3. Neue Erzählungen von Marie v. Ebner-Eschenbach

[91] Ein Schriftsteller, der bereits Treffliches geliefert hat, darf mit vollem Recht erwarten, daß die Kritik[91] seinen ferneren Werken die gebührende Aufmerksamkeit zuwende. Für das Mittelgut, das in der Kunst mit dem Mittelmäßigen sehr nahe verwandt ist, reicht eine flüchtige Anzeige hin, ja vielleicht ist selbst diese überflüssig. Werke von edlerem Gehalt hingegen verdienen eine eingehende Besprechung, eine deutliche Bestimmung des Ranges, den sie in der Literatur einnehmen. Sie würden zwar ohne irgendwelche Vermittlung schließlich ihren Weg machen, denn für alles wahrhaft Gute kommt der Tag, an dem es freudig erkannt wird. Aber diese Erkenntnis zu beschleunigen, ist eine Ehrenpflicht, deren sich die Kritik nicht begeben darf. Marie v. Ebner-Eschenbachs vor kurzem erschienene neue Erzählungen sind es, die mich dies lebhaft empfinden lassen. Der Name der Verfasserin mag dem großen Publikum minder geläufig sein, als der so manchen Lohnschreibers; um so besseren Klang hat er bei den gebildeten Lesern, denen er künstlerische Genüsse reinster Art ins Gedächtnis zurückruft.

Der stattliche, ja sogar zu stattliche Band – denn sein Umfang schadet seiner Handlichkeit – enthält vier Erzählungen, unter denen drei von vorzüglichem Werte sind und nur eine nicht auf gleicher Höhe mit den übrigen steht. Ich meine die »Ein kleiner Roman« betitelte, deren Schwäche darin liegt, daß die höchst originell erfundenen und meisterhaft ausgeführten Nebenfiguren dem Leser ein weit lebhafteres Interesse einflößen,[92] als die Hauptpersonen, die nicht mit derselben Schärfe individualisiert sind – ein bei Marie v. Ebner-Eschenbach sehr selten vorkommender Fehler, denn ein wesentlicher Vorzug dieser Schriftstellerin liegt gerade darin, daß sie ihre Gestalten mit einem scharf markierten charakteristischen Gepräge auszustatten weiß. Der Inhalt der Erzählung ist in kurzem folgender: Ein schönes, junges Mädchen tritt in einem vornehmen Hause eine Stelle als Erzieherin des einzigen Töchterchens an. Mit großer Wahrheit ist die Isoliertheit einer solchen Stellung geschildert. In den höheren Ständen sind zwischen der Erzieherin und den Eltern ihrer Zöglinge unsichtbare Schranken gezogen, die nichts zu durchbrechen vermag. An Bildung ihnen wenigstens ebenbürtig, steht sie doch in keinem Verkehr mit ihnen. Man fordert von ihr nur gewisse Kenntnisse und Geschicklichkeiten und den landläufigen Anstand des Benehmens; ihren Charakter kennen zu lernen, hält man für überflüssig; in menschliche Beziehungen zu ihr zu treten, würde geradezu für unpassend gelten. Von jedem belebenden, anregenden Verkehr abgeschnitten, nie von dem warmen Hauch freundlicher Teilnahme berührt, muß ihr Geist verdumpfen, ihr Herz verknöchern, wenn nicht eine glückliche Fügung sie beizeiten aus dieser trostlosen Thebaide entführt und dem Leben wieder gibt. – In der gräflichen Familie, in der Fräulein Helene fungiert, denkt man am wenigsten daran, dem alten[93] Brauch und Herkommen untreu zu werden. Der Graf selbst, obgleich sonst nicht mit hervorragenden Geistesgaben ausgestattet, ist zwar nicht töricht genug, um zu glauben, er sei aus einem anderen Stoffe geformt, als die gewöhnlichen Menschenkinder; guten, warmen Herzens findet er bei seinen flüchtigen Begegnungen mit Helene manch freundliches Wort für sie. Anders steht es mit seiner Frau, in der das Bewußtsein der Ausnahmsstellung, die Rang und blendende Schönheit ihr anweisen, den Hochmut bis zu einem solchen Grade entwickelt hat, daß jeder aus einer anderen Sphäre zu ihr dringender Hauch ihr eine Verunreinigung scheint. Wie eine Olympierin blickt sie auf die sich im Staube Mühenden herab; welche Teilnahme könnten die Leiden und Freuden so untergeordneter Geschöpfe ihr einflößen? Ebenso trefflich ist das Charakterbild von Fräulein Helenens Zögling, Anka, einem überaus seltsam veranlagten Kind, dessen absonderliches Gemütsleben mit solcher Glaubwürdigkeit dargestellt ist, daß man darin ein frappant gelungenes Porträt zu erblicken versucht ist. Gemütsleben sagte ich? Ach nein! Das kleine Ding hat keinen Funken von Gemüt; seelenlos und an fremder Unlust seine Lust findend, erinnert Anka vielfach an die boshaft neckenden Elementargeister der alten Sagen. Sie liebt auf der Welt nichts als ihren Vater und auch diesen nur auf ihre Weise, nämlich als ihr zugehörig. Ihre Mutter ist ihr gleichgiltig und für ihre[94] Erzieherin hegt sie aufrichtigen Haß. Daß Helene zu einem Zögling solchen Schlages kein Herz fassen kann, ist sehr natürlich. Diese gegenseitige, unüberwindliche Abneigung bildet den Angelpunkt der Geschichte, denn als nach dem Tode der Gräfin ihr Witwer, allmählich Helenens Wert erkennend, erst ein lebhaftes Interesse, dann eine tiefe Zuneigung für sie faßt und sich endlich entschließt, um ihre Hand zu werben, tritt dies dämonische oder vielmehr diabolische Kind zwischen Beide. Der Graf täuscht sich über seine Tochter, wie er sich über seine Frau getäuscht hat; er glaubte sich von ihr geliebt, während ihr Herz einem anderen gehörte. Ebenso ergeht es ihm mit Anka, dem bösartigen Kobold, in dem er einen Ausbund von Herzensgüte erblickt. Helene hält sich nicht für berechtigt, ihm den schönen Wahn zu rauben, daß sein Kind der Liebe würdig sei, mit der er es überhäuft. Er könnte diese Liebe doch nun und nimmermehr aus seinem Herzen reißen und innere Kämpfe der bittersten Art wären sein Teil. Und was sollte aus Anka werden, wenn sich zwischen sie und den einzigen Menschen, für den sie Neigung empfindet, eine verhaßte Dritte stellte?

