Erster Teil

Ich bin genötigt, den Leser bis zu jener Zeit meines Lebens zurückzuführen, da ich den Chevalier des Grieux zum erstenmal traf. Es war das etwa sechs Monate vor meiner Abreise nach Spanien. Obgleich ich nur selten aus meiner Einsamkeit heraustrat, so machte ich doch aus Gefälligkeit gegen meine Tochter verschiedene kleine Reisen, die ich so kurz wie möglich gestaltete.

Eines Tages kam ich von Rouen zurück. Sie hatte mich gebeten, vor dem normannischen Landtag ihre Rechte auf einige Güter zu vertreten, auf die sie durch meinen Großvater mütterlicherseits Ansprüche besaß. Ich machte meinen Rückweg über Evreux, wo ich zum erstenmal übernachtete, und kam am nächsten Tag zur Essenszeit nach Passy, das fünf oder sechs Meilen davon entfernt liegt. Zu meinem Erstaunen fand ich, als ich in dem Ort anlangte, die ganze Einwohnerschaft in großer Aufregung. Die Leute stürzten sich förmlich aus ihren Häusern und liefen[3] in Scharen nach dem Tor einer elenden Ausspannung, vor der zwei bedeckte Frachtwagen standen. Die Pferde waren noch angeschirrt, sie dampften vor Müdigkeit und Hitze, und man sah, daß sie soeben erst angekommen waren.

Ich hielt einen Augenblick an, um mich nach der Ursache des Auflaufs zu erkundigen, aber ich konnte von der neugierigen Bevölkerung keine Aufklärung bekommen. Die Leute beachteten meine Frage gar nicht, sondern drängten sich noch immer stoßend und lärmend nach der Ausspannung. Endlich sah ich einen Polizeisoldaten, der ein Bandelier trug und eine Flinte auf der Schulter hatte, an dem Tor, und ich winkte ihm mit der Hand, zu mir zu kommen. Ich bat ihn, mir den Grund zu dem Durcheinander mitzuteilen.

»Es ist nichts Wichtiges, mein Herr«, sagte er mir. »Wir haben hier nur ein Dutzend Freudenmädchen, die ich und meine Gefährten nach Havre de Grâce bringen, von wo sie nach Amerika eingeschifft werden. Es sind ein paar hübsche darunter, und das erregt offenbar das Interesse dieser biederen Landleute.«

Ich wäre mit dieser Erklärung weitergeritten, wenn mich nicht die Ausrufe einer alten Frau festgehalten hätten. Sie kam händeringend aus dem Gasthof und schrie, so etwas sei unmenschlich, da müßte einen ja Entsetzen und Mitleid überkommen.

»Was gibt es denn?« fragte ich sie.[4]

»Ach, mein Herr, kommen Sie herein,« sagte sie, »und sehen Sie selbst, ob ein solcher Anblick nicht herzzerreißend ist.«

Ich wurde jetzt doch neugierig und stieg vom Pferde, das ich meinem Stallknecht überließ. Nur mit Mühe konnte ich mich durch die Menge drängen und trat dann ins Haus, wo ich allerdings etwas sehr Ergreifendes sah.

Unter den zwölf Mädchen, die zu je sechs an der Taille zusammengekettet waren, befand sich eine, deren Gesicht und ganze Erscheinung so wenig zu ihrer augenblicklichen Lage zu passen schien, daß ich sie in jeder anderen Umgebung für eine Dame vom höchsten Rang gehalten hätte. Ihre Traurigkeit und der schmutzige Zustand ihrer Wäsche und ihrer Kleidung beeinträchtigten ihre Schönheit so wenig, daß ihr Anblick mir Achtung und Mitleid einflößte. Sie versuchte trotzdem, soweit es ihr die Kette erlaubte, sich abzuwenden, um ihr Gesicht vor den Blicken der Zuschauer zu verbergen. Die Bewegung, die sie machte, um sich zu verstecken, war so natürlich, daß sie aus einem Gefühl der Bescheidenheit zu kommen schien.

Da sich die sechs Wachtsoldaten, die diese unglückliche Schar begleiteten, ebenfalls im Zimmer befanden, nahm ich ihren Anführer zur Seite und bat ihn, mir etwas Genaueres über das Schicksal dieses schönen Mädchens mitzuteilen. Er konnte mir aber nur eine ganz allgemeine Auskunft geben.[5]

