XXI. Brief.

Das Fräulein v.S. an das Fräulein v.W.

[232] den 1. Novembr.


Sie verlangten gestern Abend bei unserm Weggehen meine kritischen Betrachtungen über unsere Gesellschaft. Ich[232] versprach Ihnen dieses sehr gerne, denn ich hatte in der That einige gemacht und ich bin allemal sehr unzufrieden, wenn ich meine Gedanken bei mir behalten muß, ohne sie an Mann bringen zu können, Sie sehen also hier die Erfüllung meiner Zusage. Ich ließ mich mit Fleiß nicht in ein Spiel ziehn, und setzte mich nur als eine Zuschauerin zum Spieltische, um auf die ganze Gesellschaft desto aufmerksamer zu seyn, und über ein und andere Personen, die sich darinnen besonders ausnahmen, meine Anmerkungen zu machen. Doch dieses war nur eine Beschäftigung, wenn ich sonst nichts zu thun hatte. Ich setzte mir schon zu Hause vor, hauptsächlich zweyerlei zu beobachten, theils mich um die Wiedereroberung der Gunst der Frau v.W. zu bewerben; theils die wahren Gesinnungen des Majors gegen dieselbe so viel möglich auszuforschen. Nun werden Sie mich schon vor eine Kundschafterin halten. Woher habe ich denn einen Beruf, mich um die gute Freundschaft des Majors und der Frau v.W. zu bekümmern? Seyn Sie vor jetzo mit[233] der Antwort zufrieden, daß ich allerdings meine Ursachen dazu hatte. Wenn ich mir nicht selbst zu viel schmeichle, so denke ich, daß ich in meinen Unternehmungen nicht ganz unglücklich gewesen bin. Sie haben es ohne Zweifel bemerket, daß ihre Frau Mutter sich rechte Mühe gab, mich von ihrer Gewogenheit zu überzeugen, sie war so freigebig mit Freundschaftsversicherungen, daß ich nicht beredt genug war, sie alle zu erwiedern. Wir hatten uns ganz außer Athem komplimentiret, und ich fand mich genöthiget die Unterredung auf etwas anders zu lenken, damit ich nicht endlich zum Stillschweigen gebracht würde. Zum Glück fiel mir ihre Katze, die sich unter den Ofen hingestreckt hatte, in die Augen, ich lockte diesen Murner zu mir und fing ihn an zu loben. Hierdurch eröffnete ich ein weites Feld, unsere Unterredung fortzusetzen, und diesen Lobreden schreibe ich auch größten Theils die wiedererlangte Gewogenheit der Frau v.W. zu. Lachen Sie nicht, es ist mein Ernst. Sie erzählte mir die ganze Lebensgeschichte ihres Lieblings mit dem freundlichsten[234] Gesichte, das sie machen kann. Die Tugenden und Künste desselben beschäftigten uns ziemlich lange, und Murner schnurte dazu, als wenn er es verstünde, daß er gelobt würde. Endlich sehnte ich mich wieder nach der Gesellschaft und wollte mir lassen ein Pfötgen geben, um diesem Gespräch ein Ende zu machen und von dem geliebten Vieh freundlich Abschied zu nehmen; aber das garstige Thier war so unbescheiden und häckelte mich mit den scharfen Krallen dergestalt in die Finger, daß ich hätte schreien mögen. Davor bekam die Katze von der Frau v. W eine derbe Maulschelle, und mich bat sie so ängstlich um Vergebung, daß ich ihr würde verziehen habe, wenn sie mich auch selbst so hämisch gekratzt hätte. Es darf mir leicht jemand ein gut Wort geben, so verwandele ich das schlimmste Urtheil, das ich von einer Person fällen kann, in ein sehr gutes. Es sind noch nicht vierzehn Tage, da ich sie für die schlimmste Person aus unserm Geschlecht hielt. Ich las das Leben des Sokrates von neuem, um einen Vergleich zwischen der Frau[235] v.W. und der Gemahlin dieses Weltweisen anzustellen. Diese schien mir in einigen Stücken noch erträglicher, und jetzo wundere ich mich, nie ich nur die geringste Aehnlichkeit zwischen beiden Damen habe finden können, ich bitte es nun der Frau v.W. in meinen Gedanken ab, daß ich sie so beleidiget habe. Sie ist in der That nicht so arg, als Sie und ich denken. Sie hat schlimme