I. Brief.

Der Magister Wilibald an den Baron von S.

Kargfeld, den 29. März.


Hochwohlgebohrner Herr,

Gnädiger Herr,


Die Ehre, die ich ehemals gehabt habe, Sie in allerlei guten Wissenschaften zu unterrichten; die Erlaubnis, welche Sie mir vor Ihrer Abreise gaben, oft an Sie zu schreiben, und der ausdrückliche Befehl meiner gnädigen Herrschaft,[1] einen Briefwechsel mit Ihnen zu unterhalten, berechtigen mich zur Erfüllung meines eigenen Wunsches, dem Geiste nach Sie auf Ihren Reisen zu begleiten: ob ich gleich körperlich von Ihnen entfernt bin. Nun sind Sie in Amsterdam, und nun werden Sie beurtheilen können, in wie ferne ich Recht, oder Unrecht hatte, wenn ich diese berühmte Stadt die Königin aller Handelsstädte nennte. Den fürnehmsten Theil der vereinigten Provinzen haben Sie bereits besehen, und machen Anstalt, wie Sie sagen, nach Engelland, dem Vaterlande tiefdenkender Gelehrten; der Heimat großer Geister; der Quelle aller Reichthümer Europens, überzuschiffen. (Hier haben Sie in wenig Worten einen Unterricht von dem, was bey den Britten Ihre Aufmerksamkeit verdienen muß.) Seyn Sie glücklich in allen Ihren Unternehmungen! Auf Befehl meines gnädigen und hohen Patrons soll ich Ihnen von unserm motu ciuico, wie ich es nach dem Horaz nennen könnte; oder von der innerlichen Gährung, welche in unserer kleinen Republik herrschet, eine Nachricht[2] geben. Ich will meine Erzählung von den Eiern der Leda herholen. Sie wissen noch nicht, was für ein guter Geschmack in dem Hause Ihres Herrn Oncle, meines hohen Patrons, sowohl in Ansehung der Wissenschaften; als aller übrigen Dinge anzutreffen ist. Die Scene hat sich seit Ihrer Abreise sehr geändert. Es wird niemand in die Gesellschaft, oder in den Dienst der Herrschaft aufgenommen, der nicht ein Kenner, oder ein Verehrer davon ist. Vom Hofmeister bis auf den Koch muß man nach den Regeln des Geschmacks urtheilen, oder doch darnach urtheilen lernen. Wenn ich aufgeräumt bin, nenne ich deswegen den Hochadelichen Sitz eine Akademie. Vor einigen Jahren, da Sie sich schon auf dem Carolino befanden, bekam ich von der gnädigen Herrschaft den Auftrag, bei den Winterlustbarkeiten, über ein, zu der Zeit mir unbekanntes Buch Vorlesungen zu halten; oder eigentlich zu reden, in der Versammlung des adelichen Hauses die Geschichte Herrn Carl Grandisons, die eben damals in unserer Muttersprache zum erstenmale erschienen[3] war, bei langen Winterabenden vorzulesen. Sie wissen, daß wohlgeschriebene Bücher jederzeit eine der angenehmsten Zeitkürzungen sowohl Ihres Herrn Oncle; als auch seiner Fräulein Schwester gewesen sind. Ich gehorsamste anfangs mit einigem Widerwillen. Ich wußte, wieviel meine Lunge durch das Geräusche der Spinnräder, welches meine Stimme durchdringen mußte, und durch den schädlichen Staub von der Hechel leiden würde: ich wüßte aber noch nicht, wie viel mein Verstand davon gewinnen würde. Kein Schlaf kam den aufmerksamen Zuhörern in die Augen; aber gnug empfindliche Thränen rollten die Wangen herab, wenn ich ihnen diese rührende Geschichte las, und jedes Wort derselben durch den gemäßen Accent ihren Herzen einprägte. Wenn ich meinen Autor hinlegte, befand sich alles in einer entzückten Stille, bis wir unsere Geister wiederum gesammlet hatten: als denn wurde das vorgelesene Pensum nach den Regeln des Geschmacks beurtheilet. Niemand unterstund sich, ein Meisterstück des menschlichen Witzes (davor[4] hielten wir es anfangs alle, bis ich durch Gründe überzeugt wurde, daß es eine wahre Geschichte wäre) dem geringsten Tadel zu unterwerfen, und wenn ja hier und da ein Dubium oder sonst eine Anmerkung gemacht wurde, so geschahe es mehr exercendi ingenii caussa, als in der Meinung, wirkliche Fehler zu entdecken. Ich kann nicht leugnen, daß mich oft der Beifall der ganzen Gesellschaft stolz machte, wenn ich mit einer entscheidenden Mine Streitigkeiten über diese oder jene Stelle schlichtete. Nur einer der allerbösgeartesten Menschen – –. Niemals soll es mir aus den Gedanken kommen – –. Wigand, der lasterhafte Wigand, ehemals ein elender Drescher, hernach Hochadelicher Leibkutscher bey meinem Herrn Principal, durfte es wagen, mir einmal öffentlich zu widersprechen. Vergeben Sie, daß ich hier eine kleine Ausschweifung begehe, und Ihnen eine Begebenheit die zu Grandisons und meiner Ehre ausschlug, bekannt mache.

