70. Theophania an Junia Marcella.

[68] Nikomedien, den 24. Februar 303.


Zitternd, angstvoll, jetzt mit freudigen Schauern, jetzt voll banger Besorgnisse setze ich mich nieder, dir von dem wunderbarsten, dem theuersten, dem bängsten Augenblicke meines Lebens Nachricht zu geben. Eine Wand scheidet mich von Agathokles, ich höre sein leises Athmen, jeden Laut des Schmerzes, den sein Zustand ihm entreißt. Ich fahre freudig empor, wenn ich glaube, daß er ruft, daß er meiner bedarf, und ich zittre jedes Mal, daß er trotz der sorgfältigsten Verhüllung mich erkennen, und diese Erschütterung ihm tödtlich seyn könnte. Du begreifst nicht, wie das zusammenhängt. Ach, wenn es mir möglich ist, mein tiefbewegtes Gemüth zu sammeln, so will ich mich bemühen, Alles, was seit gestern geschehen ist, ordentlich zu erzählen. Was noch fehlt, was unzusammenhängend ist, wird deine Liebe nachsehen.[68]

Die traurigen Auftritte des gestrigen Tages wirst du mit mir und allen unsern Glaubensgenossen getheilt haben, indem das Gerücht allgemein verbreitet ist, daß derselbe Schlag an Einem Tage in allen Städten des Reichs bestimmt war, die christliche Religion zu zerstören. Ich sage dir also nichts von unsern Gedanken und Empfindungen. Wir verlassenen Frauen hielten uns stille in unsern Mauern, brachten die Zeit mit Gebeten und Verpflegung der Unglücklichen zu, die die blutigen Vorfälle des Tages nur zu häufig zwangen, bei uns Hülfe zu suchen, und erwarteten jeden Augenblick, daß der Sturm sich bis zu uns verbreiten, und wir gezwungen seyn würden, unsern stillen Aufenthalt zu verlassen.

Müde von den Sorgen und Pflichten des bangen Tages saß ich am Abend, als es schon ganz finster geworden war, in meinem Zimmer, dessen Fenster gerade auf das gegenüber stehende Thor1 gehen. Ein heftiges Pochen an demselben erschreckte mich, ich sah die Pforte sich öffnen, und viele Männer, die ich beim Schein der Fackeln an ihren Rüstungen für Soldaten erkannte, drangen herein. Ich glaubte nichts anders, als daß es jetzt um uns geschehen sey, ich eilte an's Fenster, die Stille, die Ruhe, mit der die Krieger standen, befremdete mich, ich sah schärfer hin, und entdeckte nun, daß sie eine Bahre niederließen, auf der ein Verwundeter lag. Meine erste Angst war verschwunden, aber ein anderes namenloses[69] Gefühl, eine bange Ahnung ergriff mich. In demselben Augenblicke kam Tabitha, meine Gefährtin bei der Pflege der Verwundeten, um mich zu holen. Ich raffte meine Geräthe mit zitternder Eile zusammen, und folgte ihr beklommen und hastig; es war, als ob mein Herz mir mein Schicksal verkündete. Ach, es betrog mich nicht! Als ich an den Thorweg kam, als die Soldaten stumm und trauernd zurückwichen, und ich nun beim Fackelschein Alles erkannte – o Gott – da lag Agathokles – bleich, leblos, mit geschlossenen Augen in allem seinem Blute vor mir. Ich sank mit einem lauten Schrei an ihm nieder, ich nannte seinen Namen, ich versuchte es, ihn in's Leben zurückzurufen. Vergebens. Er schien todt, und ich weiß nicht, welche Kraft mich in diesem entsetzlichen Augenblick vor der Ohnmacht bewahrte. Ich raffte mich auf, ich vermochte zu fragen. O Junia! Wenn es möglich ist, so fühle die Wonne nach, die mitten in der Todesangst mich durchschauerte. Agathokles war ein Christ! Der Eifer für unsere Religion, und heldenmüthige Menschenliebe hatten ihn in diesen Zustand versetzt. Ich bebte vor Freude und Angst, aber Gott erhielt mir meine Besinnung so, daß ich für seine Pflege sorgen konnte. Ich folgte den Kriegern, die ihn schweigend und bestürzt trugen. O wie that die Treue, mit der diese rauhen Männer ihren geliebten Führer ehrten, meinem Herzen so wohl! Nun begann ich mit zitternden Händen seine Wunden zu waschen, und, so gut es die Eile verstattete, zu verbinden. Ein geheimer Hoffnungsstrahl drang in meine Seele; so viel ich verstand, konnten diese Wunden nicht tödtlich seyn, und nur der Blutverlust hatte diese Erschöpfung hervorgebracht. Er[70] lag ohne Laut, ohne Zeichen des Lebens, die Augen wie im Todesschlummer geschlossen. Aber, o meine Junia! wie schön, wie unaussprechlich liebenswürdig schien er mir in dieser Blässe, in diesen Wunden! Wie erhaben stand seine Tugend vor mir!