Helene liebt den Grafen, aber diese Erwägungen bestimmen sie, seine Werbung abzuweisen und sein Haus zu verlassen. Sie handelt gewiß vernünftig, nur mag man bezweifeln, daß ein von einer starken, tiefen Neigung erfülltes Gemüt solche Vernunftschlüsse ziehen[95] und sich ihnen unterwerfen dürfte. Warum kommt Helenen nicht der sehr naheliegende Gedanke: »Der Mann, den ich liebe, ist leicht zu täuschen. Um so mehr tut es not, daß ein klarer blickendes, ihm treu ergebenes Wesen ihm zur Seite stehe und ihn vor seiner eigenen Leichtgläubigkeit schütze. Und sollte auch alles, woran er sich jetzt klammert, unter seinen Händen zerbröckeln, ich bleibe ihm.« Meines Erachtens wäre diese Auffassung natürlicher und eben deshalb sympathischer. Die schwächste Figur in der Erzählung ist der Graf, der, wie mit einer Binde vor den Augen durchs Leben, nicht nur nichts sieht, sondern auch nichts sehen will. Wenn die Erzählerin ausruft: »Die Welt verlacht die Betrogenen, ich liege vor ihnen auf den Knien,« so scheint mir dies ein nicht zu billigender Kultus der Verblendung. Der Mangel an Urteilskraft, die Scheu, der Wahrheit ins Gesicht zu blicken, können doch unmöglich für verehrenswürdige Eigenschaften gelten. Vielleicht würde man die gerügten Schwächen weniger empfinden, wenn nicht die Nebenfiguren, vor allem die egoistische und frivole Schwiegermutter des Grafen, mit solcher Lebenswahrheit, mit solcher Feinheit der Beobachtung dargestellt wären, daß die eigentlichen Träger der Handlung daneben verblassen. Zählt diese Arbeit auch nicht zu den vorzüglichsten der reichbegabten Verfasserin, so enthält sie doch Charakterbilder von solcher Treue und Präzision und so viele reizende Details, daß,[96] wenn sie auch als Ganzes hinter den übrigen zurückbleibt, es dennoch wohl getan war, sie in diese neue Sammlung aufzunehmen.

