3. Briefe der Freiin Annette v. Droste-Hülshoff an Professor Dr. Schlüter. Münster 1877.

[26] Fast dreißig Jahre sind seit dem Tod Annettens v. Droste vergangen, bis nun ihr vieljähriger Freund, Professor Dr. Schlüter, sich zur Veröffentlichung ihrer an ihn gerichteten Briefe – wenigstens eines Teiles derselben – entschloß. In den meisten Fällen dürfte es gewagt sein, mit einer ähnlichen Publikation so lange zu zögern, denn es gibt nicht gar viele Namen, die drei Dezennien nach dem Hinscheiden ihrer Träger noch hell und voll genug klingen, um allem, was sich auf sie bezieht, ein lebendiges Interesse zu sichern. Wie leicht wäre es, eine ganze Reihe von Autoren herzuzählen,[26] die heute ebenso gründlich vergessen sind, als sie vor so und so viel Jahren laut gepriesen wurden! Bei der Droste sehen wir den entgegengesetzten Fall eintreten. Sie fand, solange sie lebte, nicht entfernt die Beachtung, die ihr gebührte, und als sie die Augen schloß, war es nur wenigen ganz klar, was Deutschland an ihr verloren hatte. Das hat sich seitdem geändert. Mag sie auch von vielen nur auf Treu und Glauben bewundert werden, ist auch ihr Name allgemeiner bekannt als ihre Dichtungen, so ist doch mindestens ihr Rang als die größte Dichterin deutscher Nation für alle Zeiten festgestellt. Daß ihr endlich ihr Recht widerfuhr, ist zunächst den gewichtigen Stimmen zu danken, die sich für sie erhoben, und eifrig beflissen waren, gut zu machen, was die Tageskritik, weniger durch Tadel als durch hartnäckiges Ignorieren, verschuldet hatte. Man darf getrost behaupten, daß seit mehr als zwanzig Jahren nicht eine nennenswerte Literaturgeschichte des gegenwärtigen Jahrhunderts erschienen ist, in welcher der Droste nicht volle Ehre erwiesen, ihrem Genius nicht freudige Anerkennung gezollt wurde. Das übereinstimmende Urteil der Berufensten lenkte allmählich die Aufmerksamkeit des Publikums auf die großartige Erscheinung, die ihm allzu lange so gut wie unbekannt geblieben war. Man wollte doch auch in nähere Berührung mit ihr treten und nahm ihre Dichtungen zur Hand. Wahrscheinlich ist es dabei[27] nicht ohne vielfache Enttäuschungen abgelaufen; so mancher mag die Werke, die ihm so warm empfohlen wurden, nicht nach seinem Geschmack gefunden haben. In der Tat sind sie nicht danach angetan, der Menge zu gefallen, die Redeprunk und Bilderpracht für Poesie hält, und vor deren Augen ein Dichter, der sich in einer ihr fremden Gedanken- und Gefühlssphäre bewegt, keine Gnade findet. Die Droste ist zu eigenartig, eine zu scharf ausgeprägte Individualität, als daß sie jemals populär werden könnte. Zu ihrer Eigenart gehörte auch ein gewisser Eigensinn beim künstlerischen Schaffen; wenn ein Gedicht, das sie geschrieben, ihrer Intention entsprach, so kümmerte sie sich nicht im geringsten darum, ob es auch klar genug sei, um von andern verstanden zu werden. Sie fordert von ihrem Leser, daß er selbst ein Stück Poet sei, und die Rätsel, die ihre sphinxhafte Muse ihm aufgibt, zu lösen wisse. Solche Leser werden wohl nie in großer Zahl vorkommen, den andern aber wird es niemand begreiflich machen, daß hinter der Herbheit und Dunkelheit, von der sie sich abschrecken lassen, ein Schatz von Poesie verborgen liegt. Daran kann auch die Zukunft nichts ändern. Was nun vollends die