Früh oder spät

[208] Gezittert hab' ich um dein teures Leben,

Mit der Verzweiflung Aug' in Aug' gerungen,

Als ich, von namenloser Angst durchdrungen,

Dich schon im Scheiden wähnte und Entschweben.


Jetzt, da du wieder mir zurückgegeben,

Aufjubeln sollte ich mit Flammenzungen!

Ich kann es nicht. Von deinem Arm umschlungen,

Fühl' ich die finstre Macht uns doch umweben.


Früh oder spät, die Stunde muß erscheinen,

Die, trennend uns mit grimmem Todeshiebe,

Der Seelen Glut dem Staube wird vereinen.


Und Schauder faßt mich an vor einer Welt,

In der das Höchste, Heiligste, die Liebe,

Sowie das Niedrigste dem Nichts verfällt.

Quelle:
Betty Paoli: Gedichte. Auswahl und Nachlaß, Stuttgart 1895, S. 208-209.
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