, warf sie in die Flut,

Sie versank und, siehe, deine Wange

Färbte sich mit einem Schein von Blut.


Flehend küßt ich dich in wildem Harme,

Die den bleichen Mund mir willig bot,

Da zerrannst du lächelnd mir im Arme

Und ich wußt es wieder – du bist tot.


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 111-112.
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