Der Morgen

[177] 1772.


Wieder bist du dahin, traurige Mitternacht,

Und der Morgen ergraut! Aber noch senkte sich

Auf mein schmachtendes Auge

Der erquickende Schlummer nicht.


Freier atmet die Brust, nenn' ich der Dämmerung,

Was dem horchenden Tag nie noch mein Mund entdeckt,

Deinen Namen, o Daphne,

Der wie Silber der Saite tönt.


Ruhig schlummerst du jetzt; Engel umschweben dich,

Lispeln leise sich zu, daß du ein Engel bist,

Und vor allen einst glänzest,

Wenn dein Geist sich dem Staub entschwingt.


Ruhig ist er; denn noch kennst du die Qualen nicht,

Die die Lieb' in das Herz ihrer Vertrauten geußt,

Nicht den Kummer, o Daphne,

Den dein lächelndes Auge schuf.


Wiß, o Mädchen, ihn nie! Trauren will ich allein;

Denn ein grausamer Wahn trennt' uns auf Erden doch,

Schlüg' auch lauter dein Busen

Meiner schmachtenden Seele zu. –[177]


Horch! der Lerche Gesang wecket die Dämmerung,

Und ich schweige, bis mich wieder von Westen her

Meiner Qualen Vertraute,

Die verschwiegene Nacht, umfängt.


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50, Stuttgart [o.J.], S. 177-178.
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