Sechster Abschnitt

[215] Einsmal, nach dem Mittagsessen, verlangte Herr F. vom Sebaldus die ausführliche Erzählung seiner Schicksale. Als sie geendigt war, gingen sie, weil es einer von den schönen Herbsttagen war, die unter diesem Himmelsstriche oft den Sommertagen weit vorzuziehen sind, nach dem Weidendamme. Sebaldus war über die Schönheit dieses Spaziergangs entzückt. Mitten in einer bewohnten weitläufigen Stadt erblickte er eine große grünende Wiese, umkränzt mit Weiden, hoch und belaubt,[215] wie sonst nur Ulmen und Linden zu sein pflegen32; dieser ländlichen Szene gegenüber Gärten und Gartenhäuser, Werke der Kunst, ohne Pracht, aber anmutig, und zwischen beiden Aussichten den Spreestrom, von Schwänen bewohnt. Er genoß ganz das Vergnügen des reizenden Anblicks; er wollte es seinem Gesellschafter mitteilen, aber nun ward er erst gewahr, daß derselbe in tiefen Gedanken einherging und, anstatt auf seine Ausrufungen zu antworten, einigemal tief seufzte.

»Was fehlt Ihnen?« fragte ihn Sebaldus. »Sie scheinen ganz tiefsinnig zu sein.«

»Ihre Geschichte«, antwortete Herr F., »bringt mir das ganze finstere Gemälde der Intoleranz und der Priestergewalt lebhaft wieder zu Gemüte. Ich bin selbst ein Opfer derselben gewesen. Ich habe erfahren, was es heiße, seine gesunde Vernunft unter den Gehorsam vorgeschriebener symbolischer Bücher gefangenzunehmen; ich habe erfahren, welchen bequemen Vorwand solche Vorschriften herrschsüchtigen und eigennützigen Geistlichen darbieten, um ihre Absichten in der Stille auszuführen; ich habe erfahren, wie bitter der Haß ist, den sie augenblicklich gegen jeden erregen, den sie einer Abweichung zeihen können. Und das wird ihnen leicht, solange sie das Volk in der Meinung zu erhalten wissen, daß solche Vorschriften unwiderruflich feststehen bleiben müssen.«

Sebaldus war begierig, diese Geschichte zu hören, und Herr F. erzählte sie folgendermaßen:[216]

»Ich war in meinen jüngern Jahren dritter Diakon an der Kirche einer Stadt eines kleinen Fürstentums. Ich lebte vergnügt, ich hatte Freunde. Der Superintendent war ein ganz feiner Mann, auch nicht fremd in verschiedenen Arten der Gelehrsamkeit. Wir unterredeten uns oft von Verbesserung der Mängel der Religion, denn ob er gleich nichts dazu beizutragen Lust hatte, so mochte er doch gern unter vier Augen davon sprechen. Er freute sich, daß ich selbst dächte. Ich durfte ihm meine Zweifel vortragen; und da ich oft mit seinen Beantwortungen zufrieden war, gewann er mich lieb. Die Hauptneigung dieses alten Mannes war die Naturgeschichte, und zwar hauptsächlich die Nomenklatur und Klassifikation derselben, welches nun freilich eben nicht meine Neigung war. Er wollte mich belohnen, indem er mich zum Mitgliede einer Gesellschaft aufnehmen ließ, welche er mit dem Bürgermeister, dem Konrektor und dem Apotheker errichtet hatte. Diese sammelten Insekten, Vögel, Steine, Versteinerungen, Mineralien, tauschten mit benachbarten Liebhabern, brachten Kabinette zusammen, ordneten sie bald nach diesem, bald nach jenem Systeme, lasen sich lange Abhandlungen darüber vor, wozu der Superintendent die Theologie lieh und keinen Insektenflügel, keine Vogelklaue oder Quarzdruse ohne erbauliche Nutzanwendung ließ. Dies war alles ganz gut, nur für mich ein wenig langweilig. Ich fing also nach einiger Zeit an, seltener in die Gesellschaft zu kommen, und vermied, soviel ich konnte, auf die Insektenjagd zu gehen. Hierüber bekam ich einen Verweis vom Superintendenten, denn so freundschaftlich er war, hatte er doch den kleinen Fehler, daß er sich derer ganz bemächtigte, die er in Affektion genommen hatte. Er ordnete ihre Studien an, er bestellte ihr Hauswesen, er erdachte Vergnügungen für sie und hatte für alles weise Gründe[217] anzuführen, denen man nicht widersprechen durfte. Ich konnte mir also nicht merken lassen, daß Sammlereien und Klassifikationstabellen, wie er sie liebte, für mich sehr wenig Reiz hatten, sonderlich wenn dabei bloß die Augen und das Gedächtnis, keineswegs aber der Verstand beschäftigt ist. Hingegen mußte ich geduldig zuhören, wenn er mir als eine väterliche Weisung einprägte, daß Spekulation den Geist nicht bessere, daß man bei tiefsinnigen Untersuchungen über Raum und Zeit ein Deist bleiben könne, daß hingegen durch Walpurgers ›Kosmotheologische Betrachtungen‹33 schon mancher Freigeist bekehret worden sei. Er stichelte mit solchen Worten zugleich auf den Umgang, den ich mit einem jungen Offizier angefangen hatte, einem Jünglinge von guten Gaben und guten Gesinnungen, der, obgleich ein wackerer Soldat, gleichwohl die Wissenschaften liebte und sich, gleich mir, gern mit philosophischen und moralischen Untersuchungen beschäftigte. Dieser Umgang hatte auf keine Weise den Beifall des Superintendenten; denn weil ihm ein sehr hoher Begriff von der Würde des geistlichen Standes beiwohnte, so wollte er, daß ein Geistlicher nur mit seinen Amtsbrüdern oder mit andern alten ernsthaften, angesehenen Männern umgehen sollte. Er verlangte, jeder Schritt eines Geistlichen solle verraten, daß er zu den Lehrern des menschlichen Geschlechts gehöre; er verlangte, daß er vor allem vermeiden solle, sich auf irgendeine Art zu kompromittieren; daß er sich beständig bedächtig anstellen und sogar auf der Straße langsamer gehen solle als die Laien. Ich war freilich anderer Meinung. Ich bildete mir ein, es wäre sehr nützlich, wenn ein Geistlicher sich im Umgange nicht auf Personen seines Standes[218] einschränke, sondern auch öfters mit Weltleuten umginge; ich glaubte, er würde dadurch ein gewisses steifes Wesen ablegen, das man von der Universität und aus dem Kandidatenstande mitbringt; er würde, wenn er die mannigfaltigen Einsichten und Verdienste von Personen anderer Stände oft vor Augen hätte, sich den Lehrerton abgewöhnen, der bei verständigen Leuten den Prediger nie ehrwürdiger macht, oft aber wohl zur Zurückhaltung und zum Kaltsinne Anlaß gibt; er würde, wenn er sich der Sitten, der Beschäftigungen, der Vergnügungen anderer Menschen nicht schämte, weit eher ihr Zutrauen erhalten, würde sie genauer kennen und folglich auch ihren Gemütszustand besser beurteilen lernen, als wenn er bloß mit Leuten umginge, die mit ihm aus ebendem steifen Kompendium der theologischen Moral räsonieren, worin nicht selten Dinge als ausgemachte Wahrheiten behauptet werden, die oft ein einziger Blick in die Natur des Menschen und in den Lauf der Welt widerlegt.

Dies waren die Vorteile, die ich mir von der Freundschaft mit dem jungen Offiziere versprach und von den ausgesuchten Gesellschaften, in die er mich zuweilen führte. Indessen brachte dieser mein sogenannter weltlicher Umgang mir bei dem Superintendenten großen Nachteil. Sowie ich den Zirkel überschritt, den er mir angewiesen hatte, ward er gegen mich kälter und feierlicher, und sowenig er sich gegen mich deutlich erklärte, konnte ich doch merken, daß seine Zuneignug abgenommen hatte.

Mein Unstern trieb mich endlich, ein Buch zu schreiben, worin ich mich über gewisse dogmatische und moralische Materien freimütig erklärte, worüber ich lange und reiflich nachgedacht hatte. Dies machte im Städtchen Aufsehen. Weder der Superintendent noch[219] meine übrigen Kollegen nebst ihren Vorfahren seit drei Generationen hatten jemal ein Buch geschrieben. Man hielt mich also für naseweis, daß ich, der jüngste Diakon, hierin eine Neuerung machte. Selbst der Superintendent billigte diesen Schritt nicht, besonders war ihm die dreiste Art sehr mißfällig, womit ich verjährte Vorurteile angegriffen hatte. Vergebens erinnerte ich ihn, daß dieses zum Teile ebendie Sätze wären, die ich aus seinem eigenen Munde gehört hatte und über deren Richtigkeit wir in unsern Unterredungen übereingekommen wären.

›Das war ganz etwas anders‹, versetzte er etwas erhitzt. ›Dergleichen Sachen kann man wohl unter vier Augen untersuchen, aber man muß sie nicht öffentlich sagen. Und Sie am wenigsten, als ein Prediger, hätten sich hierüber so positiv erklären sollen. Wir müssen uns dem Urteile des gemeinen Haufens nicht bloßstellen; er erschrickt über ungewohnte Wahrheiten, und wir verlieren das Zutrauen, das wir zu seiner Besserung anwenden könnten. Wenn ein Prediger Zweifel über dogmatische Sätze hat, so ist's am besten, daß er sie ganz verschweige; aufs höchste kann er lateinisch darüber schreiben, für gelehrte Theologen, die davon so viel in die Welt können kommen lassen, als sie nötig finden.‹

Vergebens stellte ich ihm vor, wie nötig es sei, den großen Haufen über gewisse Wahrheiten zu belehren; vergebens bemerkte ich, daß viele Zweifel deshalb nicht unbekannt blieben, wenn auch die Gottesgelehrten davon schwiegen, indem sie den sogenannten Weltleuten aus andern Büchern und durch Unterhaltungen mit denkenden Köpfen schon längst bekannt und ebendarum näher beleuchtet und erörtert werden müßten, damit ihre Wirkung nicht noch nachteiliger werden möge. Ich[220] ging noch weiter; ich wollte ihm zeigen, daß ich aus nötiger Klugheit noch verschiedene Gedanken verschwiegen hätte, die ich öffentlich bekanntzumachen noch nicht für ratsam hielte. Ich entdeckte ihm einige, sie gefielen ihm nicht, er wollte mich widerlegen, ich suchte mich zu verteidigen, und was das schlimmste war, ich hatte recht. Er ward hitzig, nahm ein saures Amtsgesicht an, tat einen Machtspruch und brach das Gespräch ab.

