Die Wachtel

[108] Der Mond vergoldet schon die Ähren,

Die Wachtel schlägt im hohen Korn,

Ein Lockruf tönt, ein hold Gewähren

Wie aus »des Knaben Wunderhorn.«


Und unterm Landvolk hör ich's sagen:

»Wo sich ihr Nest die Wachtel baut,

Hat nie der Blitz noch eingeschlagen,

Der Hagel sich nicht hingetraut.«


Drum tönt's wie eine frohe Kunde

Durch's ganze Dorf für Jung und Alt:

»Die Wachtel baut im Wiesengrunde,

Ihr trauter Ruf ringsum erschallt!«


Die Saat der Freiheit wuchs und wallte

Schon oft in Halmen hoch empor,

Und mancher Freudenruf erschallte

Ob ihres Blühens schönem Flor.
[109]

Da kam es wie mit Donnerwettern,

Und Blitz und Hagel fielen schwer,

Die stolzen Halme zu zerschmettern –

Am Boden lagen sie umher. –


O sagt: wann wird die Wachtel bauen

Auf dieser Flur, in diesem Feld,

Daß wir die Halme sicher schauen,

Wenn gut der Freiheit Saat bestellt?


Noch haben wir kein sichres Zeichen,

Daß nicht ein Wetter sie verheert –

Am Himmel dunkle Wolken schleichen,

Drinn steckt der Blitz als Feuerschwert.


Und wird er aus der Scheide fahren,

Trifft er der Freiheit grün Gebiet,

Dann tröstet nur: »Vielleicht nach Jahren!« –

Das ist ja Euer altes Lied!

Quelle:
Louise Otto: Mein Lebensgang. Leipzig 1893, S. 108-110.
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