Das Kreuz

[58] Die gestürzten Engel

schweben um den Berg.

Mit weißen, bleiernen Riesenfittichen

schleicht ihr Flug aus den Talen,

daß er die Höhen der Erde auch

todeskältend überfinstere,

daß im Schweigen der Nacht

endlich das Leben sterbe.


Lebendige Flammen

entrief ich dem Fels

zum Schutze.

In goldenem Zorn

leuchtet das Berghaupt.

Aber die heißeste Stirn,

das glühendste Aug

ist nicht lange gefeit,

wo solcher Flügel

grabkalte Bahrtücher

der Vernichtung eisige Schauer

ins Haupt schatten.


Und fahles Grauen

würgt mir die Kehle

und reißt einen Schrei mir

aus der Brust[59]

und wirft ihn hinaus

in die Finsternisse ...

Vom grauen Fittichgewölbe

fällt er ohnmächtig

in mich zurück.


Im Schein der mühsam

kämpfenden Lohe

trete ich, halb von Sinnen,

zum Rande des Abgrunds

und breite, wie prüfend,

die Arme aus.


Da zucken die Nebelgespenster

grausengepackt zusammen.

Ihr schnürender Reigen

löst sich, zerstreut sich.

In wildem Entsetzen

rasen heulend die Satane

um den Gipfel.

Ich aber erkenne

auf der zitternden Wand

ihrer Flügelflucht

ein mächtiges, schwarzes Kreuz.
[60]

Meines Körpers

kreuzförmiger Schatte

quält triumphierend

die Engel des Todes

hinweg, hinab,

zurück in ihr trauriges Reich.


Ich stehe noch lange,

die Arme gebreitet,

doch nicht mehr in Angst

noch als Wehr,

nein! jetzt als Gruß

und heilige Ehrung

den tausend lächelnden Lichtaugen

des unsterblichen Alls.

Quelle:
Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 1, Basel 1971–1973, S. 58-61.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Reigen

Reigen

Die 1897 entstandene Komödie ließ Arthur Schnitzler 1900 in einer auf 200 Exemplare begrenzten Privatauflage drucken, das öffentliche Erscheinen hielt er für vorläufig ausgeschlossen. Und in der Tat verursachte die Uraufführung, die 1920 auf Drängen von Max Reinhardt im Berliner Kleinen Schauspielhaus stattfand, den größten Theaterskandal des 20. Jahrhunderts. Es kam zu öffentlichen Krawallen und zum Prozess gegen die Schauspieler. Schnitzler untersagte weitere Aufführungen und erst nach dem Tode seines Sohnes und Erben Heinrich kam das Stück 1982 wieder auf die Bühne. Der Reigen besteht aus zehn aneinander gereihten Dialogen zwischen einer Frau und einem Mann, die jeweils mit ihrer sexuellen Vereinigung schließen. Für den nächsten Dialog wird ein Partner ausgetauscht indem die verbleibende Figur der neuen die Hand reicht. So entsteht ein Reigen durch die gesamte Gesellschaft, der sich schließt als die letzte Figur mit der ersten in Kontakt tritt.

62 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon