30. Am Sontage Misericordias Domini

[224] 1. Petr. 2.


Auff den 91. Psalm

Wer in deß Allerhöchsten Hut.


Bedenckt, ihr Brüder, jederzeit

In euren rechten Hertzen,

Worzu ihr wol beruffen seyd;

Ertraget Noth und Schmertzen,

Seht, wie doch Christus in der Welt

Hat für uns leyden wollen,

Sich als ein Fürbild dargestellt,

Daß wir ihm folgen sollen.


Bey ihm hat kein Betrug und Schuld,

Kein falsches Wort gegolten;

Er schweig und litte mit Gedult,

Im Fall er ward gescholten;

Ließ man ihm weder Rast noch Ruh,

So dreut er doch mit nichten,

Gab aber dem die Rache zu,

Der einig recht kan richten.


Der schweren Sünden Last und Schuld,

Hat er für uns getragen,

Hat seinen Leib aus grosser Huld

An's Creutze lassen schlagen.

Nun haben wir Gerechtigkeit

Für unsre Schuld gefunden,

Sind selig noch bey Lebenszeit

Und Heil durch seine Wunden.


Ihr waret wie der Schaffe Schar,

Die irrend umb muß lauffen,

Steht augenblicklich in Gefahr

Für wilder Thiere Hauffen,

Eilt müde, krafftloß und beschwert

Durch Berge, Püsch' und Hölen,

Nun seyd ihr frey, seyd gantz bekehrt

Zum Hirten eurer Seelen.

Quelle:
Martin Opitz: Weltliche und geistliche Dichtung, Berlin und Stuttgart [1889], S. 224.
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