Gegenwart betrifft, so stehen die Bestrebungen und Ziele derselben in so schroffem Widerspruch mit den Idealen der Droste, daß eine Verständigung nur bei jenen möglich, die bereit sind die Toleranz, welche sie fordern, auch selbst zu[28] üben. Man verstehe mich recht: der edle Geist der Dichterin wußte nichts von reaktionären oder fanatischen Gelüsten, allein er war durch Erziehung, Umgebung, besondere Lebensverhältnisse in eine Richtung gedrängt worden, die ihn die Zeiten frommer Glaubenstreue und patriarchalischer Sitten über alles schätzen und ihn in dem Niederreißen der bisher bestandenen Schranken eine Gefahr für die höchsten Güter der Menschheit erblicken ließ. Es handelt sich hier nicht darum zu erörtern, wie weit sie darin Unrecht hatte, sondern nur um die Erklärung, wie es möglich war, daß ein so außerordentliches Talent es zu keiner größeren Popularität brachte. Gewiß ist es großenteils dem streng konservativen und nicht nur religiösen, sondern kirchlichen Element, welches sich in den Dichtungen der Droste ausspricht, zuzuschreiben, daß sie, statt im Herzen ihres Volkes Wurzel zu fassen, sich mit der Liebe und Bewunderung derer begnügen muß, die objektiv genug sind, das Große groß, das Schöne schön zu finden, wenn es auch einer von der ihrigen sehr verschiedenen Welt- und Lebensanschauung entkeimt. Für diese Freunde der Droste wird das in Rede stehende Buch eine hochwillkommene Gabe sein.

Es ist etwas eigenes um diese Briefe. Man kann sich den Reiz, den sie ausüben, kaum erklären, noch weniger aber kann man sich ihm verschließen. Sie berichten nicht von merkwürdigen Erlebnissen und[29] Vorgängen, machen den Leser nicht zum Vertrauten irgendwelcher Seelenkämpfe, noch wissen sie von Berührungen mit berühmten und ausgezeichneten Zeitgenossen zu erzählen. Literarische Urteile kommen darin nur sehr vereinzelt und fast durchgängig bloß in bezug auf Werke einer früheren Periode vor. Der Dichter und Schriftsteller, deren Namen in dem Zeitraum, während dessen diese Briefe geschrieben wurden (1834 bis 1846), auf allen Lippen waren, ist nicht einmal erwähnt, kein politisches Ereignis wird auch nur flüchtig berührt. Es ist als wäre das tausendstimmige Gebrause der Welt so wenig nach Rüschhaus und der Meersburg gedrungen wie in Dornrösleins verzaubertes Schloß. Auch sind diese Briefe nicht, was man so gewöhnlich geistreich zu nennen pflegt; vergeblich würde man in ihnen nach frappanten Aperçus, kühnen Paradoxen, sibyllinischen Aussprüchen suchen. In ihrer vollkommen schlichten und anspruchslosen Weise haben sie gar wenig mit den Ergüssen anderer berühmten Briefstellerinnen gemein. Was verleiht ihnen nun die Macht, die Teilnahme des Lesers zu fesseln? sein Herz zu bewegen, als wären sie an ihn gerichtet, ein Vermächtnis von geliebter Hand? Es gibt dafür keine andere Erklärung als die: daß sie der unmittelbare Ausdruck einer grandiosen Persönlichkeit sind, deren Gedankentiefe uns staunen macht, während ihre beständig fühlbare Güte und Menschenliebe unsere Seele bezwingen,[30] und der holde Humor, der ihr über die Unzulänglichkeit des Irdischen hinweghilft, uns bezaubert. Wie indifferent ihre Umgebung, wie eng begrenzt ihre Verhältnisse seien, mit einer solchen Persönlichkeit als Mittelpunkt gewinnen sie Bedeutung, Farbe, Interesse.