Unbedingte Anerkennung gebührt der folgenden Erzählung: »Die Freiherren v. Gemperlein.« Man kann sich keine liebenswürdigere Humoreske denken. Zwei Brüder, Ludwig und Friedrich v. Gemperlein, die Letzten ihres Stammes, führen auf dem alten Familiengut Wlastowiz ein Junggesellenleben. Die innigste Bruderliebe fesselt sie unauflöslich aneinander, verhindert aber dennoch nicht, daß des Zanks und Haders zwischen ihnen kein Ende ist. Die Gemperlein waren von jeher ein streitbares Geschlecht; in seinen letzten Ausläufern tritt diese Stammeseigenheit noch gesteigert hervor. Keiner könnte den anderen entbehren, doch ebensowenig können sie sich friedlich vertragen, ja vielleicht würde ihr Verkehr einen Teil des Reizes, den er für sie hat einbüßen, wenn sie durch irgendein Wunder plötzlich Eines Sinnes würden. An Schrullen und Phantastereien stehen sie sich vollkommen gleich, nur verfolgen diese ganz entgegengesetzte Richtungen. Friedrich ist streng konservativ und von aristokratischen Anschauungen erfüllt, während Ludwig zur Fahne des Radikalismus geschworen hat und zwischen den Menschen keinen anderen Unterschied gelten lassen will, als den ihres persönlichen Wertes. Bei vielen sehr sinnreich herbeigeführten Anlässen prallen diese entgegengesetzten Ansichten mit aller[97] Heftigkeit und höchst ergötzlich aneinander. Ludwig beschließt, seine Grundsätze praktisch durchzuführen; er will die Tochter eines Kaufmannes im benachbarten Städtchen heiraten. Er kennt sie zwar nur ganz flüchtig, aber seine immer rege Phantasie spiegelt ihm vor, daß sie wie er in dieser Ehe ihr Glück finden.

Man kann sich Friedrichs Entrüstung vorstellen, als er von diesem Projekt erfährt. Er schwört hoch und teuer, daß seine künftige Gemahlin nie die Schwelle der geborenen Äpelblüh betreten werde und zwischen seinen zu erhoffenden Kindern und denen seines Bruders absolut kein Verkehr stattfinden dürfe. Ludwig trägt sich nämlich gleichfalls mit Heiratsgedanken und späht in dem genealogischen Taschenbuch der gräflichen Häuser nach einer ebenbürtigen Gemahlin aus. Besagtes Taschenbuch spielt ihm jedoch in aller Unschuld einen schmählichen Streich. Als er eben im Begriffe ist, nach Schlesien, der Heimat der Auserkorenen, zu reisen, erfährt er, daß sie gar nicht existiert und daß er jahrelang für einen Druckfehler geschwärmt hat. Auch Ludwigs Bewerbung ist verunglückt, bevor sie vorgebracht wurde. Die Brüder trösten sich über ihr Mißgeschick, indem sie einander gegenseitig verspotten. Nach Jahren ferneren Zusammenlebens droht es zu einer wirklichen Entzweiung zwischen ihnen zu kommen. Beide fassen eine Neigung zu der auf Besuch hier verweilenden Nichte einer Gutsnachbarin. Anfangs will keiner dem[98] anderen weichen, als es aber, wie sie meinen, zur Entscheidung kommen soll, will keiner auf Kosten des anderen glücklich werden. Jeder wirbt hinter dem Rücken des Bruders für denselben um die Hand jener reizenden Nichte, die nun, in die Enge getrieben, gesteht, bereits seit Jahren verheiratet zu sein. Ihre nur auf den eigenen Spaß bedachte Tante hat sich ihren Nachbarn gegenüber eine kleine Mystifikation erlaubt. In so energischen Naturen läßt jedoch keine Enttäuschung eine dauernde Spur zurück und neue Hoffnungen treten an die Stelle der zerstörten. So auch hier. Die Freiherren beharren in der Zuversicht, endlich doch die Rechte zu finden, bis sie von hinnen scheiden und mit ihnen der Name Gemperlein ausstirbt.