Der gute alte Mann sah es zwar ganz gern, wenn andere insoweit frei dachten, als er sich selbst das Ziel gesteckt hatte; aber denjenigen, der nur einen Schritt weiter gehen wollte, verachtete und haßte er noch mehr als den, der alles beim alten ließ. Er hat es mir nachher nie vergeben, daß ich hatte weiter sehen wollen als er. Nun war ferner auf keine Freundschaft mit ihm zu rechnen. Er mißbilligte öffentlich mein Buch, um sich zugleich selbst desto kräftiger vor dem Verdacht der Heterodoxie zu sichern, und machte dadurch meinen Kollegen mehr Mut, die schon längst den jungen gelehrten Diakon mit scheelen Augen angesehen hatten. Man vermied mich, man lud mich ferner nicht zu den gewöhnlichen Zusammenkünften ein, und ich blieb ganz einzeln mit meinem Freunde, dem Offiziere.

Ich hatte nur ein sehr kümmerliches Auskommen. Man weiß, wie schlecht überhaupt die festgesetzte Geldeinnahme der Prediger ist. Ihr hauptsächlicher Unterhalt beruht auf zufälligen Einkünften, besonders auf dem Beichtgelde. Zu der Zeit, da die Laien glaubten, daß sie bloß von dem Priester durch Beichte und Absolution die Vergebung der Sünden erhalten könnten, wendeten sie auf eine so nötige Ware freilich schon ein Erkleckliches. Nachdem man ihnen aber in Schriften und von den Kanzeln so nachdrücklich eingeprägt hat, ohne wahre Besserung des Herzens habe die Absolution gar[221] keine Kraft, so merkt die große Menge, welche nie willens gewesen ist, sich zu bessern, daß sie ihr Geld für eine leere Zeremonie ausgebe, und verlangt also die Absolution viel seltner und bezahlt sie viel kärglicher. Da nun folglich hierauf wenig mehr zu rechnen war, so konnten wohlgesinnte gelehrte Prediger, die nur ihre Pflichten zu erfüllen suchten, ganz ruhig darben; aber ökonomische Prediger, die ihr Amt als eine Art von Pachtung betrachteten, welche aufs beste zu benutzen wäre, sahen sich zu einer ganz andern Art von Industrie genötigt. Sie gingen in die Häuser, machten sich ihren Pfarrkindern notwendig, erkundigten sich nach ihrem Hauswesen, erforschten ihre Zwistigkeiten, um sie zu schlichten, und gewannen durch fromme Unterredungen das Zutrauen der reichen Bürgerweiber. Da nun die Kirchkinder merkten, daß der Pfarrer etwas fürs Geld tat, so bezahlten sie ihn auch reichlicher, der gelegentlichen Braten, Kuchen, Zuckerhüte, Magenmorsellen und anderer Geschenke nicht zu gedenken. Ohne dergleichen Priesterkünste wird ein ehrenfester Bürgerssohn, der im geistlichen Stande nur ein gemächliches Leben sucht und sonst als ein Pächter oder als ein Krämer auch sein gutes Auskommen hätte haben können, es schwerlich der Mühe wert finden, ein Prediger zu sein. Meine Kollegen übten diese Künste in ihrem ganzen Umfange aus und hatten auch vollkommen Muße dazu, weil sie weder durch Studieren noch durch Nachdenken davon abgehalten wurden – Dinge, womit ich die meiste Zeit zubrachte, die mir von meinen ordentlichen Amtsgeschäften übrigblieb.

Ich würde den drückenden Mangel noch gern ertragen haben, weil ich mich von Jugend auf gewöhnt hatte, wenig zu bedürfen. Aber ich hatte mich in ein junges, schönes und verständiges Frauenzimmer verliebt, die[222] nicht das geringste Vermögen besaß. Die größte Glückseligkeit meines Lebens hing von dieser Verbindung ab, welche bei meinem geringen Einkommen unmöglich schien. Bloß um dies Hindernis zu heben, wünschte ich eine Verbesserung meiner Umstände, aber mit dem Verluste der Freundschaft des Superintendenten war alle Hoffnung dazu in meiner jetzigen Lage verschwunden. Ich hätte mir nicht zu raten gewußt, wenn mir nicht mein Freund, der junge Offizier, eine einträgliche Pfarre in einem benachbarten Fürstentume verschafft hätte.

