Einladung zur Freude

[220] An die Stadtmädchen.


1773.


Noch blühen uns zu Kränzen

Die Blumen auf der Flur;

Noch locken uns zu Tänzen

Die Sänger der Natur.

Noch rieselt uns gelinde

Der kleine Schmerlenbach,

Und die belaubte Linde

Wölbt uns ein Schattendach.


Da stellen sich am Feste

Die jungen Bauren ein

Und schmücken sich aufs beste,

Dem Liebchen wert zu sein.[220]

Sie tanzen, bis ins Trübe

Die Abendröte sinkt,

Und blaß, wie bange Liebe,

Der Mond am Himmel blinkt.


Wohlauf, ihr Städterinnen!

Laßt einen Reihentanz

Mit ihnen uns beginnen,

Pflückt euren Blumenkranz!

Und ziert mit roten Bändern

Das weiße Schäferkleid!

Denn bald wird sich verändern

Die wonnigliche Zeit.


Bald locket uns zur Linde

Kein kühler Schatten mehr;

Bald streifen rauhe Winde

Die Zweige blätterleer;

Die jungen Blumen sinken

Bald unter Reif und Schnee,

Und Perlentropfen blinken

Nicht mehr am weißen Klee.


Bald rauschen uns die Bäche

Nicht mehr, im Gras versteckt,

Wenn ihre Spiegelfläche

Verwelktes Laub bedeckt.

Die Vogel all verstummen,

Der Hain wird liederleer,

Und kleine Bienen summen

Nicht mehr im Gras' umher.


Dann eilen nicht mit Kränzen

Von Bux und Rosmarin

Zu frohen deutschen Tänzen

Die Dörferinnen hin.[221]

Um ihre Hütte stürmet

Der rauhe Winter nur,

Und Schneegestöber türmet

Sich auf der nackten Flur.


O kommt! auf euren Wangen

Ist in Aurorens Pracht

Die Jugend aufgegangen,

Und euer Auge lacht.

Schön, wie der junge Morgen,

Ist euer Angesicht,

Und kennt des Alters Sorgen

Und seine Runzeln nicht.


Doch, liebe Städterinnen,

Der Sommer eilt dahin;

Bald wird der Herbst beginnen,

Und jede Freud' entfliehn.

Sein kalter Odem scheuchet

Die Freuden weg, und ach!

Mit schweren Schritten keuchet

Der alte Winter nach.


Dann seufzen wir vergebens

Uns jeden Augenblick

Des ungenoßnen Lebens

Mit bangem Ach zurück.

Drum folget mir und weihet

Euch jetzt der Fröhlichkeit!

Und dann, im Winter, freuet

Euch der genoßnen Zeit.


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50, Stuttgart [o.J.], S. 220-222.
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