Die Versuchung

[61] Der alte, ehrwürdige Herr

mit dem großen Bart

war heute bei mir.

»Ich habe dich gestern gerettet!«

sagte er freundlich.

»Den Einfall, die Arme

zur Kreuzform zu strecken,

hab ich dir gesteckt.«

Ich schüttelte dankbar

die biedere Rechte.

Er aber drohte mir

mit dem Finger:

»Ein Schelm bleibst du doch!

Ich traue dir nicht.

Doch höre!«

Und er kniff mir den Arm

und zeigte mir rings

die Lande –:

»Dies alles soll dein sein,

wenn du hier hinfällst

und mich anbetest.«

Der Arme, er wußte nicht,

daß Erde und Himmel

durch Phanta längst mein war.

»Nun, willst du nicht?«

rief er halb ängstlich

halb ärgerlich.
[62]

Ich aber machte ihm

schnell eine kalte Kompresse

um die erhitzten Schläfen

und führte ihn sorgsam

den Berg hinunter.

Auf halber Höhe

traf ich den großen Pan.

Er wollte gerade

eine Windhosen-Orgel bauen.

Doch ich entriß ihn

dem kühnen Projekte

und stellte ihm

seinen greisen Kollegen vor.

»Alte Bekanntschaft!« rief Pan

und zog die krumme Nase

mißmutig noch krümmer.

»Vielleicht hilft er dir

bei der Windhosen-Orgel!«

schlug ich begütigend vor.

Das leuchtete ein.

Arm in Arm

zogen die beiden ab.

Ich aber stieg,

ein freier, glückseliger Mensch,

singend wieder empor

auf meine herrlichen,

klaren, einsamen Höhen.

Quelle:
Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 1, Basel 1971–1973, S. 61-63.
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Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

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»Fanni war noch jung und unschuldigen Herzens. Ich glaubte daher, sie würde an Gamiani nur mit Entsetzen und Abscheu zurückdenken. Ich überhäufte sie mit Liebe und Zärtlichkeit und erwies ihr verschwenderisch die süßesten und berauschendsten Liebkosungen. Zuweilen tötete ich sie fast in wollüstigen Entzückungen, in der Hoffnung, sie würde fortan von keiner anderen Leidenschaft mehr wissen wollen, als von jener natürlichen, die die beiden Geschlechter in den Wonnen der Sinne und der Seele vereint. Aber ach! ich täuschte mich. Fannis Phantasie war geweckt worden – und zur Höhe dieser Phantasie vermochten alle unsere Liebesfreuden sich nicht zu erheben. Nichts kam in Fannis Augen den Verzückungen ihrer Freundin gleich. Unsere glorreichsten Liebestaten schienen ihr kalte Liebkosungen im Vergleich mit den wilden Rasereien, die sie in jener verhängnisvollen Nacht kennen gelernt hatte.«

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