Dies der Stoff der Erzählung. Man muß sie selbst lesen, um sich zu überzeugen, welchen Reiz ihm die geist- und humorvolle Behandlung verleiht. Die beiden Hauptcharaktere sind bei aller ihrer Absonderlichkeit so lebenswahr, ihre Schrullenhaftigkeit kann den Adel ihrer Gesinnung, ihre reine Herzensgüte so wenig beeinträchtigen, daß man, wenn man sie auch häufig belächelt, sie nichtsdestoweniger lieben und verehren muß. Nur eine sehr geschickte Hand konnte die in ihrem Wesen liegenden Widersprüche mit solcher überzeugender Kraft harmonisch auflösen, und eines überaus richtigen Geschmacks bedurfte es, um diese Physiognomien weder abzuschwächen, noch in Übertreibungen zu[99] verfallen. Derselbe feine Takt bewährt sich in Nebenfiguren; sie, besonders die würdige Frau Kurzmichel, wirken komisch, nicht possenhaft, weil sie eben in keinem Moment aufhören, mögliche Menschen zu sein. Und wie meisterlich erzählt ist das Ganze, wie natürlich, wie anmutig, mit wie heiterem Witz! Um dergleichen zustande zu bringen, muß man nebst einem großen Takt auch noch ein tiefes Verständnis des Besten im menschlichen Gemüt und eine liebevolle Nachsicht für menschliche Verkehrtheiten besitzen.

In »Lotti, die Uhrmacherin«, werden ernstere Saiten angeklungen. Diese Erzählung, die vor ein paar Jahren in Rodenbergs »Deutscher Rundschau« zuerst erschien, fand schon damals die Anerkennung, die sie vermöge ihres geistigen Gehalts und ihrer edlen Form in vollstem Maße verdient. Der Gedanke, der ihr zugrunde liegt, ist, daß durch Fleiß und unbedingte Hingebung das Handwerk fast zur Kunst geadelt werden kann, und die Kunst hinwieder zum Handwerk herabsinkt, wenn sie mit unlauterem Sinne geübt wird. Jenes Aufwärtsstreben zeigt sich uns in Lotti, die das Gewerbe, das sie von ihrem Vater, einem ausgezeichneten Uhrmacher, erlernt hat, mit solcher Liebe, ich möchte sagen mit solcher Begeisterung betreibt, daß ihr schlichtes, in Arbeit verbrachtes Leben dadurch Reiz und Bedeutung gewinnt. Den Gegensatz zu ihr bildet Hermann Halwig, ein junger Poet von ungewöhnlichem[100] Talent. Als Lotti ihn kennen lernt, weiß noch niemand von ihm, aber bald soll die Sonne des Ruhmes für ihn aufgehen. Sein erster literarischer Versuch dringt siegreich durch, die zweite Dichtung, die er veröffentlicht, macht ebenso großes Glück – nun zögert er nicht länger, dem Staatsdienst Valet zu sagen und sich ausschließlich der Kunst zu widmen. Lotti, um die er im Jubel seines ersten Triumphes geworben, liebt ihn von ganzer Seele, und er? Nun er glaubt, sie zu lieben, bis teils sein weltlicher Sinn, teils seine gekränkte Eitelkeit den schwachen Funken erlöschen machen. Sobald Lotti des inne geworden, tritt sie entschlossen zurück und gibt ihm seine Freiheit wieder, – nicht ohne schwere innere Kämpfe, aber von dem Bewußtsein gestärkt, das einzig Richtige erwählt zu haben. Jahre vergehen, bis der Friede in Lottis Herz zurückkehrt und die ihr angeborene heitere Ruhe wieder aus ihren Zügen lächelt. Halwig ist inzwischen ein berühmter Schriftsteller geworden, den die Verleger bestürmen, ihnen seine Werke zu überlassen. Er geht auf die glänzenden Anerbietungen, die ihm von allen Seiten gemacht werden, um so bereitwilliger ein, als er sich vor einiger Zeit mit einem an Eleganz und Luxus gewöhnten jungen Mädchen vornehmen Standes vermählt hat, einem jener kindischen, gedankenlosen Geschöpfe, denen das Überflüssigste für ganz unentbehrlich gilt und die, ohne Böses zu wollen, vampyrgleich Blut und Mark[101] des Mannes aussaugen, dessen Schwäche sie gewähren läßt. Jetzt heißt es Geld, möglichst viel Geld verdienen; Erwerb ist fortan das einzige Ziel, das Halwig vor Augen schwebt. Er traut seinem Talent unerschöpfliche Ergiebigkeit zu; der Gedanke, daß es ihm je den Dienst versagen könne, kommt ihm nicht in den Sinn. Unablässig schreibt und schreibt er, ohne Schaffensdrang, nur dem Gebot einer äußeren Notwendigkeit gehorchend. Dank den Wundern, die der Pinsel Mings' bewirkt, finden seine Arbeiten trotz ihrer zunehmenden Flüchtigkeit und Verschlechterung noch immer reißenden Absatz. Aber um welchen Preis? Ihm selber wird klar, daß ihm auf dieser Hetzjagd nach Geld und Gut das Gefühl für das Schöne verloren ging; wie sollte er da noch Schönes schaffen können? Wohlan! wenn er nicht mehr fähig ist, ein edles Kunstwerk hervorzubringen, so sei es denn mit dem Sensations- und Skandalroman versucht – diese Ware findet ja unter allen Umständen Liebhaber ohne Zahl. – Lotti, mit der er durch einen Zufall wieder in Verbindung getreten ist, sieht ihn mit tiefem Seelenschmerz dem gänzlichen Ruin entgegeneilen. Sie liebt ihn längst nicht mehr, aber die Erinnerung an eine ferne, schöne Zeit ist ihr wert und teuer geblieben. Großherzig bringt sie ein schweres, schweres Opfer, um ihn von schmachvollen Verpflichtungen zu befreien, die er eingegangen ist. Umsonst! Es duldet Halwig nicht lange in dem Asyl, das seine[102] edle Freundin ihm bereitet hat. Die Aufregungen der Literaten-Existenz sind ihm zum Bedürfnis geworden; er dürstet nach ihren Bitternissen und stürzt sich neuerdings in den Strudel, der ihn in die Tiefe hinabreißen muß.