»Wir haben sie«, sagte er mir, »auf Anordnung des Herrn Polizeipräfekten aus dem Arbeitshaus geholt. Sicherlich war sie nicht wegen ihrer guten Aufführung dorthin gelangt. Ich habe sie unterwegs wiederholt ausgefragt, sie weigert sich aber hartnäckig, mir zu antworten. Obwohl ich nun keine Anweisung erhalten habe, sie mehr als die anderen zu schonen, habe ich ihr doch immer einige Erleichterungen zukommen lassen, denn sie scheint mir etwas besser zu sein, als ihre Gefährtinnen. Übrigens,« fügte der Beamte hinzu, »dort ist ein junger Mann, der Ihnen besser als ich über die Ursachen ihres Mißgeschicks Auskunft geben könnte. Er ist ihr von Paris aus gefolgt und hat kaum einen Augenblick aufgehört, zu weinen. Er muß entweder ihr Bruder oder ihr Geliebter sein.«

Ich wandte mich nach der Zimmerecke, wo dieser junge Mann saß. Er schien in tiefes Grübeln versunken zu sein. Niemals habe ich ein lebendigeres Bild des Schmerzes gesehen. Er war sehr einfach gekleidet, aber man erkannte auf den ersten Blick einen Mann von Stand und guter Erziehung. Ich näherte mich ihm. Er erhob sich, und ich entdeckte in seinem Blick, in seinen Gesichtszügen und in seinen ganzen Bewegungen etwas so Vornehmes und Edles, daß in mir unwillkürlich ein wohlwollendes Gefühl für ihn aufstieg.

»Hoffentlich störe ich Sie nicht«, sagte ich, indem ich mich neben ihn hinsetzte. »Möchten Sie wohl meine Neugierde[6] befriedigen, etwas über diese schöne Person zu erfahren, die mir durchaus nicht für den traurigen Zustand geschaffen scheint, in dem ich sie erblicke.«

Er antwortete mir aufrichtig, daß er mir nicht sagen könne, wer sie sei, ohne sich dabei auch zu nennen, und er habe bestimmte Gründe, unbekannt bleiben zu wollen. »Ich kann Ihnen aber trotzdem mitteilen, was diese Elenden da auch schon wissen«, fuhr er fort und wies auf die Polizisten. »Nämlich, ich liebe sie mit einer solchen heftigen Leidenschaft, daß ich dadurch zum unglücklichsten aller Menschen werde. Ich habe in Paris alles versucht, sie frei zu machen. Aber alle Rechtsgesuche, Schleichwege und Gewaltanwendungen waren vergebens, und so habe ich mich entschlossen, ihr zu folgen, selbst wenn es bis an das Ende der Welt geht. Ich werde mich mit ihr einschiffen und nach Amerika fahren.«

»Was aber das Unmenschlichste ist,« fügte er hinzu, indem er wieder auf die Polizisten wies, »diese feigen Halunken wollen mir nicht erlauben, mich ihr zu nähern. Ich hatte die Absicht, sie einige Meilen von Paris entfernt offen anzugreifen, und mich mit vier Mann verbunden, die mir für eine beträchtliche Summe ihre Hilfe versprochen hatten. Die Verräter ließen mich einfach im Stich und machten sich mit meinem Geld davon. Da es mir nun auf diese Weise unmöglich wurde, mit Gewalt etwas auszurichten, streckte ich die Waffen. Ich schlug aber den Polizisten[7] vor, mir wenigstens zu gestatten, ihnen zu folgen, wofür ich sie entschädigen wollte. Geldgierig stimmten sie zu. Sie wollten aber jedesmal bezahlt werden, wenn sie mir die Gelegenheit gewährten, mit meiner Geliebten zu sprechen. In kurzer Zeit hat sich meine Börse geleert, und jetzt, da ich keinen Sou mehr habe, stoßen sie mich brutal zurück, wenn ich einen Schritt auf sie zu mache. Erst vorhin, als ich mich ihr trotz ihrer Drohungen zu nähern wagte, besaßen sie die Unverschämtheit, eine Gewehrmündung auf mich zu richten. Um ihrer Habgier Genüge zu tun und den Weg zu Fuß fortsetzen zu können, bin ich gezwungen, hier ein armseliges Pferd, das mich bisher getragen hat, zu vekaufen.«

Obgleich er diesen Bericht scheinbar mit ziemlicher Ruhe gab, fielen ihm doch zum Schluß einige Tränen aus den Augen. Mir erschien sein ganzes Abenteuer ungewöhnlich seltsam und ergreifend.

»Ich dränge Sie nicht,« sagte ich zu ihm, »mir Ihr Geheimnis zu entdecken; aber wenn ich Ihnen in irgendeiner Beziehung nützlich sein kann, so stehe ich Ihnen ganz zur Verfügung.«

»Ach,« antwortete er, »ich sehe nicht den kleinsten Hoffnungsschimmer. Ich muß mich meinem Schicksal in seiner ganzen Strenge unterwerfen. Ich gehe daher nach Amerika; dort werde ich wenigstens frei sein mit der, die ich liebe. Ich habe an einen meiner Freunde geschrieben,[8] der mir in Havre de Grâce einige Hilfe erweisen wird. Meine einzige Sorge ist, glücklich dorthin zu gelangen und unterwegs diesem armen Geschöpf soviel Erleichterung wie möglich zu verschaffen.«

Damit warf er seiner Geliebten einen traurigen Blick zu.