Zufälle, das ist nicht zu läugnen: wenn aber ihre gute Stunde kommt, so ist sie leidlich. Die Freundschaft mit dem Major dürfte wohl von keiner allzulangen Dauer seyn, wenn sie inne wird, daß ihn nicht die persönliche Hochachtung, sondern Klugheit und Vortheil reizen sich ihr gefällig zu beweisen. Herr Lampert würde ihn einen schlauen Gast nennen, wenn er ihn genugsam kennte, ich will diesen Ausdruck von ihm entlehnen, um den Charakter des Herrn v. Ln. damit zu bezeichnen. Er hat, wie es mir vorkommt, eben nicht die besten Begriffe von seiner Frau Base; er kennt ihre Fehler und besitzt Herzhaftigkeit genug, ihre diese vorzurücken. In der That giebt[236] er bei ihr einen Sittenlehrer ab, ohne daß sie es merkt, nicht in der Absicht sie zu bessern, sondern sich und andern etwas dadurch zu lachen zu geben. Das war der boshafteste Einfall, den man erdenken kann, daß er sie in der gestalt der bösen westphälischen Wirthin auftreten ließ, von der er einen Haufen erzählte, und darunter niemand anders als die Frau v.W. selbst vorgestellt war. Entsetzten Sie Sich nicht über die Kühnheit des Mannes? Ich wunderte mich nur, daß die Person, die am meisten getroffen war, und die doch sonst ziemlich fein ist, nicht das geringste davon merkte. So geht es, wenn wir einmal glauben, daß jemand vortheilhaft für uns denkt, so darf er sagen was er will, er meint uns niemals und wenn er auch mit dem Finger auf uns deuten sollte. Es ist gut für den Hrn. v. Ln., daß ich nicht an der Stelle der Frau v.W. bin, ich kündigte ihm von Stund an mein Kapital auf, so schlimm wäre ich, und wenn er das Geld bei den Juden borgen sollte. Wer weiß, was noch geschiehet, wenn sie einmal[237] auf ihren Kopf kommt, so wird der Herr v. Ln. für alle Schelmereien büßen müssen. Das Vergnügen möchte ich haben, diese beiden Leute mit einander streiten zu sehen, sie ist eine Meisterin darinne, spitzige und beissende Reden auszutheilen, und er sieht mir so aus, als wenn er mit lachendem Munde alles zwiefach zurück geben könnte. Die Frau v.W. hat doch mit keinem Worte an das Protokoll gedacht, vielleicht hat sie es vergessen. Wenn sie es auch erinnert hätte, so würde der Baron sie auf eine andere Zeit vertröstet haben, und diese Vertröstungen sollen so lange fortgesetzt werden, bis sie sich dabei beruhiget oder das Protokoll mit Ungestüm fordert, alsdenn soll sie eine Abschrift erhalten, die ihrer Neigung gemäß eingerichtet ist, und hierbei wird sie sich schon zufrieden stellen lassen. Wenn Sie das genuine Exemplar, das ich Ihnen gestern heimlich zusteckte durchgelesen haben, so schicken Sie mir es wieder zu. Um mich recht sehr zu verbinden, fügen Sie ihre Anmerkungen darüber zugleich mit bei, ich habe es so oft mit Vergnügen[238] durchlesen, daß ich es beinahe auswendig kann. Gestern machte ich mir ein eigenes Geschäfte daraus, wie ich Ihnen schon gesagt habe, auf die merkwürdigsten Personen aus unsrer Gesellschaft aufmerksam zu seyn, und allerlei Betrachtungen über sie anzustellen, diese will ich Ihnen im Voraus als eine Vergeltung der Ihrigen über das Protokoll mittheilen. Ich suchte einen sonderbaren lustigen Zeitvertreib dadurch, die Verhältnisse und Stellungen der Personen unserer Gesellschaft gegen einander zu beobachten. Damit war ich noch nicht zufrieden, bald beschäftigte sich meine Einbildungskraft, die ganze Gesellschaft sich im großen vorzustellen, und da machte ich lauter Prinzen und Helden daraus; bald ließ ich sie wieder ins Kleine fallen und schuf sie zu Bauern, Schulzen und Gastwirthen um, hierzu gab mir die Erzählung des Majors von der westphälischen Wirthin Anlaß. Ich stellte noch allerlei andere Vergleichungen unter ihnen an, und