Mourir ou parvenir!

[211] Herr Heinrich Guise schrieb. Da rauscht Gewand – Es war sein Lieb, das aus der Kirche kam,

Sein zärtlich Lieb, dem schäkernd aus der Hand

Er das mit Gold beschlagne Meßbuch nahm.

Er blättert' drin. Hell war's von Farbenglut

Und keck verschlungner Arabeskenzier –

»Geliebter, dich verdirbt dein Übermut!

Hinweg! Entflieh von hier![211]

Du bist zu hoch! Der König, feig und schlau,

Bebt wie ein Kind vor deinen mächt'gen Braun!

Dich haßt er tödlich – glaub es einer Frau!

Ihn sah ich lächeln jüngst – mich schüttelt Graun!«

Zur Feder griff er. »Flora, schlanke Fei!

Wie könnt ich leben«, seufzt er, »fern von dir?«

Und schrieb ins Meßbuch, wo die Zeile frei:

Mourir –


»Versuche Gott nicht! Das Verderben reift!

Hinweg aus Blois! Mein Alles, Schmerz und Lust!

Ich weiß: in diesem Augenblicke schleift

Der Meuchelmord ein Schwert für deine Brust!«

In ihrem Büchlein schrieb er ruhig fort,

Soviel ihm Raum gewährte das Papier,

Als wär's ein auferbaulich Bibelwort:

Ou parvenir!


»Mich so zu quälen! Schlimm hat mir geträumt!

Mein Gott! Du wandest dich in Todesschmerz!

Hinweg! Jetzt! Heute! Hörst du? Nicht gesäumt!«

Die Bange zog er kosend an das Herz,

Sie senkte des betränten Auges Glanz –

In kühnen Zügen stand der Spruch vor ihr,

Umrankt von einem üpp'gen Blumenkranz:

Mourir ou parvenir!


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 211-212.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe 1892)
Gedichte.
Die schönsten Liebesgedichte (insel taschenbuch)
Ausgewählte Novellen / Gedichte (Fischer Klassik)
Gedichte: Apparat zu den Abteilungen III und IV
Gedichte: Apparat zu den Abteilungen VIII und IX. Nachträge, Verzeichnisse, Register zu den Bänden 1 bis 7