Seligkeit

[311] Zufrieden nicht mit Gut und Glück,

Gebannt in enge Lebenssphären,

Erhebst Du weiter Wunsch und Blick,

Und willst noch Seligkeit begehren.


Und weißt Du auch was Seligkeit?

Und weißt Du auch wie sie errungen? –

Ein Lichtblick nur auf Raum und Zeit,

Der ihre Schranken übersprungen!


Wenn Du im brünstigen Gebet

Zum Throne Gottes Dich erhoben

Und die Gewißheit vor Dir steht:

Dein Geist ist selbst ein Strahl von oben.


Ein Strahl, ein Teil von Gottes Licht,

Betraut mit einer hohen Sendung –

Und eine innre Stimme spricht:

Du bist erkoren zur Vollendung –


Wenn dann Dich das Gefühl beseelt

In dieses Daseins Wechselleben:

Die ganze Menschheit ist erwählt,

Um nach Vervollkommung zu streben –
[311]

Und wenn im Tempel der Natur

Im Abendrot, beim Sternenreigen,

Im Sonnenglanz der Blumenflur

Sich Bilder des Vollkommen zeigen;


Dann sinkt von Dir ein jedes Leid

Und jeder Zweifel ist zerronnen,

Und ein Moment der Seligkeit

Hast Du hienieden schon gewonnen.


Und wenn in schöner Harmonie

Dein Herz ein andres Herz begegnet,

Und zweier Seelen Sympathie,

Lieb und Begeistrung zwiefach segnet.


Dann bist Du selig erdentrückt,

Fühlst Dich von Himmelslust umfangen,

Und ahnst beglückend und beglückt,

Daß zur Vollendung zu gelangen.


Und wenn ein Werk der Hand, dem Geist

Gelungen ist durch Fleiß und Mühen,

Dem Aug' ein dunkler Vorhang reißt

Und neue Lande vor Dir blühen!


Und mitten drinn in Kampf und Not

Doch für den Gott im Busen streiten,

Und hinzunehmen Schmach und Tod,

Den Sieg der Menschheit zu bereiten:
[312]

Das ist auf Erden Seligkeit –

Ein Augenblick und wir erschrecken,

Daß wir erhoben uns so weit

Ob all den Wolken, die uns decken.


Doch will ein solcher Augenblick

Des Jenseit Seligkeit uns nennen:

Sinkt Raum und Zeit von uns zurück,

Wirst Du Vollkommnes rings erkennen!

Quelle:
Louise Otto: Mein Lebensgang. Leipzig 1893, S. 311-313.
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