Das passendste Motto für diese Erzählung wäre ein Ausspruch, der sich in den früher erschienenen »Aphorismen« derselben Verfasserin befindet. Er lautet: »Der Charakter des Künstlers ernährt oder verzehrt sein Talent.« So ist es. Die glänzendsten Gaben bleiben fruchtlos, wenn ihnen nicht die sittliche Kraft beigesellt ist, die bei der Produktion lieber auf den Beifall der ganzen Welt, als auf die eigene Zustimmung verzichten würde. Von der Natur vor Tausenden erkoren, geht der Poet dieser Gnadenwahl verlustig, sobald er sich in den Dienst der gemeinen Mächte des Lebens begibt. Der Mahn- und Warnungsruf, der aus dieser Erzählung tönt, kommt wahrlich zur rechten Zeit. Sehen wir nicht jetzt so manche, die zu Höherem berufen waren, frevelhaften Mißbrauch mit ihrem Talent treiben und im gierigen Hasten nach Gewinn dem geistigen und moralischen Bankerott zusteuern? Halwigs Gestalt ist ein Typus, der ganz und gar der Gegenwart angehört und eine ihrer traurigsten Seiten repräsentiert: Der Poet, in dem der Glaube an seine Mission erloschen ist, der, statt allem Volk voranzuschreiten, es vorzieht, sich in den gemeinen Haufen zu[103] mischen und dessen wüste Leidenschaften noch anzufachen. Im wohltuenden Gegensatz zu dem, allem Idealen entfremdeten Halwig, sind Lotti und Gottfried wahre und wirkliche Idealisten. Allerdings ist ihre Sphäre eine bescheidene, aber es handelt sich nicht darum, was der Mensch betreibt, sondern in welchem Sinne, mit welchem Grad von Hingebung an sein Werk es geschieht. Treues Bemühen, strenge Gewissenhaftigkeit adeln jede Beschäftigung. Das wichtige ist, daß der Mensch auf alles, was er schafft, die Sorgfalt wende, die nicht ruht noch rastet, bis auch der kleinste, keinem anderen Auge sichtbare Makel beseitigt ist.