Ich nahm sie ohne Bedenken an. Während des Gnadenjahres heiratete ich meine Braut und träumte von weiter nichts als von Glück und Vergnügen, indes an dem Orte meines künftigen Aufenthaltes sich ein Wetter wider mich zusammenzog. Ein anderer Prediger hatte sich große Hoffnung zu meiner Stelle gemacht und konnte mir nicht verzeihen, daß alle seine Bewerbungen fruchtlos gewesen waren. Er breitete gräßliche Gerüchte von meiner Heterodoxie aus und berief sich auf mein gedrucktes Buch, wo sie schwarz auf weiß zu lesen stände. Die Schneider und die Schornsteinfeger in meiner Diözese lasen eine philosophische Abhandlung, die nicht für sie geschrieben war, und fanden Ketzerei über Ketzerei darin.

Als ich also mein Amt antreten wollte, fand ich meine ganze Gemeinde wider mich eingenommen; die Leute auf der Gasse gafften mich als ein Wundertier an und drängten sich vor mein Haus, um den neuangekommenen Ketzer zu sehen. Zugleich erfuhr ich alsdann erst, daß in diesem Fürstentume ein paar symbolische Bücher mehr als in jenem andern müßten beschworen werden und daß die Prediger in dieser Stadt sich auf eine besondere Formulam committendi voll abgeschmackter Schuldistinktionen müßten verpflichten lassen, in[223] welche noch (weil mein Gegner bei Leuten von Ansehen ebensowenig müßig gewesen war als bei dem Pöbel) wider meine besondere Ketzereien drei spitzfindige und verfängliche Klauseln wären einverleibt worden, die ich zu unterschreiben hätte, ehe ich mein Amt anträte.

Ich war wie vom Blitze gerührt. Es war sehr hart, etwas zu beschwören und zu unterschreiben, das ich nicht glaubte; und gleichwohl, wenn ich es nicht tat, brachte ich mich selbst an den Bettelstab und stürzte meine Frau ins äußerste Elend, die seit einigen Monaten schwanger war und die ich wie meine Seele liebte.

Mein Entschluß mußte kurz gefaßt werden, denn man hielt auf mich, ob ich mich weigern würde. Ich war in der ängstlichsten Verlegenheit, welche ich aus Zärtlichkeit meiner geliebten Gattin zu verbergen suchte. Ich ging den folgenden Morgen mit Aufgange der Sonne zum Tore hinaus, um meinen Gedanken nachzuhängen, und folgte der Landstraße, die mich an einen Wald führte. In demselben hatte ich eine Zeitlang herumgeirret, als mir unvermutet ein hagerer, blasser Mensch entgegenlief, dem die Verzweiflung an der Stirn geschrieben war. Er hielt mir einen starken Knüttel vors Gesicht und forderte mit einem schrecklichen Fluche mein Geld oder mein Leben. Ich war erschrocken und wehrlos, gab ihm also meinen Beutel, der, von einigen Talern kleiner Münze schwer, mehr wert schien, als er es war. Der Räuber sah ihn starr an und rief: ›Nein! Das ist zuviel!‹ Er band den Beutel auf, wollte etwas herausnehmen, aber die Hand zitterte ihm. Er warf den Knüttel weg, fiel vor mir auf die Knie, hielt mir den Beutel vor und schrie laut:

›Ich kann nicht! Ich kann nicht! Nein, lieber Herr, ich bin kein Straßenräuber! Ich bin ein unglücklicher Vater.[224]

Geben Sie mir selbst nur so viel, daß meine Frau und meine armen Kinder nicht noch heute Hungers sterben!‹

Ich rief voll Entsetzen: ›Nimm, Freund! Ich bin arm, aber nicht so arm als du!‹ Indem hörte ich in der Nähe einen weiblichen Schrei. Eine Frau mit einem vierteljährigen Kinde im Mantel schleppte sich zu uns, drei kleine Kinder in Lumpen folgten ihr. ›Mann! Was willst du machen!‹ schrie sie und sank halb tot zu meinen Füßen.

›Dich und deine Kinder nicht vor meinen Augen verschmachten sehen!‹ rief er mit wildem Tone.

Ich suchte diese Leute zu besänftigen. Ich setzte mich zu ihnen nieder, fragte, wie sie hieherkämen und was dies alles bedeuten solle.

