Moosrose

[162] Die rote, blätterreiche Rose,

Voll Duft und tiefverborgner Glut,

Die ohne Dorn im weichen Moose,

Auf zartem Stengel träumend ruht':

Die Rose gab ich Dir zu eigen –

O wie verstandest Du mich wohl!

Du weihtest sie zum Bundeszeichen

Zu unsrer Seligkeit Symbol!


Du willst sie unverwelklich wahren

In Deiner Hand, an Deiner Brust,

Ein Talisman, der in Gefahren

Zu schützen mich und Dich gewußt;

Ein Unterpfand von künft'ger Wonne,

Wenn hinter uns die finstre Nacht,

Wenn eine freie, stolze Sonne

Zugleich auf uns herniederlacht.


Viel Dornen sind auf unsern Wegen,

Doch diese Ros' ist dornenlos,

Du zogst mit warmen Herzensschlägen

Die stille Knospe voll und groß.[162]

Das ist ein Sprossen, ist ein Drängen –

Ein ganzer Hain von Rosen blüht,

Und zu begeisterten Gesängen

Ein jeder Kelch sich öffnend glüht.


So laß uns selig träumend wallen

Im Rosenhain der Poesie,

Und Lied um Lied soll preisend schallen

In süßer Liebes-Melodie.

So laß uns Gott im Himmel loben

Der solche Rosen blühen hieß

Und uns, trotz wilder Wetter Toben,

Die schönste dennoch finden ließ.


So laß uns diesen Gott vertrauen,

Der an den Blumen Wunder thut,

Nicht nur im Blitz ist er zu schauen,

Er redet auch aus Rosenglut.

Wie uns des Wetters Nacht umdunkelt,

Wie Angst und Weh' das Los der Zeit:

Ein heil'ger Strahl im Kelche funkelt –

Die Rose blüht in Ewigkeit!

Quelle:
Louise Otto: Mein Lebensgang. Leipzig 1893, S. 162-163.
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