Wie sehr Recht hat Schopenhauer, wenn er sagt: daß ein überlegener Mensch von einem kleinen Ausflug mehr Eindrücke und Anregungen heimbringt als ein gewöhnlicher Kopf von einer Reise um die ganze Erde! Ganz so verhält es sich auch mit unseren äußeren Schicksalen. Nicht auf Erlebnisse kommt es an, sondern auf die Resultate, die wir aus ihnen zu ziehen wissen, auf die Art und Weise, wie wir sie innerlich verarbeiten. Gar mancher weiß mit dem gewaltigen sturmbewegten Los, das eine Ironie des Schicksals ihm beschied, absolut nichts anzufangen, und umgekehrt gibt es Menschen, die, während ihre Tage in stiller Gleichförmigkeit hinzufließen scheinen, dennoch die tiefsten Abgründe des Seins und der eigenen Brust zu erforschen lernen. Zu diesen letzteren gehörte die Droste. Wahrhaft merkwürdig an ihr, deren Umgang auf einen engen Kreis beschränkt war, ist die scharfe, durchdringende Menschenkenntnis, der zugleich die Fähigkeit beigesellt ist, mit wenigen Strichen ein frappantes Charakterbild zu zeichnen. Sie analysiert die Menschen nicht, sondern zaubert sie uns in ihrer Totalität vors Auge. Ganz ebenso verfährt sie mit sich selber. Der[31] Reiz dieser Briefe liegt großenteils darin, daß sie, frei von jeder Selbstbespiegelung und mikroskopischen Betrachtung des eigenen Wesens, dennoch das innerste Herzensgeäder derer, über die sie schrieb, bloßlegen. So wenig wie über andere räsoniert und philosophiert die Droste über sich selbst, aber ihr Naturell ist so stark, ihr Charakter so scharf und rein ausgeprägt, daß in jedem Wort, jeder Wendung ihre ganze Eigentümlichkeit erkennbar ist. Dabei weiß sie überaus anmutig zu erzählen und zu schildern; man wird nicht müde ihr zuzuhören, und bald steht man unter der Macht des Eindrucks, den sie empfing. Man gestatte mir ein Beispiel anzuführen. Während eines Aufenthaltes in der Schweiz wird ihr, der eifrigen Sammlerin von Altertümern, von einem Grafen Thurn ein Kästchen geschenkt, das sich seit undenklichen Zeiten im Besitz seiner Familie befand. Zufällig drückt sie auf eine verborgene Feder, und entdeckt zwei Miniaturbilder, von deren Existenz der Geber selbst keine Ahnung hatte. Sie stellen einen ganz jungen Menschen und ein ebenso junges Mädchen dar – wahrscheinlich ein Geschwisterpaar – beide in blühender Schönheit prangend und nach der vor etwa hundert Jahren herrschenden Mode gekleidet. An die meisterhafte Beschreibung dieser Bilder knüpfen sich traumhafte Betrachtungen. Wer waren die beiden Unbekannten? Welches Los bewahrte ihnen die Zukunft auf? Waren sie in ungetrübtem Jugendglanz[32] von der Erde geschieden? Oder hatten Alter, Krankheit, Gram den Schmuck allmählich abgestreift, mit dem die Natur sie verschwenderisch ausgestattet hatte? Und durch alle diese Möglichkeiten, die der Geist der Dichterin an sich vorübergleiten läßt, tönt immer wieder die schwermutvolle Frage: »O Leben! Leben! bist du mehr als Traum?«

Was ihr dichterisches Schaffen betrifft, so erwähnt die Droste wiederholt und näher eingehend fast nur ihrer Beschäftigung mit ihrem »Das geistliche Jahr«, das erst nach ihrem Tod erschien. Der Herausgeber nennt die in diesem Buch enthaltenen Gedichte ihre vorzüglichsten; mit Unrecht! sie sind nur ihre merkwürdigsten, insofern, als sie eine leidenschaftliche Glut, eine schwärmerische Verzückung atmen, die ihrer Muse sonst fremd war. Liest man diese Ergüsse eines in seinen Tiefen aufgewühlten Gemüts, so kann man sich des Gedankens nicht erwehren, daß die Gläubigkeit der Dichterin nur ein angstvolles Ringen nach dem Frieden war, den der Glaube gibt. Von Zweifeln bedrängt, sah sie keine Rettung als nur bei ihm, und mit geschlossenen Augen stürzte sie sich in seine Arme. Sie wollte glauben. Daß es ihr nicht zu allen Stunden gelang, würde auch, wenn sie sich dessen