›Lieber Herr‹, sagte der Mann, nachdem er ein wenig Atem geschöpft hatte, ›ich bin ein Baumwollenweber. Ich wohnte in einem Flecken in Böhmen und hatte sonst mein gutes Auskommen, aber unser Gutsherr war ein harter Mann; er wollte uns nicht Gott nach unserm Glauben dienen lassen, wir sollten in die Messe gehen, und wir hielten dies wider unser Gewissen. Ich will mich aufmachen, sagte ich, und in ein protestantisches Land gehen, wo ich Gewissensfreiheit habe. Ich flüchtete; ich kam bis in eine Stadt einige Meilen von hier, ich ward wohl aufgenommen und konnte frei in die Kirche gehen. Doch es ist nicht genug, in die Kirche zu gehen, man muß auch Frau und Kinder ernähren. Ich fing also an, mit Mühe einen Stuhl zurechtzubringen, und webte Kotonade. Dieses Zeug war dort bisher noch unbekannt gewesen, es fand viele Käufer, sobald es bekannt wurde. Plötzlich ward ich auf das Rathaus gerufen und bekam Befehl, meine Arbeit einzustellen. Ich fragte erstaunt: Weswegen? – Weil Ihr ein Pfuscher seid, rief der Altmeister der Raschmacher, welches die stärkste Zunft in[225] der Stadt ist, weil Ihr keinen Lehrbrief vorzeigen könnt und weil Ihr kein Meisterstück gemacht habt. – In Böhmen, erwiderte ich, gibt man keine Lehrbriefe, sondern es kann weben, wer will und was er will; und was das Meisterstück anbetrifft, so seht meine Ware an, ob sie nicht so gut ist als irgend Kotonade sein kann. Ebendieses Zeug sollt Ihr gar nicht machen; es ist verboten, sagte ein Ratsherr sehr ernsthaft. – Weswegen? sagte ich, noch mehr erstaunt. – Weil es nicht der Vorschrift gemäß ist, weil es der Grundverfassung der Stadt zuwider sein würde. Schon vor langen Jahren haben die Gewerke Streit miteinander gehabt, und da ist durch ein Gesetz festgesetzt worden, was für Zeuge und wer sie machen soll: die Leinweber Leinwand, die Tuchmacher Tuch und die Raschmacher Rasch. – Aber, lieber Gott, rief ich, was kann ich dafür, daß derjenige, der das Gesetz machte, alle möglichen Zeuge in Leinwand, Tuch und Rasch abteilte und nicht daran dachte, es könne auch Zeug in der Welt geben, das aus Leinen und Baumwolle gewebt wird. – Kurzum, hieß es, Euer Gesuch ist wider alle gute Polizei, laßt ab, das neue Zeug zu machen, das wir nicht dulden wollen, oder man wird Euch Ernst weisen.

Ich mußte aber fortarbeiten, wenn ich leben wollte; und so kamen des andern Tages die Altmeister, schlugen meinen Stuhl auseinander und brachten ihn mit allem meinem Werkzeuge aufs Rathaus. – Ich schrie über Gewalt. – Hat man Euch nicht genug gewarnt? sagte der Ratsherr frostig. – Aber, lieber Gott! Ich muß ja Hungers sterben, wenn ich nicht arbeiten soll. – Wer sagt denn, sprach der Ratsherr mit weiser Miene, daß Ihr nicht arbeiten sollt? Ihr sollt nur nicht solches Zeug machen, das wir hier bei uns nicht leiden wollen; es sind ja sonst Handwerke genug. – Aber, lieber Herr, sagte[226] ich, die werden auch zünftig sein und werden mich nicht aufnehmen, und denn habe ich einmal nichts anders gelernt als Kotonade weben. – Ich merke wohl, Ihr seid widerspenstig; seht zu, ob man Euch sonstwo dulden will, bei uns werden wir Euretwegen die Gesetze nicht ändern. – Dies war mein Abschied.

Ich mußte also mit meiner Familie fort. Gestern abend kamen wir bei der benachbarten Stadt an, wo man uns nicht einlassen wollte, weil wir keinen Paß hatten. Ich besaß keinen Heller mehr, wir alle hatten den ganzen Tag nichts gegessen. Wir mußten in diesem Walde unter einem Baume bleiben, die Kinder schrien bis nach Mitternacht um Brot. Ich war außer mir, daß ich ihnen nichts geben konnte. Nach ein paar Stunden unruhigen Schlummers erwachte ich vor Sonnenaufgange; ich betrachtete meine unglückliche Frau und Kinder und sah sie voll Entsetzen alle in diesem Walde verschmachten. Ich erblickte von fern einen einzelnen wohlgekleideten Menschen. Die Verzweiflung gab mir einen bösen Rat. – Ich stutzte einen Augenblick beim ersten Schritte; aber der Anblick meiner schmachtenden Kinder brachte mich aufs neue in Wut. – Und wenn er sich wehrt und deiner mächtig wird? dacht ich. – Ei nun, so mag man mich gefangennehmen; aber dann wird man doch meine Frau und Kinder im Spitale versorgen müssen. Ich stürzte wie ein Unsinniger auf Sie zu. Aber Sie wehrten sich nicht, Sie gaben mir ruhig, und mehr, als ich für die jetzige Not brauchte. War's nicht abscheulich, den Mann zu berauben, der mir gutwillig würde gegeben haben? Ich bin in Ihren Händen, machen Sie mit mir, was Sie wollen, aber retten Sie meine unglückliche Frau und Kinder!‹

Ich war äußerst gerührt. Ich ließ den unglücklichen Leuten, was im Beutel war, und eilte fort, um mich ihrem Danke zu entziehen.[227]