»Ich will Ihre Sorgen erleichtern«, sagte ich. »Hier ist etwas Geld, nehmen Sie es, bitte, an. Es tut mir leid, daß ich Ihnen nicht in anderer Weise dienen kann.«

Ich gab ihm, ohne daß die Wächter es bemerken konnten, vier Louisdor, denn ich begriff wohl, daß sie ihm ihre Vergünstigungen viel teurer verkaufen würden, wenn sie es gewußt hätten. Mir kam sogar der Einfall, mit ihnen einen Handel abzuschließen, um dem jungen Liebenden die Erlaubnis zu verschaffen, bis Havre jederzeit mit seiner Geliebten reden zu können. Ich winkte also dem Anführer, zu mir zu kommen, und machte ihm einen entsprechenden Vorschlag. Trotz seiner Frechheit schien er sich etwas zu schämen.

»Nicht, daß wir uns weigern, mein Herr,« antwortete er mit verwirrter Miene, »ihn mit diesem Mädchen reden zu lassen. Aber er möchte am liebsten immerfort bei ihr sein, und das wird uns unbequem. Da ist es doch nicht mehr wie recht, daß er uns etwas für diese Unbequemlichkeit bezahlt.«

»Gut,« sagte ich zu ihm, »wieviel wäre dann nötig, um Ihnen diese Unbequemlichkeit weniger fühlbar zu machen?«[9]

Er besaß die Dreistigkeit, zwei Louisdor zu verlangen; ich gab sie ihm sofort.

»Aber nehmen Sie sich wohl in acht,« sagte ich zu ihm, »daß Sie mich nicht betrügen. Ich werde diesem jungen Mann meine Adresse geben, damit er mir darüber berichten kann, und seien Sie überzeugt, daß ich wohl in der Lage bin, Sie zur Rechenschaft zu ziehen.«

Die Sache kostete mich also sechs Louisdor.

Der vornehme Anstand und die aufrichtige Erkenntlichkeit, mit der dieser junge Unbekannte mir dankte, brachten mich zu der Überzeugung, daß er von edler Herkunft war und meine Freigebigkeit wohl verdiente. Ehe ich ging, sprach ich auch noch einige Worte mit seiner Geliebten. Sie antwortete mir mit einer so sanften und anmutigen Bescheidenheit, daß mir beim Weiterreiten unwillkürlich tausend Gedanken über den unbegreiflichen Charakter der Frauen kamen.

Ich langte wieder in meiner Einsamkeit an und erhielt keine Nachrichten über den weiteren Verlauf dieses Abenteuers. Es vergingen dann fast zwei Jahre, und ich hatte es gänzlich vergessen, als der Zufall mir Gelegenheit gab, einen genauen Bericht darüber in allen Einzelheiten kennenzulernen.

Ich war mit meinem Schüler, dem Marquis de ***, von London nach Calais gekommen und, wenn ich mich recht erinnere, im »Goldenen Löwen« abgestiegen, wo uns[10] bestimmte Gründe zwangen, den ganzen Tag und die folgende Nacht zu verbringen. Als ich des Nachmittags durch die Straßen schlenderte, glaubte ich denselben jungen Menschen zu erkennen, mit dem ich das Zusammentreffen in Passy gehabt hatte. Er befand sich in sehr schlechter Kleidung und war viel blasser, als ich ihn das erste Mal gesehen hatte. Offenbar war er gerade in der Stadt angekommen, denn er trug unter dem Arm ein altes Felleisen. Da er aber ein so schönes Gesicht hatte, das man nicht so leicht vergaß, wußte ich sofort, mit wem ich es zu tun hatte.

»Wir müssen diesen jungen Mann ansprechen«, sagte ich zu dem Marquis.

Seine Freude war fast unbeschreiblich, als er mich ebenfalls erkannte.

»Ach, mein Herr,« rief er und küßte mir die Hand, »ich kann Ihnen also doch noch einmal meine unauslöschliche Dankbarkeit aussprechen!«

Ich fragte ihn, woher er käme. Er sagte mir, er käme zu Schiff von Havre de Grâce, wohin er vor kurzem aus Amerika zurückgekehrt wäre.

»Sie scheinen mir nicht in sehr guten Geldumständen zu sein«, sagte ich zu ihm. »Gehen Sie zum ›Goldenen Löwen‹, wo ich auch wohne. Ich werde Sie dort sofort treffen.«

Ich kehrte dann auch wirklich um, denn ich war voller[11] Neugierde, die Einzelheiten seines Mißgeschicks und die Umstände seiner Amerikareise zu erfahren. Ich erwies ihm tausend Aufmerksamkeiten und gab Anweisung, es ihm an nichts fehlen zu lassen. Er wartete nicht ab, bis ich ihn bat, mir seine Lebensgeschichte zu erzählen.