nicht so bitter anklagte, schon die Heftigkeit jener Ausbrüche beweisen. Man klammert sich nicht so krampfhaft, nicht mit so verzehrender Inbrunst an ein Gut, in dessen sicherem[33] ungefährdetem Besitz man sich weiß. Tiefer aufgefaßt war das Schicksal der Droste ein ganz eigenes: sie war von der Natur zur Denkerin geschaffen, ihre Jugendeindrücke jedoch und der Einfluß ihrer Umgebung hielten sie mit stiller, aber sicherer Gewalt in dem Kreise kirchlicher Anschauungen fest. Das war der tragische Konflikt in ihrem von keiner irdischen Leidenschaft bewegten Leben, der innere Zwiespalt, der sich in Momenten der Ekstase vergessen, aber nun und nimmermehr versöhnen ließ. Ihre religiösen Gedichte bezeugen dies, wenn auch ihre Briefe, soweit sie uns vorliegen, keine Andeutung darüber enthalten. Um so klarer geht jedoch aus diesen hervor, daß die Droste ihr Leben unter einem Druck verbrachte, der dem freien Aufschwung ihres Genius vielfach hinderlich war. Niemandem auf der Welt lag es ferner als ihr sich als âme incomprise hinzustellen; allein hie und da vermag sie die Ungeduld über die beständige Bevormundung, das Mißverstehen ihres Wesens seitens ihrer Familie denn doch nicht zu unterdrücken. Von aristokratischen Vorurteilen befangen, sahen ihre Verwandten nur ungern eine ihres Stammes und Namens sich mit der Schriftstellerei beschäftigen und in die Öffentlichkeit treten. Es stand freilich nicht in ihrer Macht, dem Seidenwurm das Spinnen zu verbieten, aber wenigstens schien es geraten, ihn bei seiner Arbeit sorglich zu beaufsichtigen. Da wurde eine strenge[34] Zensur geübt, jedes Wort geprüft, bis es als verfänglich befunden wurde, jeder möglichen oder auch unmöglichen Mißdeutung ängstlich vorgebeugt. Der eine wollte diesen, der andere jenen Ausdruck nicht gelten lassen, ein dritter meinte: Annette verkenne ganz und gar die Natur ihres Talents, und wies ihr das Humoristische, ja das Komische, als ihr eigentliches Gebiet an. Ich sagte an einer früheren Stelle: die Droste sei in ihrem künstlerischen Schaffen bis zum Trotz eigensinnig gewesen! Sie war es aber nur, soweit das größere Publikum in Betracht kam, denen gegenüber, die sie liebte, war sie nur allzu lange nachgiebig, und geriet lieber mit sich selbst als mit ihnen in Streit. Schließlich ging sie im großen und ganzen allerdings ihren eigenen Weg, aber wie mühsam und wie beschwerlich ward ihr dies gemacht! Und wer sagt uns, ob sie nicht zu einem noch höheren Ziele gelangt wäre, hätten jene lähmenden Rücksichten und Bedenklichkeiten sie nicht gehindert, ihre ganze Kraft zu entfalten?

Auf Vollständigkeit kann die in Rede stehende Publikation wohl kaum Anspruch machen. Zwischen den Daten der Briefe liegen mitunter auffallend lange Zeiträume; der letzte derselben ist vom 5. September 1846, die Droste starb aber erst anderthalb Jahre später, und mit aller Wahrscheinlichkeit darf man annehmen, daß die Korrespondenz bis an ihr Ende fortgesetzt wurde. Gründe, über deren Triftigkeit der Fernstehende[35] sich kein Urteil bilden kann, mögen den Herausgeber bewogen haben, uns so manche dieser Reliquien einstweilen noch vorzuenthalten. Einstweilen, sage ich, denn in dem Maße, in dem die Zeit vorwärts schreitet und das Vergangene sich zum Geschichtsbild abklärt, muß die vielleicht jetzt noch gebotene Rücksicht auf Persönlichkeiten an Berechtigung verlieren. Man darf wohl mit Sicherheit einer Gesamtausgabe der Drosteschen Dichtungen entgegensehen. Was könnte diese schöner abschließen als eine möglichst vollständige Sammlung der Briefe, in welchen dieser mächtige Geist, dieses edle, liebreiche Gemüt sich in voller rührender Unmittelbarkeit aussprechen? – –

Quelle:
Betty Paoli: Gesammelte Aufsätze. Wien 1908, S. 26-36.
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