Mein Gott, dachte ich, dieser arme Mann leidet auch, weil die Vorfahren ein Symbolum für die Weber erdacht und alle Zeuge, die man weben soll, auf Tuch, Rasch und Leinwand eingeschränkt haben! Und dieser übelverstandnen Formalie wegen sollen seine vier armen Kinder Hungers sterben? Er ist in Verzweiflung geraten. Natürlich! Das zahmste Tier wird wütend, wenn es seine Jungen darben sieht! – Und ich, der ich auch Vater bin, soll ich mich in Gefahr setzen, die Meinigen darben zu sehen? Oder soll ich ... ja, ich will unterschreiben, was man fordert. Die Erhaltung meiner selbst und der Meinigen ist die erste Pflicht, der alle andern weichen müssen, die damit in Kollision kommen. Kann ich den Lauf der Welt ändern? Die Könige und die Priester haben den Erdkreis unter sich geteilt, so daß nichts mehr übrig ist. Auf dem Flecke, auf dem ich atme, regiert jemand; wohin ich mich wenden könnte, wird ein anderer regieren. Sowenig ich für mich unabhängig bestehen, ohne Regenten sein oder mir Regenten und Regierungsform nach meinem Gefallen einrichten kann, ebensowenig kann ich für mich allein, mit meiner besondern Religion leben. Jede Religionspartei, die Gewalt hatte, zog einen Zaun um sich; habe ich nicht ihr Schibboleth, so heißt es noch Menschenliebe, wenn sie mich bloß ausstößt. Ich kann ihretwegen in die ganze weite Welt laufen; aber wohin ich trete, bin ich im Zaune einer andern, die mich wieder ausstößt. Wohl denn! Ich will bleiben, wo ich bin, und dulden, was ich nicht ändern kann.

Mit diesen Gedanken kehrte ich zurück, unterschrieb, ohne die Augen aufzutun, und trat mein Amt an. Meine Pfarrkinder, die mich predigen und Beichte sitzen und Kranke trösten sahen so wie meine Vorfahren, wurden bald mit mir versöhnt und wunderten sich selbst, wie sie mich für einen so garstigen Ketzer hätten halten[228] können. Aber nicht so meine Gegner, welche, ob sie gleich vorderhand stillschwiegen, nur auf eine Gelegenheit lauerten, mir den empfindlichsten Stoß zu versetzen. Ich gab sie ihnen selbst an die Hand, durch einige Abhandlungen ohne meinen Namen, die ich in ein Wochenblatt einrücken ließ. Mein Superintendent entdeckte bald, daß weder die Rechtfertigung noch die Wiedergeburt, noch die Erbsünde, noch der tätige Gehorsam, noch die Homousie an der Stelle standen, wohin er sie gesetzt wissen wollte. Ich wurde vor eine meinetwegen niedergesetzte Kommission zitiert. Man begegnete mir im voraus als einem teuflischen Ketzer, man verlangte Erklärung mit Ja oder Nein, ob ich den symbolischen Büchern, quia, beifiele oder nicht. Ich verteidigte mich und brachte die Kommissarien noch mehr in Harnisch, denn sie hatten einen bloßen Widerruf und Abbitte von mir erwartet. Kurz, meine Absetzung war vorher schon unwiderruflich beschlossen, und ich hätte vielleicht mein Leben als ein Übeltäter in einem Kerker endigen oder mein Brot erbetteln müssen, wenn nicht mein edelmütiger Freund, der junge Offizier, sich abermals meiner angenommen und mir eine Hofmeisterstelle bei einem jungen Reichsgrafen verschafft hätte. Ich bin mit meinem Grafen durch ganz Europa gereiset. Ich habe gesehen, daß allenthalben, sogar in dem aufgeklärten Großbritannien, Aberglauben und Priestergewalt sich der Erleuchtung des menschlichen Geschlechts mit unüberwindlicher Macht entgegensetzen, daß allenthalben Dummköpfe, die eingeführten Lehren und Gebräuchen folgen, laut sprechen und herrschen und daß weise Leute, welche Mißbräuche einsehen und ihnen abhelfen könnten, nicht laut sprechen wollen oder dürfen. Nachdem mein Graf volljährig geworden, bin ich nun ganz unabhängig und danke Gott, mich in einer Lage zu finden,[229] in der ich meine Gedanken nicht ferner verhehlen noch meine Ausdrücke auf Schrauben setzen darf.«

»Jawohl«, sagte Sebaldus, »das ist die große Glückseligkeit, die man in Berlin genießet. Hier ist das wahre Land der Freiheit, wo jedermann seine Gedanken sagen darf, wo man niemand verketzert, wo christliche Liebe und Erleuchtung in gleichem Maße herrschen.«

»Ei! Sie haben ja von Berlin eine sehr gute Meinung«, sagte Herr F. lächelnd. »Freilich, wer so wie Sie und ich kein Amt sucht und nicht von der Meinung des Publikums abhangen darf, kann in Berlin denken und sagen, was er will; mit demjenigen aber, dem es nicht so ganz gleichgültig ist, wie man seine Religionsmeinungen beurteilt, ist es eine ganz andere Sache. Die Regierung begünstigt die Freiheit zu denken, besonders in Religionssachen; wir haben auch einige sehr würdige Geistliche, welche nicht Untersuchungen wichtiger Wahrheiten zu Ketzerei machen; aber das Publikum ist nicht völlig so tolerant. Die Einwohner von Berlin sind sowenig als die Einwohner irgendeiner andern Stadt geneigt, Neuerungen in der Lehre zu begünstigen.«

»Das sollte ich kaum denken, wenigstens stehen sie auswärts in einem ganz andern Rufe. Man glaubt vielmehr, Berlin sei voll von Atheisten, Deisten, Naturalisten und wer weiß von was für – isten mehr. Man glaubt, jeder dürfe sich daselbst in Religionssachen erlauben, was er wolle. Ich selbst, ob ich gleich nicht lange in Berlin bin, habe zuweilen zufälligerweise Reden gehört, die man an vielen andern Orten nicht so frei hätte führen dürfen, ohne öffentliche Ahndung zu befürchten.«