Jetzt erwarteten wir alle mit ängstlicher Sorge Heliodors Ankunft, den man von einem andern Kranken gerufen hatte; denn er versieht mit beispielloser Anstrengung und Treue das dreifache Amt des Lehrers, Arztes und Priesters bei der Gemeinde. Auf ein Mal öffnete sich die Thüre, und ein schöner junger Mann trat mit königlichem Anstand ein. Er eilte sogleich auf Agathokles zu. Die Hastigkeit, mit der er sich nach Allem, was vorgefallen, erkundigte, die Liebe, mit der er sich um ihn beschäftigte, sein sinkendes Haupt erhob, seine starren Hände faßte, und drückte, gewannen ihm mein innigstes Wohlwollen. Jetzt kam Heliodor, er untersuchte die Wunden, er prüfte lange, vorsichtig – mein Innerstes bebte, ich fühlte, wie ich zitterte, und der Stuhl mit mir schwankte, an dem ich mich während dieser schweren Minute hielt. Endlich verkündete Heliodors Ausspruch Leben – und mein Herz, das den ganzen Umfang des Schmerzens zu fassen im Stande gewesen war, erlag der Freude. Ich sank ohne Bewußtseyn zu Boden. Man brachte mich in's Nebenzimmer. Hier, als ich erwachte, als ich fähig war zu begreifen, daß die Vorgänge dieses Abends kein Traum gewesen waren, ergoß sich meine Seele in heißen Gebeten des Danks und der Liebe. Ich fragte nach Agathokles. Er hatte sich wieder ein paar Mal so weit erholt, daß er die Augen aufgeschlagen, und einige Worte gesprochen hatte. Man gab mir die beruhigendsten Hoffnungen,[71] Heliodor hatte meine Ahnung bestätigt; nicht die Wunden, nur der Blutverlust hatten ihm diese todtähnliche Betäubung zugezogen – sie wird aufhören, wie seine Kräfte sich erholen.

Sobald ich einigermaßen mein Herz beruhigt fühlte, setzte ich mich hin, dir zu schreiben, und dir zu sagen, daß es mir nicht möglich ist, meine Blicke vor den schönen Aussichten, die sich mir eröffnen, mit gehöriger Standhaftigkeit zu schließen. Soll es denn bloßes bedeutungsloses Zusammentreffen seyn, was mich von den Ufern der Gothen bis hierher brachte, was mich gerade jetzt zur Pflege der Verwundeten bestimmte, und mir den theuren Freund in diesem Augenblick schenkte? Er ist ein Christ. Wie kann er Calpurnien seine Hand reichen? Wie kann er, der so hohe Begriffe vom Zusammenklang der Seelen hat, ein Mädchen lieben, das über den wichtigsten Gegenstand des Menschen ganz verschieden von ihm denkt? O Junia! Welche beglückenden Folgen liegen in diesen Fragen verborgen! Aber noch muß ich mein Herz halten, noch darf ich mich ihnen nicht überlassen, und vor Allem darf Agathokles jetzt noch nicht wissen, wer ich bin. Wie er auch immer für mich fühle, was sein Verhältniß zu Calpurnien seyn mag – eine gähe Entdeckung könnte sein Leben in Gefahr setzen. Noch muß ich verborgen bleiben, aber ich hoffe, die Zeit, das Leben in seiner Gegenwart wird bald meine Zweifel lösen, und dann soll er nach und nach errathen, wer an seinem Lager weinte, und wachte, oder – ich fliehe mit meinem unauslöschlichen Gram ihn, mein Vaterland, die Welt, und begrabe mich in einer tiefen Einsamkeit,[72] in die nur deine Freundschaft zuweilen einen Strahl des Trostes bringen soll.


