Im Hirschberger Thal

[114] Es ist wohl eine Freudenthrän'

Mir in das Aug getreten

Als ich die Gegend hier gesehn,

Ein wortlos stilles Beten

Hier, wo die Berge rings herum

Sich heben wie Altäre

So feierlich, so ernst und stumm

So stark zu Gottes Ehre.


Es trägt das Haupt der Koppe Schnee,

Hell schimmert die Kapelle

Es springen von der Berge Höh

Die muntern Wasserfälle;

Die Wiesen sind so frisch und grün,

So schön die dichten Wälder

Und wunderbare Blumen blühn,

Hoch stehn die Saatenfelder.


Mir ist ich sei im Paradies

Wenn ich so ringsum schaue!

Und hingesunken träum ich süß

Auf dufterfüllter Aue.

So traut, so heimlich ist's im Thal,

Und von den Bergen droben

Klingts wie ein Gruß von Rübezahl,

Der seine Stimme erhoben.
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Doch weiter setz ich meinen Fuß,

Hin wo die Menschen wohnen

Ich biete ihnen frohen Gruß

Und sie: »Mag's Gott Euch lohnen!«

Das klingt so traurig, schmerzensreich,

Was blickt ihr so zur Erde?

Helf Gott! Du Weib – wie bist Du bleich,

Wie schmerzlich von Geberde?


In Deine Hütte laß mich sehn –

Da drinn am Webestuhle,

Gestalten voller Jammer stehn

Und klappern mit der Spule.

Die Kinder schreien laut nach Brot,

Die blinde Alte singet

Ein düstres Lied vom Freunde Tod,

Der einst Erlösung bringet.


Es ist wohl eine Schmerzensthrän',

Mir in das Aug getreten

Als ich die Menschen hier gesehn,

Ein wortlos stilles Beten,

Bis einen Schrei hervor ich stieß. –

O hört ihn nicht vergebens! –

Die Schlange ist im Paradies

Und frißt vom Baum des Lebens!

Quelle:
Louise Otto: Mein Lebensgang. Leipzig 1893, S. 114-116.
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