wenn ich sie auch die seyn ließ, die sie wirklich waren, so verschaffte mir auch[239] dieses mancherlei Vergnügen. Sie wundern sich ohne Zweifel über meine Ausschweifungen: aber was thut man nicht, um in einer Gesellschaft, wo man sich unter einem gewissen Zwange befindet, die Zeit hinzubringen! Doch ich war nicht die einzige Person aus der Gesellschaft, die nicht frei genug war: die meisten andern ließen aus ihren Bezeigen etwas fremdes und ungewöhnliches hervor blicken. Einige schienen zurückhaltend, sie dachten alles, wie der Papogey, der nicht reden konnte, und spielten stumme Personen. Andere, die sprechen wollten, wogen jedes Wort auf der Goldwaage ab, als wann sie Leib und Lebensgefahr davon zu befürchten hätten. Mich befremdete dieses sonderbare eben nicht; ich hatte es schon vermuthet. Nothwendig mußte das neue Bündniß der Freundschaft zweier der vornehmsten Glieder einer geschwornen Gesellschaft als diese war, die durch einen unglücklichen Zwist bald wäre getrennt worden, wunderbare Erscheinungen hervor bringen. Alle nahmen gewissermaßen Theil daran. Ich bemerkte, daß einige ganz[240] geheimnißvoll aussahen, da mein Oncle kam, man zischelte einander ins Ohr, daß die Frau v.W. oder ihr rechtlicher Beistand der Major und der Hr. v.N. neue Händel bekommen würden. Der Hr. v.H. hatte diesen nicht so bald erblickt, da er gleichsam in einer kleinen Begeisterung zu sich selber sagte: ja, ja, das wird eine feine Hetze werden, heute geht der Tanz wieder an. Der Baron, der meinen Oncle abgeholet hatte, mußte diesen so viele Lectionen geben, wie er sich den Tag über verhalten sollte, daß er, um diese Regeln genau zu beobachten, sichs gar zu sehr merken ließ, daß ihm welche waren eingeschärfet worden. Herr Lampert hatte den Befehl erhalten, seinen Mund und Zunge den ganzen Tag über zu nichts anders als zum Essen und Trinken zu gebrauchen und im höchsten Nothfall nicht mehr als ja oder nein zu sagen. Er hat wider seine Gewohnheit dieses Gebot sehr genau befolgt. Der Baron hat viel Mühe gehabt, den Oncle dahin zu bringen, an den Zwist mit der Frau v.W. und dem Major nicht zu gedenken. Er hat mit ihr durchaus eben die Procedur wie[241] mit dem Major vornehmen und sie bekehren wollen, Lampert hat bereits ein dickes Buch geheftet gehabt, um alle Reden der Frau v.W. und seines Gönners nachzuschreiben, und nach seinem Ausdruck mit diesem neuen Kleinod den Werth der glänzenden Tugenden desselben noch mehr zu erhöhen, und die Siege der Großmuth für die Nachwelt schriftlich aufzubehalten. Das Gesichte der Frau v.W. verrieth auch einigen Zwang, es kostete ihr Mühe, den Anblick meines Oncles zu ertragen; es wurde ihr aber alsdann unleidlich, wenn Grandison aus ihm sprach. Sie verdient indessen allerdings ihr Lob, daß sie diesmal vollkommen von sich Meister blieb, und äußerlich alles beobachtete, was man von ihr verlangen konnte. Diese verschiedene Charaktere, welche die vorzüglichsten Personen aus der Gesellschaft an sich nahmen, und die so vielen Zwang und Verstellung verriethen; die Bedachtsamkeit der Uebrigen, nicht etwas vorzubringen, wodurch von neuem Oel ins Feuer könnte gegossen und der Groll der streitenden Mächte wieder erreget werden,[242] breitete über die ganze Versammlung ein gewisses steifes Wesen aus, das mir desto lächerlicher vorkam, je ungewöhnlicher es sonst bei derselben anzutreffen ist. Dieses veranlaßte mich, Ihr Schloß in das Escurial und uns alle in Grands voll Spanien zu verwandeln, ich wünschte nur noch, daß sich die Herren bedecken möchten. Es wurde von nichts als von Ahnen und Stammregistern gesprochen; lauter Dinge, die zu meiner Vorstellung überaus wohl paßten, und sie so lebhaft