Des Gastwirth Knapps Pädagogik.

[97] Knapp erzog seinen Sohn auf seine eigne Weise, und nicht nach der Weise Hagebucks des Weltreformators.

Sobald er gehen konnte, setzte er ihm ein Ziel, und setzte ihm allerlei Hindernisse, als Blöcke, Stühle, und dergleichen, in den Weg, wodurch er sich den kürzesten Weg zum Ziele durcharbeiten mußte.

Wenn er ein Kartenhäuschen bauete, so hielt er ihn an, es immer wieder zu bauen, wenn es auch zehnmal umfiel, und am Ende belohnte er ihm seine Geduld mit einem wurmstichigen Apfel.

Als er etwas mehr heranwuchs lehrte er ihn die große Kunst, nicht zwei Wege nach etwas zu thun, das man auf einem Wege hohlen kann; oder, was man mit einem grausamen Sprüchworte nennt, mit einer Klappe zwei Fliegen schlagen.[98]

Er lehrte ihn fünf Weingläser in der Hand zwischen den Fingern tragen, und beim An- und Ausziehen lehrte er ihn zu gleicher Zeit beide Hände brauchen, so daß er sich mit einemmal beide Schuh aufschnallen konnte.

Sein Haar mußte er zuweilen lange unausgekämmt lassen, und es sich denn am Ende selbst auskämmen, wenn es ganz ineinander gerathen war – sobald er dann ungeduldig wurde, riß er sich und verursachte sich selber Schmerzen; wenn er aber geduldig einen Schopf Haar nach dem andern vornahm, und das Verwirrte auseinander zu bringen suchte, so konnte er den Schmerz vermeiden – auf die Weise mußte er sich in der Geduld üben.

Er lehrte ihn bei jeder Gelegenheit die Kürze des Lebens empfinden, und machte ihn aufmerksam auf den Seigerschlag – Er machte ihn allmälig mit dem Tode in der ganzen Natur bekannt, von dem kleinsten verwelken Grashalm, bis zum verdorrten Eichbaum, und von dem zertretnen Wurme, bis zu den ehrwürdigen Ueberresten des zerstörten Bau's menschlicher Körper.[99]

Und wie oft hat dieser Sohn seinem Vater diese Lehre nicht verdankt! Diesem von Kindheit auf seiner Seele fest eingeprägten Bilde des Todes, verdankt er den sichern und ruhigen Genuß, aller der Freuden seines Lebens – dieß ist es allein, was ihn standhaft in Gefahren, muthig und unerschrocken bei allen Vorfallenheiten seines Lebens gemacht hat. – Dieß ist die Ursach, warum er auch nie eine Viertelstunde lang den quälenden Ueberdruß der Langenweile schmeckte – Wie kann ein Mensch Langeweile haben, dem der Tod zur Seite steht?

Dieser feste Gedanke heiterte ihm die trübsten Stunden seines Lebens auf – denn wenn kein Wechsel ihm mehr bevorzustehen schien, so blieb ihm doch diese einzige große Veränderung gewiß.

Der feste Gedanke an den Tod war es, der ihm den Genuß jeder Freude verdoppelte, und jeden Kummer ihm versüßte. – Der wollustreiche Gedanke des Aufhörens drängte seine ganze Lebenskraft immer in den gegenwärtigen Augenblick zusammen, und machte, daß er in einzelnen Tagen mehr, als andre Menschen in Jahren, lebte. – –[100]

Niemand hat wohl mehr in ihrer Fülle, und ungetrübter alle einzelne Vergnügungen des Lebens, die jedem Alter zukommen, genossen, als der Sohn des Gastwirths Knapp – weil er wußte, daß er keinen Augenblick zu versäumen hatte, weil ihm jeder Tag, jede Stunde, ein Ganzes war. –

Besonders war ihm immer die gegenwärtige Stunde lieb, und der Seigerschlag das angenehmste Getön in seinen Ohren – denn es wurde ihm dadurch merklich, wie er immer den Lebensstrom hinunterschifte, und alles in unaufhörlicher Bewegung blieb – durch jeden Seigerschlag wurde der Reiz des Lebens wieder aufgefrischt – und wenn ein Tag, eine Woche, ein Jahr verflossen war, so empfand er die Wonne des Lebens in immer größern Maße – Er kannte keinen Verlust der Zeit, denn für jede Minute seines Lebens hatte er Weisheit und Selbstzufriedenheit eingekauft. –

So wie ohne Tod kein Leben ist, so ist ohne wahres Gefühl des Todes auch kein wahres Gefühl des Lebens – aus der dunkeln Mitternacht bricht das Morgenroth hervor – und aus dem[101] Schatten der Nacht bildet sich der schöne Tag –

O pflanzt den Gedanken an den Tod fest in die jungen Seelen, ihr Pädagogen unsrer Zeiten, und ihr werdet wieder Männer statt Knaben ziehen – Euer ganzes Gebäude wird sich fester auf diese Basis stützen; wenn die Menschen erst wissen werden, daß sie leben, dann erst werden sie jeden Augenblick ihres Lebens nutzen – und wenn sie jeden Augenblick ihres Lebens nutzen, dann erst ist Euer Werk gekrönt.

Denn hin und wieder eine wohlangewandte Stunde oder ein wohlangewandter Tag ist mehr ein Werk des Zufalls, als ein Werk der Kunst. – Die Lebenskunst muß durch alle Stunden und Minuten durchgehen, wie die Regel durch das Werk. –

Dazu ist nöthig, daß der Mensch in jedem Augenblick wisse und empfinde, daß er lebe, welches ohne den festen Gedanken an den Tod unmöglich ist. – Wer sich aber den einmal zu eigen gemacht hat, der kann sein

memento mori


mit eben so unumwölkter und heitrer Stirne[102] sagen, womit er im Kreise seiner Freunde ein fröhliches Trinklied singt.

Hierin bestand also vorzüglich Knapps Pädagogik, und denn auch noch darin, daß er seinen Sohn empfinden lehrte, wie thöricht es sey, einen Stein, an den man sich gestoßen hat, mit dem Stocke zu schlagen, oder sich gegen den Regen, die Kälte, und den Sturmwind aufzulehnen – er lehrte ihn früh die Nothwendigkeit, sich der unvernünftigen Stärke zu unterwerfen. – –

Am meisten aber suchte er seine Lebensgeister beständig in Bewegung zu erhalten, und war in den Augenblicken am aufmerksamsten auf ihn, wo er mit dem Finger Figuren in den Sand zeichnete, oder mit Kreide auf den Tisch mahlte, oder die Gestalt der Wolken am Himmel zu aufmerksam betrachtete.

Das ABC ließ er ihn lernen, da er zehn Jahre alt war, und vor dem vierzehnten Jahre durfte er den Nahmen Gottes nicht aussprechen.

Quelle:
Karl Philipp Moritz: Andreas Hartkopf. Eine Allegorie, Berlin 1786, S. 97-103.
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