Heimat

[291] Viel tausend Menschen hat es sonst gegeben,

Die nie hinaus aus Stadt und Dorf gekommen,

Im selben Haus da sie erwacht zum Leben,

Ist ihnen auch sein letzter Strahl verglommen.


Einförmig ward der Faden fortgesponnen

Und reichte niemals über weite Grenzen,

Doch eine Welt von Leiden und von Wonnen

Fand darin Raum in bunten Wechseltänzen.


Das enge Haus hielt selbst den Sinn gebunden,

Und Haus und Hof war allem lieb und teuer,

Man fürchtete des Heimweh's tiefe Wunden,

Wenn man verließ des trauten Herdes Feuer. –


Das war vordem – da gab's noch weite Fernen –

Da gab's noch enge festgeschlossne Kreise,

Es mochte kaum ein Volk vom andren lernen

Und jeder Gau bewahrte seine Weise.


Jetzt aber drängt's die Heimat zu verlassen

So jung als alt und zieht sie weit und weiter,

Es wird der Dampf für ganze Völkermassen

Zum ruhelosen lockenden Begleiter.
[291]

Wohl ist es schön, die schöne Welt durchfliegen,

Wo immer neue Wunder sich erschließen

Im Schauen und im Staunen sich zu wiegen,

Natur und Kunst begeistert zu genießen.


Wohl ist es schön im fernen Land zu weilen

Das Edle auch im fremden Volk erkennen.

Mit ihm das Streben nach dem Höchsten teilen

Im Dienst der Menschheit sich verbunden nennen


Doch dreimal schöner wenn Erinnerungen,

An solche Zeiten uns die Heimath schmücken

Und wenn der Boden, den wir selbst entsprungen

Uns noch vermag wie einstens zu beglücken


Wohl ist's ein E lück, das Wen'gen, ist beschieden

Wenn uns die Stätte wo wir einst geboren,

Wo wir geträumt im holden Jugendfrieden,

Im Alter noch als Heimat unverloren.


Wenn wir, was da wir strebten und empfunden,

Auch in der Ferne weiter groß gezogen

Wenn, was wir hier gelobt in heilgen Stunden

Verleugnet nie in stürmschen Lebenswogen.


Wenn wir die Heimat so bewußt betreten,

Gedenkend gern so alt als neuer Zeiten,

Dann kommt es über uns wie stilles Beten,

Wie mildes Abendrot vor'm letzten Scheiden.

Quelle:
Louise Otto: Mein Lebensgang. Leipzig 1893, S. 291-292.
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