»Nein! Öffentliche Ahndung hier freilich nicht. Unsere Regierung hat schon seit langen Jahren klüglich eingesehen, daß man die Meinungen der Menschen von Religionssachen deshalb nicht bessert, wenn man sie einschränkt[230] und ahndet, sondern daß man vielmehr dadurch jede Torheit eines Eiferers oder Schwärmers zu einer wichtigen Sache macht. Sie verfolgt niemand wegen Meinungen, weshalb auch gute und schlechte Meinungen in Berlin überhaupt nicht so viel Aufsehen machen als an andern Orten. Daher kommt es, daß in dieser Hinsicht die Menschen sich hier mehr so zeigen, wie sie sind, und daß es der Heuchler weniger gibt. Sie können in Berlin vielleicht unter spekulativen Gelehrten einige gefunden haben, welche die Offenbarung für unnötig halten, und unter lockern Weltleuten auch wohl viele, die alle Religion verachten. Aber Leute von solchen Grundsätzen werden Sie unter Gelehrten und unter Weltleuten allenthalben, obgleich nur verborgen, finden. Allein auch in Berlin machen sie gewiß verhältnismäßig eine geringe Anzahl aus, wenigstens wer solche Meinungen an sich merken läßt, wird deswegen weder hochgeschätzt noch geliebt. Der berlinische Pöbel ist noch ebenso beschaffen als der, welcher im Jahre 1747, nachdem er Süßmilchs erbauliche Predigt wider die Freigeister gehört hatte, dem bekannten Edelmann die Fenster einwarf. Und den Pöbel ungerechnet, sind auch unsere gute berlinische Bürger überhaupt zu nichts weniger als zu so freien Meinungen geneigt. Ich wollte wohl Bürge für sie sein, daß sie auch nicht die geringste Heterodoxie verschlucken würden, sie müßten sie denn etwa mit gutem Herzen für Orthodoxie halten.«

»Das dächte ich doch nicht. Sie müssen neuen Meinungen nicht ganz abgeneigt sein; wenigstens haben die Versuche, durch Gebrauch der Vernunft die Vorurteile in der Religion wegzuräumen, bisher noch in Berlin den größten Beifall erhalten.«

»Ja, vergleichungsweise, weil sie an vielen andern Orten ganz und gar nicht geduldet werden. Aber wenige[231] Schriftsteller und ihre wenigen Freunde verlieren sich unter den vielen tausend Einwohnern. Wenn diese je von der Dogmatik abgehen oder irgendworin über die Schnur hauen sollten, so möchte es gewiß minder von der Seite der Vernunft als von der Seite der erhitzten Einbildungskraft34 geschehen. Seit dem Anfange dieses Jahrhunderts hatten wir Inspirierte, welche weissagten und Wunder taten, und haben noch einige dergleichen. Keine große Stadt in Deutschland hat so viel Schwärmer gehabt als Berlin; und jetzt, wenn ich doch den allgemeinen Charakter der Bürger von Berlin mit einem Worte bezeichnen sollte, so würde ich eher sagen, sie wären pietistisch als heterodox.«

»Pietistisch?« rief Sebaldus voll Erstaunen. »Die Bürger von Berlin pietistisch!«

»Ja, ja!« versetzte Herr F. »Pietistisch oder orthodox von der pietistischen Seite; denn Sie wissen, es sind noch nicht fünfzig Jahre, daß große Streitigkeiten zwischen der orthodoxen Orthodoxie und zwischen der pietistischen Orthodoxie geführet wurden, und zu der letztern hat sich ein großer Teil der Einwohner von Berlin schon damals und in der Folge geneigt. Woher wäre sonst der große Beifall entstanden, den nebst Leuten wie Spener und Schade auch Fuhrmann, Schulz, Woltersdorf und andere nacheinander gehabt haben?«

»Sie reden von vergangenen Zeiten, seitdem aber hat sich wohl in Berlin vieles gar sehr abgeändert.«[232]

»In gedruckten Schriften ist die Veränderung geschwinder und allgemeiner gewesen als in den Gemütern der Einwohner. Diese sind in Absicht auf Religionsgesinnungen noch beinahe ebendas, was sie vor vierzig Jahren waren. Ich habe sogar bemerkt, daß sich ihre dogmatischen Gesinnungen nach den Gegenden der Stadt, wo sie wohnen, modifizieren. In der alten guten Stadt Berlin findet man noch alte Gewohnheiten und auch alte Dogmatik.

