Assoziation für Alle!

[59] »Jeder für sich!« Das war der verderbliche, unmenschliche und unchristliche Grundsatz, der lange Zeit die Gesellschaft regierte – sie bis auf den heutigen Tag noch beherrscht und an den Rand des Verderbens gebracht hat. Wer aber einmal an dem Abgrund steht und ihn vor sich sieht, der wird sich wohl hüten, sich selbst hinein zu stürzen oder sich ohne Gegenwehr hineindrängen zu lassen. Er handelt eben auch nach dem Grundsatz: »Jeder für sich!« er wehrt sich, und so kommt es denn zum Kampf Aller gegen Alle. Damit ist keineswegs ein offener Bürgerkrieg gemeint, sondern der anarchische Zustand der freien Konkurrenz im großen wie im kleinen, der in der ganzen langen europäischen »glücklichen« Friedenszeit das Proletariat um Millionen von Seelen vermehrt und das unheimliche Wort Pauperismus geschaffen hat. – Was aber diejenigen, welche die gesellschaftlichen Zustände mit aufmerksamem Auge betrachteten, längst in die Welt hinausriefen: daß die einzige Rettung in dem Wahlspruch der Humanität liege: »Alle für Alle!« das war lange Zeit ein vergebliches Rufen, weil die Regierungen nichts dulden wollten, das nur einen Zoll breit von der alten Ordnung (oder vielmehr Unordnung) abwich. Jetzt endlich ist das anders geworden, und wenigstens diejenigen, welche am nächsten an dem Abgrund stehen, müssen und werden, um sich und ihre Brüder und Schwestern zu retten, das Prinzip des Verderbens. »Alle gegen Alle und Jeder für sich« aufgeben und fortan Alle für Alle einstehen.

»Die Assoziation ist frei!« Das war das Zauber-Wort, das in jenem größten März, den wir noch erlebten, die gepreßten Herzen der verzweifelnden Arbeiter erleichterte und allen Bedrückten neuen Mut, neue Hoffnung gab. Ja, in der Assoziation liegt auch ihre einzige Rettung – die Rettung der armen Arbeiter und Arbeiterinnen; in der Assoziation liegt ihre ganze Zukunft! –

Assoziationen für Alle! Es ist nicht genug, daß die Männer sich assoziieren, auch die Frauen müssen es tun; sie müssen entweder mit den Männern vereint handeln oder, wo die Interessen auseinandergehen, sich unter sich verbinden.

Schon mehrmals habe ich darauf hingewiesen, daß, wie die Arbeiter durch die »Berliner Beschlüsse« und durch die Einsetzung des »Zentralkomitees aller Arbeiter« in Leipzig selbst einen großartigen Anfang zur »Organisation aller Arbeiter« gemacht haben, sie auch darin würdig vorangingen, daß sie das Los der Arbeiterinnen berücksichtigten und ihnen unter gleichen Verhältnissen auch gleiche Rechte zu sprechen. So soll den Bezirkskomitees der Arbeiter auch ein Komitee für Arbeiterinnen beigegeben werden. – Es gilt, zur Verwirklichung dieser Beschlüsse wirken zu helfen und zwar von seiten der Frauen selbst. –

Die für die Stellung der Frauen als Arbeiterinnen wie im bürgerlichen Leben überhaupt gefährlichste Ansicht ist diejenige, welche ihr Los nicht direkt, sondern nur indirekt zu verbessern strebt. Wenn die Männer durch die Assoziation zu besserem und namentlich gesicherterem Verdienst gelangen, so[59] wird natürlich auch das Los ihrer Frauen ein besseres werden, – so wäre ihnen indirekt geholfen. Wir lassen uns gern diese indirekte Hilfe für die Gattinnen und unmündigen Töchter gefallen – aber den andern Frauen, die nicht in diesen Verhältnissen stehen, dem ganzen weiblichen Geschlecht als solchem, wäre damit nicht genützt, ja sie wäre dessen unwürdig. In der neuen Gesellschaft, die wir konstituieren wollen und werden und der wir entgegengereift sind, auch wenn es noch nicht allgemein erkannt wäre, kann nicht mehr das rohe Recht des Stärkeren herrschen, das ein Geschlecht zum Eigentum des anderen gemacht hat, da gibt es nur Brüder und Schwestern, Arbeiter und Arbeiterinnen. Eben deshalb ist es an der Zeit, neben der Organisation der Arbeiter auch die Organisation der Arbeiterinnen vorzunehmen, und zwar diese wie jene auf dem friedlichen Wege der Assoziation. Das ist die direkte Hilfe, welche auch den Frauen gebührt. –

