Johannisnacht im Münster zu Straßburg

[68] Johannisnacht! Johannisnacht,

Du senkst Dich mild hernieder,

An Stunden arm, doch reich an Macht

Voll Nachtigallenlieder.

Voll Sternenschein und Zauberglanz,

Ja selbst die Käfer funkeln,

Des Abendrotes Rosenkranz

Umblüt Dich noch im Dunkeln.


Und hallt es Mitternacht vom Turm

Auf Straßburgs Kathedrale –

Ein Glockenklang als läut' es Sturm –

Beginnt mit einem male,

Rings in des Münsters weitem Schoß

Ein seltsam buntes Leben,

Bald sanftes Säuseln, bald Getos,

Ein Schwirren und ein Schweben.
[68]

Die Toten steigen aus der Gruft,

Die einst den Münster bauten,

Der Meister sie zur Stelle ruft,

Daß sie das Werk beschauten;

Das Werk, das noch den Meister lobt

Durch langer Zeiten Stürme,

Daß Kunst und Dauer wohl erprobt

Die Wölbung, wie die Türme.


Sarg und Gewölbe, Schloß und Thür

's ist alles aufgesprungen!

Die Werkleut' haben sich herfür

Aus ihrem Grab geschwungen.

Mit Zirkel und mit Meisterstab,

Das Richtscheit in den Händen,

So schweben sie hinauf, hinab –

Lang' will der Zug nicht enden.


Mit Händedruck und frohem Blick

Sich grüßen die Genossen

Und denken an die Zeit zurück,

Die seit dem Bau verflossen.

Durch Streben, Gänge allzumal

Zum Turme kommt's gezogen,

Um Säulen, Pfeiler und Portal

Unendlich Geisterwogen.
[69]

Am Himmel hält der Mond die Wacht,

Es flüstern Geisterklänge

Leis' durch die stille, laue Nacht

Wie froher Engel Sänge;

Da schwirrt es sanft und rasch empor

Im Schiff und auf den Gräten,

Und sieh: auf Erwins Bau hervor

Der Meister ist getreten.


Erwin von Steinbach – sei gegrüßt!

Er schwebt zur höchsten Spitze,

Wie ihn des Mondes Licht umfließt

Auf seines Thrones Sitze!

Und zu ihm auf zur selben Zeit

Ein Mägdlein schwebt mit Winken,

Mit goldnem Haar und weißem Kleid,

Den Meißel in der Linken.


Jungfrau Sabina hold verklärt

Vom Sternenglanz umflossen,

Wie ist die Künstlerin geehrt

Von allen Werkgenossen!

»Mich trieb Begeistrung –« spricht die Maid –

»Gott und der Kunst zu dienen,

So bin auch ich voll Freudigkeit

Zu dieser Stund' erschienen.«
[70]

Und alle neigen sich vor ihr

Und vor dem Meister nieder:

»Gegrüßt! gegrüßt! so sehen wir

Auf Jahr und Tag uns wieder.

Das ist der rechte Hüttentag,

Den freie Maurer halten,

Baubruder! komme was da mag!

Dies Werk wird nie veralten!«


Und horch! da hallt es eins vom Turm

Auf Straßburgs Kathedrale.

Ein Glockenklang als läut' es Sturm!

Und husch mit einem male

Vom Turm und in des Münsters Schoß

Ein Sausen und ein Brausen,

Bald sanftes Säuseln, bald Getos,

Bald innen und bald außen.


Dann alles still. – Zur Ruh' hinab

Die Geister sind gegangen

Und alle hält das kühle Grab

Nun wieder still umfangen,

Bis wieder zur Johannisnacht

Zwölf Schläge sie befreien,

Und sie das Werk, das sie vollbracht,

Mit Segensgrüßen weihen. –

Quelle:
Louise Otto: Mein Lebensgang. Leipzig 1893, S. 68-71.
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