Die Verfasserin hat es verstanden, uns bis ins innerste Herz dieser einfachen und zugleich großsinnigen Menschen blicken zu lassen. Auch die übrigen Figuren sind von überzeugender Lebenswahrheit erfüllt, Halwig selbst, seine trotz aller inneren Leerheit verführerische Frau, der kluge und wackere Advokat Schweizer, ja selbst die Gestalten, die nur ganz episodisch auftauchen, ohne weiter in die Handlung einzugreifen, sind oft nur mit ein paar Strichen scharf charakterisiert. Dabei ist der Ton der Erzählung so überaus anmutig, sie enthält so viele reizende Einzelheiten, daß der tiefe Ernst des Grundgedankens dadurch ein entsprechendes Gegengewicht erhält.

In »Nach dem Tode« sehen wir einen eigentümlichen psychologischen Prozeß sich vollziehen. Natur[104] und Schicksal haben sich verbunden, um den jungen Grafen Paul Sonnberg mit ihren besten Gaben zu überhäufen. Den Menschen jedoch, zumal wenn er von Haus aus tüchtig ist, kann ein Glück nicht befriedigen, das er nicht durch eigene Anstrengung errungen hat. Noch mehr: das ewige Gesetz, daß uns Edles und Köstliches nur um den Preis fortgesetzter Bemühungen genießen läßt, ist so tief in unser Herz gegraben, daß auch nur die Liebe, um die wir erst werben, deren wir uns erst würdig zeigen müssen, uns wahrhaft beglücken kann. An Paul bewahrheitet sich diese Erfahrung. Von seinen Eltern und seiner Frau abgöttisch geliebt, ohne daß er je das Geringste getan hätte, um solche Zärtlichkeit zu verdienen, fühlt er sich von derselben erdrückt und vergilt sie mit rauher Gleichgiltigkeit. Er ergreift die erste Gelegenheit, die sich ihm bietet, sich von den Seinen loszureißen und eine bewegtere Existenz aufzusuchen. Kurz nach seinem Scheiden stirbt seine junge Frau, nachdem sie einem Töchterchen das Leben geschenkt hat. Nach Beendigung des Feldzuges, den Paul als Freiwilliger mitgemacht hat, widmet er sich der parlamentarischen Laufbahn und erringt auf derselben glänzende Erfolge, die ihn zu der Hoffnung auf eine große Zukunft berechtigen. Keine Sehnsucht nach seinen bejahrten Eltern, nach dem Anblick seines Kindes regt sich in seinem Gemüt. Da überkommt ihn plötzlich eine tiefe Leidenschaft für die schöne[105] Gräfin Thekla Neumark und mit dieser Leidenschaft erschließt sich ihm eine Welt von Gefühlen, von denen er bis dahin nichts ahnte. Thekla ist eine jener kühlen Frauennaturen, die sich gewiß nie eines Fehltrittes schuldig machen werden, aber auch unfähig sind, jemals eine jener begeisterten Regungen zu empfinden, die das Göttliche im Menschen bekunden. Sie liebt Paul nach ihrer Weise, d.h. sie weiß seine persönlichen Vorzüge zu würdigen, wenn sie ihn auch etwas zu überspannt, zu exaltiert findet. Nebenbei schmeichelt es ihrer Eitelkeit, die brillanteste Partie im Lande zu machen. Eine Weile hindurch trachtet Paul, sich über ihr eigentliches Wesen zu täuschen; als ihm dies nicht mehr gelingen will, sucht er Entschuldigungen dafür, und wann wäre die Leidenschaft verlegen, deren zu finden? Eines aber tritt ihm doch klar und unwiderleglich entgegen: daß er, zum erstenmal in seinem Leben, inniger liebt, als er geliebt wird und unendlich mehr gibt, als er empfängt. Wenn diese Erkenntnis auch seiner Leidenschaft für Thekla nichts anhaben kann, so ruft sie doch das Bild vergangener Tage in ihm zurück. Erst nur flüchtig und traumhaft zieht die Gestalt der längst im Grabe schlummernden Marie an ihm vorüber und Reue beschleicht ihn bei dem Gedanken, wie oft er dieses treue, ihm ganz ergebene Herz durch Kälte und Mißachtung gekränkt hat. Die Liebe zu einem Einzelwesen, die bei gewöhnlichen Menschen den Egoismus[106] noch steigert, bringt bei Paul, wie bei allen edlen Naturen die entgegengesetzte Wirkung hervor: sie befreit ihn von den Fesseln der Selbstsucht und ruft heiliges Mitleid mit aller Kreatur in ihm wach. Die Wandlung ist bereits zur Hälfte vollzogen, als Paul sich zu kurzem Bezug, wie er meint, nach Schloß Sonnberg begibt; dort gelangt sie zu ihrem Abschluß. Die Spuren von Mariens Erdenwallen sind es, die seine künftige Bahn bestimmen. Leidenschaft und Ehrgeiz verstummen vor der Stimme, die aus dem Jenseits zu ihm spricht. Auf seine bisherigen Lebensziele verzichtend, sucht Paul den einzig möglichen Ersatz für das von ihm verscherzte Glück in der Hingebung an die Seinen und in treuer Pflichterfüllung.