Am 24sten Abends.


Die Zweifel sind gelöst – mein Schicksal ist entschieden! O es war thöricht, vermessen, so ungegründeten Hoffnungen auch nur einen Augenblick Raum zu geben! In welchen Betracht kann die Verschiedenheit der Denkart, der Religion selbst, von der verzehrenden Flamme einer Leidenschaft kommen, die mit wüthender Gewalt das ergriffene Herz über alle Schranken des Wohlstandes und der Weiblichkeit hinreißt? Von dieser Macht der Gefühle habe ich keinen Begriff; aber wer so liebt, muß auch versichert seyn, eben so heiß wieder geliebt zu werden. Und was bleibt dann für die Vergeßne, Verstorbne übrig!

Heute Morgens, als ein luftiger süßer Schlummer voll trügerischer theurer Gestalten mir die erschöpfte Kraft wieder gegeben hatte, hörte ich Agathokles leise rufen. Ich zog den schwarzen dichten Schleier fest um mein Gesicht, meine ganze Gestalt zusammen, und trat mit klopfendem Herzen an sein Lager. Er öffnete die Augen kaum, und forderte nur mit leiser Stimme zu trinken. Ich reichte ihm den Becher, meine Hand zitterte. Wo bin ich? sing er nach einer Weile wieder an: Wo hat man mich hingebracht? Ich legte die Hand auf den Mund, und schwieg. Ich fürchtete zu reden, da ich in diesem Augenblick gewiß nicht über meine Stimme gebieten konnte. Ich weiß nicht, ob er mich für stumm, der eigensinnig hielt – er schloß die Augen wieder, und sank auf die[73] Kissen zurück. Jetzt kam Heliodor, nach den Wunden zu sehen. Agathokles erwachte wieder, und wiederholte seine Frage. Heliodor gab ihm Bescheid, er schien sehr zufrieden, und ein freundlicher Blick, eine Bewegung seiner Hand dankte mir für den Theil, den ich an seiner Pflege hatte. Seine Wunden waren, so gut sie seyn konnten; der ehrwürdige Arzt empfahl ihm nichts als Ruhe, und stärkende Arzneien. Ich weinte ungesehen Thränen der reinsten Freude, aber ich wagte es nicht, länger bei ihm zu bleiben, aus Furcht mich zu verrathen. Die Schwäche, die noch von den Erschütterungen des vorigen Tags an mir sichtbar war, diente mir bei der Vorsteherin des Hauses zur Entschuldigung, daß ich Tabitha mehr für Agathokles zu thun über ließ, als ich selbst zu verrichten wagte. Ach, diese Versagung kam mich schwer genug an. Aber die Freude konnte ich mir nicht abschlagen, so viel wie möglich im Nebenzimmer zu seyn, und wenigstens seine Stimme zu hören.