»Mein Herr,« sagte er, »Sie haben so edel an mir gehandelt, daß ich es mir als eine abscheuliche Undankbarkeit anrechnen müßte, wenn ich Ihnen irgend etwas von mir verheimlichte. Ich will Ihnen daher nicht nur mein Unglück und meine Leiden erzählen, sondern auch meine Fehler und meine schändlichsten Schwächen. Ich bin sicher, wenn Sie mich auch verdammen, so werden Sie doch zugleich auch nicht umhin können, mich zu beklagen.«

Ich muß hier dem Leser mitteilen, daß ich seine Geschichte fast sofort, nachdem ich sie hörte, niederschrieb, und daß es daher sicherlich nichts Genaueres und Wahrheitsgetreueres geben kann als diese Erzählung. Ich gebe auch ebenso wahrheitsgetreu die Ge danken und Gefühle wieder, die der junge Abenteurer in der elegantesten Form von der Welt zum Ausdruck brachte.

Hier folgt also sein Bericht, dem ich bis zur letzten Zeile nichts hinzufüge, was nicht von ihm ist:

Ich war siebzehn Jahre alt und beendete die oberste Klasse auf dem Gymnasium zu Amiens, wohin mich meine Eltern, die zu einer der ersten Familien von P***[12] gehören, geschickt hatten. Ich führte ein so besonnenes und geregeltes Leben, daß mich meine Lehrer für ein Musterbeispiel des Gymnasiums erklärten. Nicht, daß ich mir besondere Mühe gab, diese Lobsprüche zu verdienen, aber ich besaß von Natur eine sanfte und ruhige Veranlagung und eine besondere Neigung zum Studieren, so daß man mir meine natürliche Abneigung gegen das Laster als Tugend anrechnete. Meine Herkunft, der Erfolg meiner Studien und einige äußerliche Vorzüge brachten mir die Bekanntschaft und Achtung aller besseren Leute der Stadt.

Die öffentliche Prüfung bestand ich mit so allgemeinem Beifall, daß der Herr Bischof, der ihr beiwohnte, mir vorschlug, mich dem geistlichen Stand zu widmen, in dem ich mir, wie er sagte, größere Auszeichnung verschaffen würde als in dem Malteserorden, für den mich meine Eltern bestimmt hatten. Sie ließen mich schon das Malteserkreuz tragen unter dem Namen eines Chevalier des Grieux. Als die Ferien kamen, traf ich meine Vorbereitungen, zu meinem Vater zurückzukehren, der versprochen hatte, mich bald auf die Ritterakademie zu schicken.

Beim Abschied von Amiens war es mein einziges Bedauern, daß ich dort einen Freund zurückließ, mit dem ich immer aufs zärtlichste vereinigt gewesen war. Er zählte einige Jahre mehr als ich, und wir waren zusammen erzogen worden. Da aber seine Familie nur wenig begütert war, hatte er nur die Wahl, sich dem geistlichen Stande[13] zu widmen, und er mußte in Amiens zurückbleiben, um hier die zu diesem Beruf nötigen Studien zu betreiben. Er hatte unendlich viele gute Eigenschaften, seine besten werden Sie im Verlauf meiner Geschichte kennenlernen, in der vor allem seine Hingabe und sein Edelmut alles übertreffen. Hätte ich damals seinen Rat befolgt, dann wäre ich immer weise und glücklich geblieben. Und selbst in dem Abgrund, in den mich meine Leidenschaften gestürzt haben, hätte ich immer noch etwas aus dem Schiffbruch meines Vermögens und meines Rufs gerettet, wenn ich dann wenigstens aus seinen Vorwürfen Nutzen gezogen hätte. Aber für alle seine Bemühungen hat er nur den Schmerz geerntet, einzusehen, daß sie umsonst waren und manchmal übel belohnt wurden durch einen Undankbaren, der sie übelnahm oder sie als Zudringlichkeiten auffaßte.