Mit großer Feinheit und Umsicht hat die Verfasserin das Problem einer solchen inneren Umgestaltung gelöst. Paul wird nicht etwa unversehens ein anderer Mensch, als er bisher gewesen ist; es entwickeln sich in ihm nur die edlen Keime, die von jeher in ihm lagen und die sich ohne die Verwöhnung, deren Gegenstand er war, schon früher entfaltet hätten. Kaum wird die Kraft der Liebe in ihm geweckt, so treiben sie volle, reiche Blüten. – Die erste Hälfte der Erzählung spielt in den Kreisen der vornehmen Gesellschaft, die zweite auf dem Lande. Bei diesem Wechsel des Schauplatzes ist dem Leser zu Mute, als würde er aus einer von Schemen bevölkerten Welt in[107] die wahre wirkliche versetzt, in der die Natur ihr Recht behauptet und der Mensch nach eigenen Impulsen handelt, während in jenen Kreisen Scheinwesen und Konvenienz keine Ursprünglichkeit aufkommen lassen. Thekla vor allem kann als ein mustergiltiges Produkt jener Drillung gelten, deren höchstes Ziel tadellose Korrektheit ist. So betrachtet auch ihre Mutter, obgleich eine weichere, edlere Natur, die Schwärmerei – und wie dehnbar ist dieses Wort! – als die Wurzel alles Übels. Kein ernstes Wort findet in dieser exklusiven Gesellschaft den leisesten Anklang, die Interessen lassen sie gleichgiltig und dennoch erscheint sie in dieser Darstellung von dem bestrickenden Zauber jener äußeren Liebenswürdigkeit umgeben, den die vollendete Anmut der Umgangsformen verleiht. Nur ein an Welterfahrung reicher Geist konnte dieses Lebensbild entwerfen, nur eine Künstlerhand Licht und Schatten so richtig verteilen und bei solcher Fülle von wechselnden Szenen das Einheitliche der Konzeption so unbeirrbar wahren.

Marie v. Ebner ist mehr als eine talentvolle Schriftstellerin, sie ist durch und durch eine echte Künstlerin, die nicht mit der Hoffnung auf zufälliges Gelingen, sondern mit zielbewußtem Wollen an die Arbeit geht. Wohl wissend, daß nur mittels der Form das Schöne uns bewußt werden kann, pflegt sie dieselbe mit einer bis ins Kleinste gehenden, sich aber nie ins Kleinliche verlierenden Sorgfalt. Ihr Stil ist von[108] seltener Reinheit, Frische und Natürlichkeit, die Führung des Dialogs so lebendig, daß sich in kurzen, abgerissenen Sätzen oft ein ganzer Charakter ausspricht. Hier hat sich einmal ein großes Talent mit einem seiner würdigen Gemüt zusammengefunden. Nicht dem Talent allein, sondern auch dem sich nie verleugnenden Adel der Gesinnung, der warmen Menschenliebe, deren wohltuenden Hauch man in jedem Worte spürt, verdanken Marie v. Ebners Schriften den Zauber, den sie auf den Leser ausüben.