Wir verhehlen uns die Schwierigkeiten nicht, welche dies Unternehmen bietet – Schwierigkeiten, die tausendmal größer sind als diejenigen, die bei der Organisation der Arbeiter angetroffen werden – aber wer etwas Gutes ernstlich will, ist noch vor keiner Schwierigkeit zurückgeschreckt, sobald die Möglichkeit gegeben ist, sie, wenn auch nach langen Mühen und Kämpfen, zu überwinden! Nehmen wir diese Unruhe, diesen Kampf nicht auf uns, so bleibt uns dafür nichts als die Gewißheit, daß dann das Los der Arbeiterinnen immer bleiben wird, wie es gewesen: ein Los des Elends und vergeblichen Ringens, ein Los voll steter Quälereien und Demütigungen, daneben immer ganz dicht nur durch einen Schritt getrennt der scheinbar rettende Weg des Verbrechens und der Schande, im besten Falle aber ein Los der Unterdrückung und Abhängigkeit. Wollen wir unsern Schwestern, uns selbst, kein besseres verschaffen, weil es Mühe kosten wird? –

Indes die Assoziation der Arbeiter leicht ist, da diese immer bestimmte Korporationen bildeten, als Gesellen und Zunft-Genossen schon immer in einer Art von Verbindung waren, fehlt es für die Assoziation der Arbeiterinnen an jedem solchen Anhaltepunkt. Eben deshalb ist sie aber gerade um so nötiger. Die Mädchen haben ihren Verdienst immer nur suchen müssen aufs Geradewohl, ohne sich gehörig auf das vorbereiten zu können, was zu ihrem Erwerb, ihrem Lebensunterhalte dienen sollte. Daher die Klage der Arbeitgebenden und sogenannten »Herrschaften«, daß es unter den arbeit- und dienstsuchenden Mädchen so viele »unbrauchbare« gäbe. Dieser Vorwurf über Unbrauchbarkeit ist zwar oft genug begründet, aber er trifft weniger die Mädchen, denen man ja die Gelegenheit, etwas Brauchbares zu lernen, abschnitt – als vielmehr die gesellschaftlichen Einrichtungen, welche hiervon die Schuld tragen. Der Staat hat den Arbeiterinnen nicht einmal einen Schatten derselben wenigen Rechte gegeben, welche er doch den Arbeitern gewährleistete; der Staat hat sich höchstens um die Dienstmädchen gekümmert und durch Überwachung ihrer Gesinde-Bücher sie der willkürlichen Rache ihrer Herrschaften preisgegeben oder um sie von der Polizei ausweisen zu lassen, wenn sie nicht gleich einen Dienst fanden – oder um die Schneidermädchen, sie zu bestrafen, wenn sie von den Schneidern verklagt waren. Was aber fragt der Staat nach dem Elend der Näherinnen, Stickerinnen, Klöpplerinnen etc.? – Nur durch die Assoziation helfen sich die Arbeiter auch allein und ohne die spezielle Mitwirkung des Staats: so mögen die Arbeiterinnen das gleiche versuchen; durch die »Berliner Beschlüsse« sind ihnen die Arbeiter entgegengekommen, nun mögen sie auch das ihrige tun! – In den Städten aber, wo[60] Frauen-Vereine bestehen, wäre es Pflicht derselben, zunächst diese Sache in die Hand zu nehmen!

L.O.[61]

Quelle:
»Dem Reich der Freiheit werb’ ich Bürgerinnen«. Die Frauen-Zeitung von Louise Otto. Frankfurt a.M. 1980, S. 59-62.
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