Ich hatte die Zeit meiner Abreise von Amiens fest gesetzt. Ach, warum setzte ich sie nicht für einen Tag früher fest! Dann hätte ich meinem Vater meine ganze Unschuld zurückgebracht. Es war gerade am Tage vor meiner festgesetzten Abreise aus der Stadt, und ich schlenderte mit meinem Freund, der Tiberge hieß, durch die Straßen, als wir den Postwagen aus Arras ankommen sahen, und ihm zu dem Gasthof, wo diese Wagen halten, folgten. Uns trieb dabei nichts anderes als die Neugierde. Verschiedene Frauen stiegen aus und verschwanden dann.[14] Eine aber, eine sehr junge, blieb allein auf dem Hof, während ein Mann von vorgerücktem Alter, der ihr als Führer zu dienen schien, bemüht war, ihr Gepäck herauszuschaffen. Sie erschien mir so reizend, daß ich, der ich niemals an die Verschiedenheit der Geschlechter gedacht, noch ein Mädchen mit irgendwelcher Aufmerksamkeit betrachtet hatte, daß ich, dessen Vernünftigkeit und Zurückhaltung von aller Welt bewundert wurde, plötzlich bis zum Wahnsinn entflammt wurde. Ich besaß den Fehler, daß ich außerordentlich schüchtern und leicht aus der Fassung zu bringen war, aber in diesem Augenblick verspürte ich von meiner Schwäche durchaus nichts und ging ohne weiteres auf die Herrin meines Herzens zu.

Obgleich sie noch jünger war als ich, nahm sie meine Höflichkeiten ohne bemerkbare Verlegenheit entgegen. Ich fragte sie, warum sie nach Amiens käme, und ob sie hier Bekannte hätte. Sie antwortete mir unbefangen, ihre Eltern schickten sie hierher, damit sie Nonne würde. Die Liebe hatte mich in dem Augenblick, seit sie von mir Besitz genommen, schon so erleuchtet, daß ich diese Absicht als einen tödlichen Schlag für meine Wünsche empfand. Ich sprach zu ihr in einer Art, die ihr meine Gefühle wohl verständlich machte, denn sie war viel erfahrener als ich. Man schickte sie ja gerade deshalb ins Kloster, um ihrem Hang zum Vergnügen entgegenzutreten, der sich schon damals bei ihr gezeigt hatte, und der in der Folge ihr[15] und mein Unglück herbeiführen sollte. Ich bekämpfte die grausame Absicht ihrer Eltern mit allen Gründen, die meine wachsende Liebe und meine scholastische Beredsamkeit mir nur eingeben konnten.

Sie zeigte sich weder streng noch abweisend. Sie sagte mir nach einem Augenblick des Schweigens, daß sie nur zu gut voraussähe, wie unglücklich sie sein würde, aber daß das wohl offenbar der Wille des Himmels sei, indem er ihr keine Möglichkeit ließe, diesem Schicksal auszuweichen. Ihre sanften Blicke, der Zauber ihres traurigen Gesichts, während sie dieses sagte, vielleicht auch mein böses Gestirn, das mich ins Verderben ziehen wollte, gestatteten mir nicht, einen Augenblick mit meiner Antwort zu zögern. Ich versicherte ihr, wenn sie sich ein wenig auf meine Ehre und auf die unendliche Neigung, die sie mir schon jetzt einflößte, verlassen wollte, dann würde ich mein Leben daran setzen, sie aus der Tyrannei ihrer Eltern zu befreien und glücklich zu machen.

Ich habe mich später, wenn ich darüber nachdachte, unendlich oft verwundert, woher mir damals diese Kühnheit und Gewandtheit im Ausdruck kam. Aber man hätte nie aus der Liebe eine Gottheit gemacht, wenn sie nicht manchmal Wunder wirkte. Ich fügte noch tausend beschwörende Worte hinzu.

Meine schöne Unbekannte wußte gut, daß man in meinem Alter kein Betrüger ist. Sie gestand mir, wenn[16] ich eine Möglichkeit sähe, sie zu befreien, daß sie mir dann Köstlicheres als ihr Leben schuldig zu sein glaubte. Ich wiederholte ihr, ich sei bereit, alles zu unternehmen. Da ich aber nicht genug Erfahrung besaß, um mir plötzlich einen Weg, ihr zu helfen, auszudenken, verharrte ich bei dieser unbestimmten Versicherung, die weder ihr noch mir viel helfen konnte.

Ihr bejahrter Argus war inzwischen zu uns herangetreten, und alle meine Hoffnungen wären zu nichts zerronnen, hätte sie nicht genügend Witz gehabt, um der Unfruchtbarkeit meines eigenen zu helfen. Zu meinem Staunen redete sie mich bei der Ankunft ihres Führers mit Vetter an und sagte mir ohne den geringsten Anschein irgendeiner Verlegenheit, sie sei sehr glücklich, mich hier in Amiens getroffen zu haben. Sie wollte deshalb ihren Eintritt ins Kloster auf den nächsten Tag verschieben, um das Vergnügen zu genießen, mit mir zu Abend zu speisen. Ich verstand sehr gut den Sinn dieser List und schlug ihr vor, in einem Gasthof zu übernachten, dessen Besitzer sich in Amiens niedergelassen hatte, nachdem er lange Zeit bei meinem Vater Kutscher gewesen, und der mir in jeder Beziehung ergeben war.

