Ich schmücke meinen Speer

[122] O laßt mich einmal träumen

Im wonniglichen Mai,

Mich ruhn unter Blütenbäumen,

Eh Mai und Lenz vorbei!


Des Wasserfalles Rauschen,

Der Nachtigallen Gesang –

Laßt mich ihn stille belauschen,

Er tönt ja so nicht lang.


Laßt unter grünen Blättern

Mir suchen ein Lager auf,

Wenn wirbelnde Lerchen schmettern

Ihr Lied zum Himmel hinauf.


Und wenn die Wachteln schlagen

Im hohen blühenden Korn,

Indes in duftigen Hagen

Erkeimet jeder Dorn –


Da sollt Ihr mich nicht quälen

Mit Fragen her und hin:

»Wie können wir auf Dich zählen,

Treulose Kämpferin.
[123]

Wenn Du von Träumen befangen

Unter den Blüten liegst,

Wo Schmetterlinge prangen

Im süßen Taumel Dich wiegst?


Wenn Du im Mondenglanze

Als nächtliche Schwärmerin

Dich schmückst mit blühendem Kranze,

Dess' Duft betäubt den Sinn?


Jetzt schlummerst Du selbst im Wachen,

Einst wachtest im Schlummer Du auf

Und rangst mit den feindlichen Drachen,

Die hemmen der Zeiten Lauf.


Und wolltest kämpfen und dienen

Dem Volke bis es frei;

Jetzt lauschst Du summenden Bienen

Als sei aller Kampf vorbei?!«


Hört auf, mich so zu quälen

Mit Fragen hin und her;

Ich werd' im Kampfe nicht fehlen,

Doch schmück ich meinen Speer!


Schmück ihn mit blühenden Sprossen,

Mit Halmen schwer und voll,

Und glaubt mir, Kampfgenossen,

Daß er noch treffen soll!
[124]

Beim fröhlichen Kränzebinden

Bleibt jung und frisch mein Mut,

Die Starren zu überwinden

Mit Lenzbegeisterungsglut.


Die Halme sollen's erklären:

Mein Speer ist den Armen geweiht,

Nicht länger soll es währen,

Um's tägliche Brot ihr Leid.


Doch selbst in blutigen Kriegen

Man Waffenstillstand hält,

Wenn es sich just muß fügen,

Daß drein ein Festtag fällt.


Den fromme Gläubige ehren

So wollen im Lenz wir thun,

Woll'n seine Feier verklären

Und von den Waffen ruhn.


Und seid Ihr's nicht zufrieden,

Seid Ihr zu strenge und kalt,

So ist doch mir beschieden

Die fromme Feier im Wald.


So laßt doch den Poeten

Im Lenze werden zum Kind,

Mit Vögeln und Blumen ihn reden,

Die seine Vertrauten sind.
[125]

So laßt mich einmal träumen

Im wonniglichen Mai,

Mich ruhn unter Blütenbäumen,

Eh Mai und Lenz vorbei.


Und auf hört mich zu quälen

Mit Fragen hin und her –,

Ich werd' im Kampfe nicht fehlen,

Doch schmück ich meinen Speer!

Quelle:
Louise Otto: Mein Lebensgang. Leipzig 1893, S. 122-126.
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