Vielleicht ist der Umstand, daß die Verfasserin den Schauplatz ihrer Erzählungen ausnahmslos nach Österreich, ihrer Heimat, verlegt, als eine Mitursache des Reizes derselben zu betrachten. Die genaue Kenntnis, die sie von Land und Leuten besitzt, ihre Vertrautheit mit den Verhältnissen, wie mit der Sinnes- und Gemütsart der Menschen, in deren Mitte sie aufwuchs und sich entwickelte, verleihen ihren Darstellungen eine Treue und eine Lebensfülle, die aus der Phantasie allein nicht geschöpft werden können. Man mag wohl auch fremde Länder durch Studium und Beobachtung kennen lernen, ganz und voll versteht man aber doch nur das Heimatliche. Aus Marie v. Ebners Büchern quillt es dem Leser wie frischer Erdgeruch entgegen – es ist der Duft der heimatlichen Scholle. Die Gestalten, die sie uns vorführt, fußen auf einem realen, mit ihrem ganzen Wesen übereinstimmenden Boden[109] und tragen bei der schärferen Individualisierung einen unverkennbaren Zug von Stammverwandtschaft im Antlitz. Auf die Ausprägung dieser nationalen Eigenheiten Gewicht zu legen, ist ein Verdienst der neueren Novellistik. Wie wenig wurden früher in der Kunst die sozialen, klimatischen und genetischen Einflüsse in Anschlag gebracht! Spielte die Handlung in Deutschland, so begnügte man sich, als Ort derselben »eine deutsche Stadt« anzugeben. Als wenn die deutschen Städte sich untereinander glichen wie Biberansiedlungen. Als wenn es gleichgiltig wäre, ob München oder Königsberg der Schauplatz der Begebenheiten. Daß man den Zusammenhang der Menschen mit der Natur, die sie umgibt, ihre Abhängigkeit von der geistigen Atmosphäre, in der sie leben, jetzt um so viel mehr beachtet, ist ein tröstliches Zeichen zunehmenden Lebens- und Wahrheitsgefühls.

Zum Schlusse kann ich mirs nicht versagen, die Leser dieses Aufsatzes wiederholt auf Marie v. Ebners »Aphorismen« (Berlin, Fr. Ebhardt, 1880) hinzuweisen. Das Büchlein enthält einen wahren Schatz von tiefen, edlen und originellen Gedanken und feinen Wahrnehmungen, die durch die knappe, präzise, fast epigrammatische Form noch den Reiz des Pikanten erhalten. Zum Beweise dessen erlaube ich mir, hier einige Stichproben zu bringen: »Sei Deines Willens Herr und Deines Gewissens Knecht.« – »An das[110] Gute glauben nur die Wenigen, die es üben.« – »Wer an die Freiheit des menschlichen Willens glaubt, hat nie geliebt und nie gehaßt.« – »Der Maßstab, den wir an die Dinge legen, ist das Maß unseres eigenen Geistes.« – »Dem großen Publikum ist ein Buch nicht leicht zu schlecht, sehr leicht zu gut.« – »Wo wäre die Macht der Frauen, wenn die Eitelkeit der Männer nicht wäre!« – »Schwächliche Grämlichkeit, die alle fünf gerade sein läßt, ist die Karrikatur der Resignation.« – »Die größte Nachsicht mit einem Menschen entspringt aus der Verzweiflung an ihm.«

Ich hoffe, durch die angeführten Aussprüche in meinen Lesern wenigstens annähernd die Vorstellung erweckt zu haben, wie vielfältige Anregungen dies merkwürdige Büchlein gibt. Wer sich an Marie v. Ebners Erzählungen erfreut, der zögere nicht, ihre »Aphorismen« kennen zu lernen; sie werden ihn einen Blick in ihr eigentlichstes Wesen tun lassen.

Quelle:
Betty Paoli: Gesammelte Aufsätze. Wien 1908, S. 91-111.
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