Ich führte sie selbst dorthin, während der alte Begleiter ein wenig zu murren schien, und mein Freund Tiberge, der überhaupt nichts von diesem Vorgang begriff, ohne ein Wort zu sprechen, folgte. Unsere Unterhaltung hatte[17] er nicht gehört, da er, während ich meiner schönen Gebieterin Liebesworte zuflüsterte, im Hofe auf und ab ging. Da ich mich vor seiner Sittsamkeit fürchtete, entledigte ich mich seiner, indem ich ihn um eine Besorgung bat. So hatte ich also das Vergnügen, als ich zur Herberge kam, die Königin meines Herzens allein zu unterhalten.

Ich erkannte bald, daß ich weniger Kind war, als ich es zu sein glaubte. Mein Herz öffnete sich tausend Empfindungen der Lust, von denen ich niemals etwas geahnt hatte. Eine süße Glut durchrann alle meine Adern. Ich befand mich in einem Zustand der Verzücktheit, die mich manchmal des Gebrauchs der Sprache beraubte, und der ich nur durch meine Blicke Ausdruck geben konnte.

Fräulein Manon Lescaut, denn das war, wie sie mir erzählte, ihr Name, schien von diesem Eindruck ihrer Reize sehr befriedigt zu sein. Wie ich zu bemerken glaubte, war sie nicht weniger bewegt als ich. Sie gestand mir, daß sie mich liebenswert fände und entzückt sein würde, mir ihre Freiheit zu verdanken. Sie wollte wissen, wer ich sei, und diese Kenntnis vermehrte noch ihre Zuneigung, denn sie war nur von gewöhnlicher Herkunft und fühlte sich geschmeichelt, einen solchen Geliebten, wie ich es war, erobert zu haben. Wir unterhielten uns über die Möglichkeiten, einander anzugehören.

Nach allen möglichen Erwägungen fanden wir kein anderes Mittel als das der Flucht. Wir mußten die[18] Wachsamkeit des Begleiters täuschen, der zwar nur ein Bedienter, aber durchaus kein dummer Mensch war. Wir einigten uns dahin, daß ich während der Nacht einen Reisewagen bereitstellen und in aller Frühe zurückkommen sollte, ehe man im Gasthof wach war. Dann wollten wir uns still davonmachen und geradeswegs nach Paris fahren, um uns dort trauen zu lassen. Ich besaß ungefähr fünfzig Taler, die die Frucht meiner kleinen Ersparnisse waren; sie hatte etwa das Doppelte. Als unerfahrene Kinder bildeten wir uns ein, daß diese Summe nie ein Ende nehmen könnte, und in gleichem Maße waren wir von dem Erfolg unserer sonstigen Pläne überzeugt.

Nachdem ich mit einem Genuß, wie ich ihn nie vorher empfunden, zu Abend gespeist hatte, zog ich mich zurück, um unseren Plan in die Wege zu leiten. Meine Maßnahmen waren um so leichter auszuführen, weil ich ja die Absicht hegte, am nächsten Tag zu meinem Vater zurückzukehren, und mein kleines Gepäck schon fertiggemacht war. Ich brauchte also nur meinen Koffer forttragen zu lassen und für fünf Uhr einen Wagen zu bestellen. Um diese Zeit mußten die Stadttore schon geöffnet sein. Aber nun fand ich ein Hindernis, an das ich nicht gedacht hatte, das aber um ein Haar meinen ganzen Plan vereitelt hätte.

Tiberge war zwar nur drei Jahre älter als ich, aber doch schon ein ziemlich gereifter Mensch von sehr beherrschter[19] Lebensführung. Er liebte mich mit einer außerordentlichen Zärtlichkeit, und der Anblick eines so hübschen Mädchens, wie es Fräulein Manon war, meine Beflissenheit, sie zu begleiten, und dann der auffallende Eifer, mit dem ich ihn fortgeschickt, hatten in ihm doch einigen Argwohn wegen meiner Liebe erweckt. Er hatte es nicht gewagt, in den Gasthof, wo er mich allein gelassen, zurückzukehren, denn er fürchtete, mich durch sein Erscheinen zu kränken. Aber er war zu meiner Wohnung gegangen, um dort auf mich zu warten, und ich fand ihn auch noch da, obgleich es bei meiner Ankunft schon zehn Uhr war. Seine Anwesenheit machte mich verdrießlich, was er leicht an meinem gezwungenen Wesen bemerkte.

»Ich bin überzeugt,« sagte er mir ganz offen, »daß du über einen Plan nachdenkst, den du vor mir verbergen willst. Ich sehe es an deinem Gesicht.«

Ich antwortete ihm ziemlich barsch, ich sei nicht verpflichtet, ihm über alle meine Pläne Rechenschaft zu geben.

