Andre Zeiten, andre Drachen

[67] Immer nicht an Mond und Sterne

mag ich meine Blicke hängen –:

Ach man kann mit Mond und Sternen,

Wolken, Felsen, Wäldern, Bächen

allzuleichtlich kokettieren,

hat man solch ein schelmisch Weibchen

stets um sich wie Phanta Sia.


Darum senk ich heut bescheiden

meine Augen in die Tiefe.

Hier und da ein Hüttenlichtlein;

auch ein Feuer, dran sich Hirten

nächtliche Kartoffeln braten –

wenig sonst im dunklen Grunde.

Doch! da drunten seh ich eine

goldgeschuppte Schlange kriechen ...


Hochromantisches Erspähnis!

Kommst du wieder, trautes Gestern,

da die Drachen mit den Kühen

friedlich auf den Almen grasten,

wenn sie nicht grad Flammen speien

oder Ritter fressen mußten –

da der Lindwurm in den Engpaß

seinen Boa-Hals hinabhing

und mit grünem Augenaufschlag[68]

Dame, Knapp und Maultier schmauste –

kommst du wieder, trautes Gestern?


Eitle Frage! Dieses Schuppen-

Ungetüm da drunten ist ein

ganz modernes Fabelwesen,

unersättlich zwar, wie jene

alten Schlangen, doch auch wieder

jenem braven Walfisch ähnlich,

der dem Jonas nur auf Tage

seinen Bauch zur Herberg anbot.


Feuerwurm, ich grüße froh dich

von den Stufen meines Schlosses!

Denn ob mancher dich auch schmähe,

als den Störer stiller Lande,

und die gelben Humpeldrachen,

die noch bliesen, noch nicht pfiffen,

wiederwünschte, – ich bekenne,

daß ich stolz bin, dich zu schauen.

Höher schlägt mir oft das Herze,

seh ich dich auf schmalen Pfaden

deine Wucht in leichter Grazie

mit dem Flug der Vögel messen

und mit Triumphatorpose

hallend durch die Nächte tragen.
[69]

Sinnbild bist du mir und Gleichnis

Geistessiegs ob Stoffesträgheit!

Gleichnis bist du neuer Zeit mir,

die, jahrtausendalter Kräfte

Erbin, Sammlerin, sie spielend

zwingt und formt, beherrscht und leitet!


Andre Zeiten, andre Drachen,

andre Drachen, andre Märchen,

andre Märchen, andre Mütter,

andre Mütter, andre Jugend,

andre Jugend, andre Männer –:

Stark und stolz, gesund und fröhlich,

leichten, kampfgeübten Geistes,

Überwinder aller Schwerheit,

Sieger, Tänzer, Spötter, Götter!

Quelle:
Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 1, Basel 1971–1973, S. 67-70.
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