Gegen Abend, als es bereits zu dämmern anfing, wagte ich es hinein zu gehen. Er sah mich freundlich an, und grüßte mich als seine stumme Wohlthäterin. Ich neigte mich, ohne zu antworten, und beschäftigte mich an einem Tische mit Zurechtlegen seiner Binden. Jetzt kam eine Aufwärterin des Hauses, und meldete Agathokles, einer seiner Sclaven sey da, der ihn zu sprechen wünsche. Er ließ ihn kommen. Gerechter Gott! Wer kam? Ein bildschöner Knabe in niedlicher Sclavenkleidung trat ein. Das hellbraune Haar flatterte in reichen Locken um seine weiße Stirn und die blühenden Wangen. So schwebte die reizende Gestalt näher an's Betts – ich erkannte sie jetzt – es war Calpurnia![74] Auch Agathokles, der sie vorher verwundert angesehen hatte, errieth die Wahrheit. Er erschrak sichtbar. Cal – rief er – aber mit unbegreiflicher Fassung fiel ihm die Leichtfertige in's Wort: Callias, ja, dein treuer Callias ist's, der unmöglich von der Gefahr seines Gebieters hören konnte, ohne sich selbst davon zu überzeugen. Bei diesen Worten stand sie an seinem Bette. Er faßte ihre Hand, ich sah ihn erröthen, und wieder erbleichen, ich sah die glühenden Blicke, die sie auf ihn warf, die selige Trunkenheit, mit der sein leuchtendes Auge über die reizende Gestalt hingleitete, und die schönen Formen mit Entzücken betrachtete. Ich hörte ihn jetzt ihr mit gerührter Stimme für ihre Güte danken, und das Entsetzen, das mich vorher an einer Stelle gefesselt hielt, lösete sich in wilden Schmerz auf. Ein heftiges Schluchzen übermannte mich, daß die Glücklichen sich erstaunt nach mir umsahen. Ich entfloh. Ach Gott! So enden sich meine Hoffnungen!


Zwei Stunden später.


Ich hatte mir vorgesetzt, ihn nicht wieder zu sehen, sein Zimmer nicht wieder zu betreten. Ich hätte es auch gehalten; aber Tabitha war bei einem andern Kranken beschäftigt, als Heliodor den Abend kam, um Agathokles zu besuchen, und so mußte ich mit ihm, ihm kleine Handreichungen zu leisten. Mit scheuem Widerwillen betrat ich das Zimmer – sah ich ihn wieder, den ich einst nie anders, als mit Entzücken wieder zu sehen dachte, den ich gestern in der traurigsten Lage leblos und in seinem Blute doch freudig wiedersah! Und warum? Bin ich denn[75] die Flatterhafte, die Leichtsinnige? Bin ich's, die ihn so tief gekränkt? O Junia! Warum scheute ich seinen Anblick? In welche seltsame Gestalten verhüllt sich oft unser Gefühl! Heliodor fand ihn weniger wohl, sein Puls ging fieberhaft. O ich wußte wohl warum – und zitterte vor Zorn und Schmerz, daß der unbesonnene, unweibliche Schritt des leichtfertigen Geschöpfes sein Leben in Gefahr setzen könnte. Noch war unser Geschäft nicht geendet, und meine Angst, in diesem Augenblick vielleicht durch einen Zufall verrathen zu werden, nicht vorbei, als der schöne Mann eintrat, der den vorigen Abend so viel Antheil an Agathokles gezeigt hatte. Die Augen des Kranken strahlten vor Freude. Constantin! rief er, und der Fremde stürzte an seine Brust. Sie hielten sich lange umarmt. – Das war also Constantin, der Sohn des abendländischen Cäsars, der Agathokles einst das Leben rettete! Nun war mir seine Theilnahme am vorigen Abend erklärbar. Wie theuer ward er mir durch diese Liebe! Wie gern wäre ich ihm zu Füßen gesunken, um ihm für das Leben seines Freundes zu danken! – So liebe ich ihn denn noch? So wird denn diese Flamme nie erlöschen? So ist kein Leichtsinn, keine Kränkung fähig, mich zu heilen? O ich bin schwach bis zur Verächtlichkeit – ich verdamme mich selbst darum – aber ich kann – ich kann nicht anders. Tief in mein Wesen, in die feinsten Fäden meines Lebens ist diese Liebe verweht – sie wird nur mit ihnen zerrissen. O zürne mir nicht, Junia! Ich fliehe bald – bald zu dir!

Fußnoten

1 Die Häuser der Alten, sowohl in Italien, als vorzüglich im Morgenlande, hatten selten Fenster auf die Straße. Man trat durch den Thorweg in den Hof, um welchen herum die Zimmer gebaut waren, deren Fenster und Thüren gleichfalls auf den Hof gingen.


Quelle:
Caroline Pichler: Agathokles. Erstes bis Sechstes Bändchen, Schriften, Band 34, Stuttgart 1828, S. 68-76.
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