»Gewiß nicht,« fuhr er fort. »Aber bisher hast du mich immer als einen Freund behandelt, und eine solche Eigenschaft setzt etwas Vertrauen und Offenheit voraus.«

Er drängte mich so stark und so anhaltend, ihm mein Geheimnis zu entdecken, daß ich, da ich ihm nie etwas verhehlt hatte, auch meine Liebe voll und ganz gestand. Er nahm meine Beichte mit einer so ausgesprochenen[20] Mißbilligung auf, daß ich unwillkürlich erzitterte. Ich bereute sofort meine Offenherzigkeit, mit der ich ihm meinen Fluchtplan mitgeteilt hatte.

Er sagte mir, er sei zu sehr mein Freund, um sich dem nicht mit all seinen Kräften zu widersetzen. Zunächst einmal wolle er mir alle Gründe vorhalten, die mich vielleicht noch umstimmen könnten. Wenn ich dann aber nicht von meinem abscheulichen Entschluß zurückträte, dann würde er Leute benachrichtigen, die der Sache ein Ende für immer machen könnten. Er hielt mir nun eine ernsthafte Strafrede, die über eine Viertelstunde dauerte und mit der Drohung endete, mich anzuzeigen, wenn ich ihm nicht mein Wort gäbe, mich anständiger und vernünftiger aufzuführen.

Ich war verzweifelt, mich so zur Unzeit verraten zu haben. Aber die Liebe hatte in den zwei oder drei Stunden meinen Verstand schon ziemlich geschärft, und da mir einfiel, daß ich ihm von der Absicht, meinen Plan schon am nächsten Morgen auszuführen, noch nichts gesagt hatte, so beschloß ich, ihn durch eine Doppelzüngigkeit zu täuschen.

»Tiberge,« sagte ich zu ihm, »ich glaube, daß du bis jetzt mein Freund gewesen bist, und ich wollte das durch mein Vertrauen erproben. Es ist wahr, daß ich verliebt bin, ich habe dir nur die Wahrheit gesagt. Was aber meine Flucht angeht, so ist das ein Unternehmen, das[21] man nicht unüberlegt durchführen darf. Komme mich morgen früh um neun Uhr abholen, ich will dich meiner Geliebten vorstellen, und du sollst selbst urteilen, ob sie es verdient, daß ich diesen Schritt für sie tue.«

Er verließ mich nach unendlichen Freundschaftsbeteuerungen.

Ich verbrachte die Nacht damit, alle meine Angelegenheiten zu ordnen, und als ich bei Tagesgrauen nach dem Gasthof zu Fräulein Manon ging, fand ich sie schon auf mich wartend. Sie stand an ihrem Fenster, das nach der Straße hinausging, so daß sie, als sie mich bemerkte, selbst kam, um mir zu öffnen. Geräuschlos verließen wir das Haus. Sie hatte kein anderes Gepäck als ihre Wäsche, die ich selbst trug. Der Wagen stand zur Abfahrt bereit, und wir entfernten uns schnell aus der Stadt.

Später werde ich berichten, was Tiberge tat, als er entdeckte, daß ich ihn getäuscht hatte. Sein Eifer für mich verlor dadurch nicht an Glut. Sie werden sehen, wie weit er ihn trieb, und wieviele Tränen ich vergießen mußte bei dem Gedanken, wie übel ich ihm vergolten habe.

Wir beeilten uns so sehr, weiterzukommen, daß wir noch vor Einbruch der Nacht in Saint-Denis anlangten. Ich war neben dem Wagen hergeritten, weswegen wir uns nur unterhalten konnten, wenn die Pferde gewechselt wurden. Aber jetzt, da wir uns so nahe bei Paris und damit sozusagen in Sicherheit befanden, nahmen wir uns[22] die Zeit, uns zu erfrischen, denn wir hatten seit unserer Abreise von Amiens noch nichts gegessen. So leidenschaftlich verliebt ich in Manon war, sie wußte mich doch zu überreden, daß sie nicht minder in mich verliebt sei. Wir hielten mit unseren Zärtlichkeiten so wenig zurück, daß wir gar nicht die Geduld hatten, zu warten, bis wir allein waren. Die Kutscher und Wirte sahen uns kopfschüttelnd an, und ich bemerkte, wie erstaunt sie waren, zwei Kinder unseres Alters sich bis zur Raserei lieben zu sehen.

