Allein

[29] Allein, allein! – die Liebe ist begraben,

Ich selbst bin nur die bleiche Trauerweide,

In deren Zweige sich verwandelt haben

Mein Liebesjubel, meine Liebesfreude!

Und was mich sonst an andre Herzen band

Mich hieß als Epheu einen Stamm

Das hab ich all als nicht'gen Traum erkannt:

Der Epheu muß allein im Freien schwanken.


Allein, allein! doch Du bist mir geblieben,

Die mit dem Kind zu Spiel und Fest gegangen,

Die für der Jungfrau frühlingselig Lieben

Die Töne fand, die nur von Liebe klangen!

Du, die mir ihren Zauberstab verlieh

Die Nacht zu hellen, wo sie mich umdunkelt

Du bist mir treu, bist mein, o Poesie!

Sei auch der Stern, der diese Nacht mir funkelt!


Ja, sei ein Stern an meinem Abendhimmel

Sei du mir selbst ein milder Hesperus,

Doch in des Lebens, in der Zeit Gewimmel

Strahl Andern mit des Morgensternes Gruß![30]

Ob abendlich mein Aug' in Thränen taut

Ob in mir Nacht – was brauchts die Welt zu wissen?

Die Welt, für die ein neuer Morgen graut,

Der sie aus Traum und Schlummer aufgerissen?


Und diesem Morgen jauchz auch ich entgegen,

Wo wir der Freiheit Sonnenaufgang feiern,

Den heißen Erntetag, wo reichen Segen

Von langer Saat wir sammeln in die Scheuern.

Das Los, das einer jungen Blüte fiel –

Wer wird nach dem bei solcher Ernte fragen?

Ob sie verwelkt, geknickt an ihrem Stiel –

Nehmt sie zum Festkranz auf den Erntewagen!


Nein, nicht allein! – will mich auch niemand lieben,

Will niemand meines Herzens Qual verstehen,

Muß jedes Band zerreißen und zerstieben,

Weithin zerflatternd in die Lüfte wehen.

So nehm' ich dieses Herz, das ungezähmte

Und leg es meinem Vaterland zu Füßen –

Das sich um eines Menschen Schicksal grämte

Dies Herz soll nur dem Ganzen sich erschließen,


Und an die Armen sei's dahin gegeben,

Die obdachlos vor prächtgen Häusern stehen,

Und hungerbleich die leere Hand erheben,[31]

Auf die verächtlich stolz die Reichen sehen;

Die kleine Münze, die ich euch kann geben

Ihr Armen lindert wenig Euren Schmerz –

Doch hör' ich Euer Rufen, Euer Flehen,

So fleh ich Euch: nehmt Ihr, nehmt Ihr mein Herz!


O könnte ich aus allen Euren Jammern

Aus allen Freveln, die an Euch geschehen

Aus aller Not in Euren öden Kammern

Vor denen Laster als Versucher stehen:

Könnt ich ein Lied aus diesem allen weben

Und könnt es laut auf allen Gassen singen,

Da sollten wohl viel starre Herzen beben,

Viel Augen übergehn, viel Ohren klingen.


Nein, nicht allein! ich will nicht fürder träumen

Vom eitlen Herzen, das nach gleichem strebte!

Will »Herz und Schmerz« nicht – »Not und Brot«

nur reimen

Und will es büßen, daß ich selbst mir lebte.

Mir giebt des Himmels Gnade doch die Lieder

Wenn er mir auch verweigert Gut und Gold.

Was er mir giebt – den Armen sei es wieder

Mit treuem Sinn als Liebespfand gezollt.

Quelle:
Louise Otto: Mein Lebensgang. Leipzig 1893, S. 29-32.
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