machten, daß wenig fehlte, daß ich nicht meinen Oncle Ihro Majestät genennt hätte. Doch da er hernach im Begriff war, einen seiner Vorfahren bei der Zerstöhrung Jerusalems Hand anlegen zu lassen, so verschwan den diese schönen Vorstellungen. Der Herr von H. der keinem Oncle einige Zweifel hierüber machte, zog meine Aufmerksamkeit auf sich; doch dieser wußte sie so geschickt aufzulösen, daß ihm der Herr v.H. Recht lassen mußte. Ich weiß selbst nicht, durch was für einen Zufall die Gespräche so geschwind wechselten, daß man von den Archiven der Ahnen in die Vorratskammer kam;[243] man sprach von der Oeconomie; es wurden fette und magere Jahre prophezeiet, die Speicher wurden angefüllt und ausgeleert, beiläufig wurde das Kapitel von Knechten und Mägden auch abgehandelt; alles, was sich von trägem Gesinde sagen läßt, das wurde angebracht. Eine solche Unterredung schickte sich nicht für die Großen eines Reichs, der Schauplatz hatte sich geändert, und es gefiel mir, ihn in die Schenke zu versetzen. Nun stellte ich mir die Herren als lauter ehrbare Männer aus der Gemeinde vor. Weil ich immer bemerkte, daß sie, ungeachtet der gleichgültigen Materie, davon gesprochen wurde, doch die gewöhnliche Vertraulichkeit diesmal bei Seite setzten: so kam mir das nicht anders vor, als wenn ich unsere Gerichtsschöppen und Nachbarn mit einander reden hörte. Diese sprechen nicht mehr vertraut mit einander, seit dem einer, der seinen Witz zur Unzeit über die schwarzen Frohnsemmeln ausgelassen, und von andern ist verrathen worden, hat in den Thurm kriechen müssen. Jeder sieht jetzo seinen Nachbar als[244] seinen Verräther an, wenn er ihm auch gleich eines zutrinket. Es ist Zeit, daß ich meinen Vergleichungen ein Ende mache, um Ihnen noch etwas wichtiges zu sagen das ich bis hieher versparet habe. Wissen Sie, daß mein Oncle auf den Major höchst eifersüchtig ist? Seine guten Grundsätze wollen nicht zulangen, ihn gegen diese Schwachheit zu schützen; ja ich befürchte schon, daß er ihnen eine Zeitlang Abschied geben wir, um den Major heraus zu fordern; jetzt ist die Reihe an ihm. Der Herr v.N. hatte sich eigentlich das Plätzgen auf dem Kanape beim Koffee ausersehen, das für meine Schwester bestimmt war. Er wachte Mine, davon Besitz zu nehmen, da ihm der Major zuvor kam und es hernach an meine Schwester überließ. Ich merkte, daß der alte Liebhaber sehr unzufrieden war, sich von dem jüngern verdrungen zu sehen. Er würde ihn auf eine freimüthige Art darüber zur Rede gesetzt haben, wenn ihn nicht der Baron zurückgehalten hätte. Das war nicht der einzige Verdruß, den er empfand, er wollte dem Major auch nicht die Ehre gönnen,[245] im Spiel mit Ihnen Moitié zu machen. Wenn er nur einiger maßen billig gesinnt wäre, so würde er daraus nichts machen, Sie ließen ihn ja an Ihrem Spiele gewissermaßen auch Antheil nehmen, daß Sie ihm erlaubten, Ihnen den Daumen zu halten. Schenken Sie mir einen Theil des Dankes, den Sie denen willig ertheilen, die es dahin gebracht haben, daß Sie jetzt über einen Freier lachen können, der Ihnen noch vor kurzer Zeit so furchtbar war. Denken Sie aber nicht, daß ich diesen Dank fordere, Sie daran zu erinnern, daß ich mich um Sie verdient gemacht habe, Sie würden sich sehr irren, wenn Sie dieses dächten. Ich verlange keinen andern Dank von Ihnen, als die Fortsetzung Ihrer Freundschaft und Gewogenheit gegen mich, diese giebt mir den schönsten Beweiß, daß Sie mich für die halten, die ich wirklich bin, für


Ihre

ergebenste Freundin und Dienerin

A.v.S.

Quelle:
Johann Karl August Musäus: Grandison der Zweite,Erster bis dritter Theil, Band 2, Eisenach 1761, S. 232-246.
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