Mädchentränen

[76] Die schönen, blauen Augen des Himmels

hängen voll trüber Nebelschleier,

und unter verstohlenen Schluchzern

strömen graue Güsse zur Erde nieder.

Auf traurigen Häuptern tragen die Bäume

das schwere Tränenweh, die Bäche

hetzen verstört sich talwärts, mürrisch

vermummt sich der Berg in weißer Wolle.


Und das alles?

Weil mit allzuglühender Lippe

der liebesrasende, ungestüme Sonnengott

des Morgenhimmels reine, kühle Mädchenunschuld

bestürmt und die tief errötende Geliebte

mit allzuversengenden Küssen

in ihrer jungfraustillen Seele

fassungslos aufgewühlt.

Wie ein Krampf packte die Leidenschaft

den überwältigten Herzensfrieden ...

Und all die verwirrten Gefühle

lösten und schütteten sich aus

in einem großen Weinen.
[77]

Mählig verebben die Seufzer.

Versöhnlicher, weicher wird das Herz.

Und schon sehe ich wieder ein halbes Lächeln,

ein warmes Winken

undämmbar aufdrängender Liebe

in den schönen, blauen Augen.

Quelle:
Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 1, Basel 1971–1973, S. 76-78.
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