Die Pfarrkinder der uralten Pfarrkirche zu Sankt Nikolai, am Molkenmarkte und in der Stralauer Straße bis zur Paddengasse hinauf halten am meisten auf reine Orthodoxie. Ich versichere Sie, daß daselbst noch ehrenfeste Bürger über Erbsünde und Wiedergeburt disputieren, desgleichen haben die Gärtner und Viehmäster in den berlinischen Vorstädten noch alle löbliche Anlage, auf einen Ketzer mit Fäusten loszuschlagen. In Kölln, in der Gegend des Schlosses, möchten noch am ersten die Freigeister anzutreffen sein. In dieser Gegend schrieb der Propst Reinbeck im Haudenschen Buchladen auf der Schloßfreiheit seine ›Betrachtungen über die Augspurgische Konfession‹, welche zuerst in den Damm, welchen Eifer und verjährtes Vorurteil gegen die menschliche Vernunft für die Orthodoxie aufgeworfen hatten, ein kleines Loch machten, das hernach so sehr erweitert worden ist. Die Nachbarschaft des Hofes trägt auch wohl etwas bei, daß die Leute hier freier denken. Man komme aber nur in die bürgerlichen Gegenden der Fischerstraße und Lappstraße, und man wird die Neigung für die Orthodoxie viel stärker finden; ja ich vermute, daß sie bei den Gerbern, Pergamentmachern und Seifensiedern in Neukölln bis zum Eifer steigt. In den dumpfigen Gassen des Werders wohnen die Separatisten, welche Gott einsam dienen; in den höher gelegenen die[233] stillen Gichtelianer35, die ruhige Beschaulichkeit lieben und unerkannt wohltun. Schon um die Gegend der Hospitalkirche zu Sankt Gertraud zeigen sich die Herrnhuter; und weiterhin, in den folgenden breiten und hellen Straßen der Friedrichsstadt, fangen auch die Religionsgesinnungen der Einwohner immer mehr an, luftiger und geistiger zu werden. Pietisten, die in Gefühlen und innigen Empfindungen ihre Religion suchen, und Schwärmer von allen Gattungen finden sich hier, so daß der innere Trieb der Raschmacher und Wollkämmer oft in Erbauungsstunden und Weissagungen ausbricht. Die Dorotheenstadt wird zum Teile von Reformierten und Franzosen bewohnt. Jedoch in allen Gegenden der Stadt ist eine andere Gattung Leute verbreitet, die ich oft in Gesellschaften angetroffen habe, denen man es anmerkt, daß sie niemals weder Orthodoxie noch Heterodoxie untersucht haben, bei denen es hingegen feststeht, daß alles darin bleiben soll, wie es war. Es gibt unter ihnen sogar deliierte Weltleute, welche scherzen, Karten spielen, mit Frauenzimmern tändeln und doch die Nase rümpfen können, wenn sich die geringste Ketzerei spüren läßt.«

»Dies sollte mir herzlich leid tun«, sagte Sebaldus, »denn wenn solcher Leute in Berlin viele sind, so kömmt mir Ihre Nachricht nur allzu glaubwürdig vor, daß hier die Erleuchtung und die Freiheit zu denken noch nicht so groß ist, als ich mir vorgestellt habe. Ich fand immer, daß diejenigen, die aus Trägheit und Nachlässigkeit die Wahrheit nicht suchen wollen, die Selbstdenker am meisten[234] hassen, weil sie sich sonst ihrer Trägheit und Nachlässigkeit schämen müßten. Immer ist mir aber selbst derjenige viel ehrwürdiger gewesen, der durch Liebe zur Untersuchung der Wahrheit auf Irrtümer verfällt, als derjenige, der sie gar nicht untersuchen mag.«

»In diesen Gesinnungen«, antwortete Herr F., »werden viele Einwohner Berlins nicht mit Ihnen übereinstimmen, und vielleicht nicht einmal alle berlinische Geistliche.«

32

Im Jahre 1772 ist ein Teil dieser Wiese bebauet worden, aber wenigstens ein kleiner Teil der schönen Weidenbäume sind glücklicherweise stehengeblieben, von denen der Naturkundige Schreber sagt, daß er sie von solcher Höhe und Schönheit auf seinen Reisen noch nirgend gesehen habe.

33

Ein Buch in vier dicken Quartbänden.

34

Berlin ist vielleicht die einzige Stadt in der Welt, wo man auf den Einfall geraten ist, in Versen zu predigen. Verschiedene Prediger versuchten dies zu verschiedenen Zeiten mit Beifall der Zuhörer, bis endlich durch einen ausdrücklichen Befehl des Oberkonsistoriums das Predigen in Versen verboten ward.

35

Diese harmlose Religionspartei unterscheidet sich rühmlich durch sehr ansehnliche Almosen (zuweilen von einigen tausend Talern), die sie gibt, und zwar mehrenteils so unbekannterweise, daß man die Geber nur mutmaßen kann.

Quelle:
Friedrich Nicolai: Leben und Meinungen des Herrn Sebaldus Nothanker, Berlin 1960, S. 215-235.
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Bunte Steine. Ein Festgeschenk 1852

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Noch in der Berufungsphase zum Schulrat veröffentlicht Stifter 1853 seine Sammlung von sechs Erzählungen »Bunte Steine«. In der berühmten Vorrede bekennt er, Dichtung sei für ihn nach der Religion das Höchste auf Erden. Das sanfte Gesetz des natürlichen Lebens schwebt über der idyllischen Welt seiner Erzählungen, in denen überraschende Gefahren und ausweglose Situationen lauern, denen nur durch das sittlich Notwendige zu entkommen ist.

230 Seiten, 9.60 Euro

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Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

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