XLV. Brief.

Der Herr v.S. an seine Fräulein Schwester.

[334] London den 11 Octobr.


Geliebte Schwester,


Wenn mir auch Engelland kein Vergnügen hätte verschaffen können, so würden mir doch Deine Briefe und der Roman unsres Oncles meinen Aufenthalt hier angenehm gemacht haben. Ich weiß nicht, ob ich bei Besichtigung des Palasts S. James, oder bei Durchblätterung der Briefe, die die Grandisonische Händel, wie Du sie nennest, betreffen, vergnügter gewesen bin. Mein Heinrich hat sie alle heften und abschreiben müssen. Das Original schicke ich in beigefügten Paquet nach deinem Verlangen zurück. Die Abschrift werde ich selbst behalten, um diesen Roman zum Zeitvertreibe auf meine Reisen wieder zu lesen.[335] Ich bin einigermaßen verlegen darüber, wie wir es anfangen, daß nach meiner Abreiße von London der Briefwechsel des Magister Lamperts mit der Grandisonischen Familie nicht unterbrochen wird. Ich sehe, daß solcher für unsern Oncle von einigem Nutzen ist. Wenn ich meinen Entschluß nicht noch ändere, so werde ich in einem Monath aufs längste von hier über Holland nach Straßburg gehen, und daselbst überwintern; vorher aber will ich noch einmal schreiben, um zu verhüten, daß ich keinen Brief von dir verfehle, welchen ich bei jezigen Umständen schwerlich erhalten würde, wenn er einmal nach London ginge. Wenn es seyn kann, so bemühe dich, unsern Oncle und seinen Sancho zu überreden, daß sie die Briefe an ihre Freunde in Engeland unter einem Umschlage an mich nach Straßburg schicken, ich will ihnen selbst diesen Vorschlag thun und glaube, daß ich alles von ihnen erhalten kann, wenn ich sage, daß es Herr Grandison gutheißet.[336]

Das Fräulein v.W. verdienet bedauert zu werden, daß sie in diese Händel ist verwickelt worden. Wenn ich sie aus ihren Briefen beurtheilen soll; so muß ich ihr einen vorzüglichen Plaz unter dem Frauenzimmer ihrer Gegend einräumen. Ich werde in die Versuchung gerathen, sie meiner Amalie an die Seite zu setzen, wenn ich mehr von ihr lese, und ich muß es gesiehen, daß sie mir vor drei Jahren, da ich sie das lezte mal sahe, in ihren besten Putze nicht so reizend vorkam, als durch ihre nachläßige und angenehme Schreibart, die ich in den Briefen an ihre Freundin fand. Ich weiß, daß du nicht eifersüchtig bist über das Lob deiner Juliane, du weist also über diese Stelle keine Auslegungen machen. Der Nachricht, daß sich ihr Heirath mit unserm Oncle völlig zerschlagen hat, sehe ich mit Verlangen entgegen. Es ist nichts weniger als der Eigennutz, der mich antreibt, dieses zu wünschen; ich habe sonst keine Absicht dabei, als mir den Verdruß zu ersparen, dieses gute Fräulein misvergnügt zu sehen. Ich gehöre nicht[337] zu ihrem eigentlichen verehrern; doch wenn du mich darunter zählen wilst, so setze mich in die Klasse derer, die ein gutes Herz verehren, wo sie es finden, ohne dabei weiter zu denken. Ich will mich diesmal in keine ordentliche Beantwortung Deiner zween leztern Briefe einlassen, ich finde dabei nichts mehr zu sagen, als daß du deinen Endzweck bei mir vollkommen erreichet hast, der erstere hat mich über acht Tage lang unruhig gemacht, und den Zweiten erbrach ich in Furcht und Hoffnung. Nun glaube ich es selbsten, daß man eben nicht Unrecht hat, wenn man meine Amalie für ein leichtfertiges Frauenzimmer hält. Wodurch hat denn der Magister Lampert die Ehre verdienet, daß du eine Beleidigung, die ich ihm zugefügt haben soll, an mir gerochen hast? Ich kann es zwar eben nicht, eine Beleidigung nennen; ich weiß aber nicht, was man sonst rächen kann. Der Anfang dieses zweiten Briefs setzte mich in Bestürzung; ich empfand alles dabei, was der Magister kann empfunden haben, da ich ihn mit der Nachricht erschreckte, daß ich in[338] Engeland keinen Grandison finden könnte. Es fehlte wenig, so hätte ich wie er mein Kleid zerrissen. Du konntest in der That für diese kleine Leichtfertigkeit unter keiner andern Bedingung eine vollkommene Vergebung hoffen, als durch eine getreue und ausführliche Erzählung aller Umstände, die den 16. September in Wilmershausen merkwürdig machten. Ich erwarte mit Ungeduld den Verfolg dieser Begebenheiten, und hoffe daß sie zum Vergnügen des guten Fräuleins v.W. ausschlagen werden. Uebergieb dem Magister einliegende zwei Briefe, du wirst uns bei Gelegenheit melden, was er und unser Oncle zu dem Innhalte derselben sagen. Ich werde es als ein Zeichen deiner Gewogenheit annehmen, wenn du fortfährest, alles was in die Geschichte unsers Grandisons einschlägt mir zu berichten. Wenn es möglich wäre, meine Liebe gegen dich zu vermehren, so würde Dir diese Gefälligkeit einen Zuwachs davon versprechen. Wie vortheilhaft ist es doch, eine Schwester zu besitzen, wie meine Amalie, die mich durch tausend Proben versichert,[339] daß Sie nie aufhören wird zu lieben.


Ihren

dankbaren Bruder.

Quelle:
Johann Karl August Musäus: Grandison der Zweite, Erster bis dritter Theil, Band1, Eisenach 1760, S. 334-340.
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