Pergoleses Ständchen

[197] Nina, laß den Schlummer fahren!

Bist du denn gestorben? ach!

Bist du tot in jungen Jahren?

Horch, die Liebe ruft! Erwach!


Aus dem Schlummer sie zu wecken,

Der vor Tod und Sterben graut,

Mischt der Meister einen Schrecken

In den süßen Liebeslaut.


Willst du schweigen! Haucht's im Düster,

Ich bin blühend, bin gesund!

Küsse mich, sagt das Geflüster,

Fühle meinen frischen Mund!


Und der Wohllaut des Gesanges

Ward von Stadt und Land belobt,

Und die Macht des Liebeszwanges

Ward vom jungen Volk erprobt:


Nina, laß den Schlummer fahren!

Bist du denn gestorben? ach!

Bist du tot in jungen Jahren?

Horch, die Liebe ruft! Erwach!


Da geschah's, daß eine schwarze

Wolke über Napel glitt

Und der Tod sich eine volle

Garbe blühnder Jugend schnitt.
[197]

Sant Agnese flammt von Kerzen

Nina schlummert am Altar,

Pergolese spielt das Requiem

Auf der Orgel wunderbar.


In das Hallen der Posaunen,

In das Rufen, in das Drohn,

In das Zürnen mischt der Meister

Einen süßen Liebeston:


Nina, laß den Schlummer fahren!

Bist du denn gestorben? ach!

Bist du tot in jungen Jahren?

Horch, die Liebe ruft! Erwach!


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 197-198.
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