Wir waren einmal des Abends in der Beurtheilung des 25sten Briefes aus dem[5] ersten Buche begriffen, da Wigand zwischen den Federfässern in der Kajüte hervor in die Versammlung drang, und einen Haufen Scheltworte über den ehrlichen Jeremias, Sir Carl Grandisons Kutscher, aussties, daß er dem Wagen des Ehr und Tugend vergessenen Hargravens ausgewichen wär. Er bestritt nach den Gesetzen der Fuhrleute, daß ein Postillion einem eigenen Kutscher eines großen Herrn ausweichen müßte, und machte Mine, auf Sir Carln selbst loszuziehen, wegen eines unbilligen Befehls, den er seinem Kutscher sollte gegeben haben. Hier lief meinem gnädigen und von dem Character Grandisons ganz bezauberten Herrn die Galle über; er sprang auf, und ich glaubte, er würde Wiganden den Hals brechen; allein er hies ihn nur einen Galgenschwengel, und drohte, ihn sogleich aufhängen zu lassen, wenn er Sir Carln, als die Zierde der Welt nur im geringsten wieder antasten würde. Ich aber versiegelte die ganze sehr nachdrückliche Rede meines Herrn mit den Worten: ne suror vltra crepidam, welche ich ihm in einer[6] Uebersetzung zurufte, und den Buben endlich durch verschiedene Schlüsse zur Ruhe brachte. Ich würde Bedenken getragen haben, mich soweit zu erniedrigen, und mit diesem Unverschämten in einen Wortstreit mich einzulassen, wenn nicht mein glückliches Gedächtnis mir eben zu rechter Zeit aus dem Martial zugerufen hätte: Inter Pygmacos non puder esse breuem.


Damals fieng mein Hochadelicher Herr Principal zugleich mit nur an, große Gedanken von der Geschichte des Grandisons zu hegen, und anstatt daß sich diese bei Endigung des Buches hätten verlieren sollen, so wurden sie bei uns dergestalt erhöhet, daß wir nach einer genauen Ueberlegung den Satz bey uns fest stelleten: es ist unmöglich, daß die Geschichte Herrn Carl Grandisons eine Erdichtung sei; es ist unmöglich, daß diese Geschichte aus der Erfindung eines sinnreichen Kopfes, wie eine andere Minerva aus dem Gehirn des Jupiters, entsprungen sei. Wie gesagt, diese Gedanken wurden von Tag zu Tag reifer, bis wir[7] uns endlich stark genug fühlten, öffentlich damit hervor zu brechen. Ich that es mit Genehmhaltung meines gnädigen Herrn. Wir waren eben insgesammt in Schönthal bei Ihrem Herrn Schwager zu Gaste. Die Aufmerksamkeit der Zuhörer ermüdete nicht, obgleich eine Stunde verlief, ehe ich alle Gründe für die Wahrheit meines Satzes schicklich anbringen und ihnen die logikalische Stärke geben konte. Meine Augen waren nunmehro beschäfftiget, einen gerechten Beifall der hohen Versammlung abzufordern; da Ihr jüngeres Fräulein Schwester mit einem leichtfertigen Gelächter, als wenn sie vergessen hätte, daß ich jemals ihr Lehrmeister gewesen wär, meine Beweise seindselig anzugreifen; ja wo es möglich wär, sie umzustürzen, sich bemühete. In kurzem hatten wir zwo Partheyen an der Tafel, die mehr mit hitzigen als spitzigen Vernunftschlüssen gegen einander zu Felde zogen. Da wir uns nach Hause begaben, rühmte sich jedes des Sieges. Dero Herr Oncle und ich wurden durch die schwachen Einwürfe der Gegenparthei in unserer Hypothese[8] treflich gestärket. Der Streit ist noch nicht beigelegt. Seitdem ich diesen Zankapfel in Ihre Hochadeliche Familie geworfen habe, fehlt es unsern Unterredungen niemals an Materie. Vor einiger Zeit sprangen beinahe alle, bei denen im Anfang meine Gründe Eingang gefunden hatten, von mir ab, und traten auf die Seite Ihres Fräuleins Schwester. Niemand als der gnädige Herr hielt noch bei mir aus. Ich war genöthiget, nach dem Beispiele des Weingottes, da er mit den Himmelsstürmern kämpfte, mich bald in einen grausamen Löwen zu verwandeln; bald eine andere Gestalt anzunehmen, um nicht von der Menge unterdrückt und zu einem schimpflichen und der Wahrheit nach theiligen Stillschweigen gebracht zu werden. Nun haben wir uns wieder einen Anhang gemacht. Hier haben Sie das Verzeichnis von den Anhängern jeder Parthei. Diejenigen, welche unter mir, dem Magister Lampert Wilibald die Geschichte Herrn Carl Grandisons als wahre Begebenheiten annehmen und vertheidigen, sind: Mein gnädiger und hoher Principal,[9] der, wie er sagt, für die Wahrheit der guten Sache sterben will.


Fräulein Kunigunde, Schwester meines gnädigen Herrn. Junker Gangolph von R.., welcher bei hiesigem Förster die Jägerei lernt, seines Alters zwischen 18. und 19. Jahren.


Florian, der Lustgärtner und der ehemals verkehrte, nun aber belehrte Wigand.


Diejenigen, welche unter dem Hochwohlgebohrnen Fräulein Amalia von S.. die Geschichte Herrn Carl Grandisons, als einen Roman annehmen und solches andern bereden wollen, sind:


Der Herr Baron von F ... und dessen Frau Gemahlin gebohrne von S..


Fräulein Fiekgen, Pflegbefohlene meines hohen Gönners.


Unser Herr Pastor, Wendelin, den ich zum Spas manchmal meinen Senior nenne, und andere.
[10]

So dringend meine Beweise, und so bündig meine Schlüsse sind, (ich muß an der Spitze meiner Parthey kämpfen;) so wenig habe ich doch dadurch bishero gewonnen. Man hat uns zwar oft Friedensvorschläge gethan: wir können uns aber darauf nicht einlassen. Man verlangt, wir sollen unserer bessern Ueberzeugung entgegen, die mehrbesagte Geschichte für eine witzige Erfindung, und einen nützlichen Roman eines in der gelehrten Welt unbekannten Engelländers erklären. Neulich that ich den Vorschlag, man sollte Ihnen den Auftrag thun, ein Endurtheil in dieser Streitigkeit zu fällen. Ich handelte großmüthig, daß ich den Bruder zum Richter zwischen einer geliebten Schwester und mir anrufte: ich verließ mich aber auf meine gerechte Sache, und auf ihre Zärtlichkeit für die Ehre und Wahrheit. Mein Vorschlag wurde angenommen. Ich bekam Befehl, Ihnen einen kurzen Abriß unsers Processes nebst der Urtheilsfrage zu übersenden. Sehen Sie, gnädiger Herr, das ist der Verlauf der ganzen Sache. Wenn Sie in Londen glücklich angelanget[11] sind: so erkundigen Sie sich unter der Hand, was man von der Geschichte des Grandisons urtheilet; ob das Publicum auf meiner und Ihres Herrn Oncle Seite, oder auf Ihres Fräuleins Schwester Seite ist. Vielleicht sagt man Ihnen, daß die Sache an sich wahr sey, und daß man nur die Namen und gewisse kleine Umstände erdichtet hat, um die Wahrheit in etwas zu verstecken. Wäre dieses, so würden Sie zwar einige Schwürigkeiten zu überwinden haben: diese aber würden Sie nur ämsiger machen, in der aufmerksamen Nachforschung fortzufahren. So bald Sie das geringste Licht in der Sache bekommen, und auf der rechten Spur sind: so ertheilen Sie uns davon Nachricht. Dero Herr Oncle hat dabei die größte Absicht von der Welt; aber es wird noch alles geheim gehalten. Lassen Sie sich nicht in Ihren Bemühungen zur Ehre der Wahrheit abschrecken; wenn Sie Leute in Engelland finden, die von der Geschichte des Herrn Grandisons eben so denken, als Fräulein Amalia, und ihre Parthei. Erinnern Sie sich, daß es vielerlei[12] Arten von Freigeistern gießt. Alle Ihre Anvewandten segnen Sie so, wie


Ihr

unterthäniger Diener

M. Lampertus Wilibald.

Quelle:
Johann Karl August Musäus: Grandison der Zweite, Erster bis dritter Theil, Band1, Eisenach 1760, S. 1-13.
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