Unseren Vorsatz, uns zu heiraten, vergaßen wir in Saint-Denis. Wir setzten uns über die Rechte der Kirche hinweg und waren Gatten, ehe wir noch weiter darüber nachgedacht hatten. Bei meiner zärtlichen und beständigen Veranlagung wäre ich sicherlich für mein ganzes Leben glücklich geblieben, wenn mir Manon die Treue bewahrt hätte. Je mehr ich sie kennenlernte, desto zahlreichere liebenswürdige Eigenschaften entdeckte ich an ihr. Ihr Verstand, ihr Herz, ihre Sanftmut und Schönheit umwanden mich mit so starken und süßen Fesseln, daß ich es als mein höchstes Glück betrachtet hätte, mich niemals von ihnen zu befreien. Wie furchtbar sollte sich das ändern! Das, was mir die Verzweiflung brachte, hätte mir das Glück bringen können. Ich bin der unglückseligste aller Menschen geworden gerade durch dieselbe Anhänglichkeit, von der ich das süßeste Schicksal und das vollkommenste Glück in der Liebe hätte erwarten dürfen.[23]

In Paris nahmen wir eine möblierte Wohnung. Sie lag in der Rue V... und zu meinem Unglück neben dem Hause des Herrn de B***, des bekannten Steuerpächters. Drei Wochen vergingen, während derer ich so von meiner Leidenschaft erfüllt war, daß ich wenig an meine Familie dachte und an den Kummer, den mein Vater über meine Abwesenheit empfinden mußte. Da ich aber trotz meiner Ausschweifung sonst sehr ruhig lebte, und auch Manon sich zurückhaltend betrug, so führte diese Stille unseres Daseins mich allmählich doch dahin, daß ich mich an meine Pflicht erinnerte.

Ich beschloß, mich, wenn es möglich war, mit meinem Vater auszusöhnen. Meine Geliebte war so liebenswürdig, daß ich nicht daran zweifelte, daß sie ihm gefallen würde, wenn ich nur ein Mittel fände, ihn von ihren geistigen und sonstigen Vorzügen zu überzeugen. Mit einem Wort, ich schmeichelte mir, seine Erlaubnis zur Heirat zu bekommen, nachdem meine Hoffnung, sie ohne diese Zustimmung zu heiraten, enttäuscht worden war. Ich teilte nun Manon meine Absicht mit und gab ihr zu verstehen, daß mich außer den Gefühlen der Liebe und Pflicht auch die Not dazu triebe, denn unser Geldvorrat hatte sehr schnell abgenommen, und ich glaubte nicht mehr daran, daß er unerschöpflich sei.

Manon nahm diesen Vorschlag kühl auf, doch kamen ihre Einwendungen nur aus ihrer großen Zärtlichkeit[24] und aus ihrer Furcht, mich zu verlieren. Denn, wenn mein Vater erst unsern Zufluchtsort kannte und nicht auf unsere Absicht einging, dann war nicht im geringsten daran zu zweifeln, welches grausame Verhängnis mir drohte. Auf meinen Einwand, die Not zwinge uns dazu, antwortete sie, wir hätten ja immer noch für einige Wochen zu leben, und nachher würde ihr schon die Zuneigung verschiedener Verwandten in der Provinz, an die sie schreiben wollte, einige Mittel verschaffen. Sie versüßte mir ihre Weigerung durch so hingebende und leidenschaftliche Zärtlichkeiten, daß ich, der ich nur in ihr lebte und nicht das geringste Mißtrauen gegen sie hegte, alle ihre Antworten und Entschlüsse billigte.

Ich hatte ihr die Verfügung über unser Geld und die Sorge, unsere gewöhnlichen Ausgaben zu bezahlen, überlassen. Allmählich bemerkte ich, daß unser Tisch besser bestellt war, und daß sie sich einige Kleidungsstücke von beträchtlichem Wert angeschafft hatte. Da ich wohl wußte, daß wir höchstens noch zwölf oder fünfzehn Pistolen besitzen konnten, äußerte ich mein Erstaunen über diese offenbare Vermehrung unseres Wohlstandes. Lachend bat sie mich, mir darüber keine Sorgen zu machen.

»Habe ich dir nicht versprochen,« sagte sie, »Geldquellen zu finden?«

Ich liebte sie mit viel zu großer Arglosigkeit, um so leicht einen wirklichen Verdacht zu schöpfen.[25]

Eines Nachmittags war ich mit dem Bescheid ausgegangen, daß ich länger als gewöhnlich fortbleiben würde, und wunderte mich bei der Rückkehr sehr, weil man mich zwei oder drei Minuten an der Tür warten ließ. Wir hatten ein kleines Mädchen zur Bedienung, das ungefähr von unserem Alter war. Als sie mir endlich öffnete, fragte ich sie, warum sie so lange gezögert hätte. Sie antwortete mir mit verwirrter Miene, sie hätte mein Klopfen überhört.

»Aber, wenn du mich nicht gehört hast,« sagte ich, »warum hast du mir dann überhaupt geöffnet?«

Ich hatte nämlich überhaupt nur einmal geklopft.

Meine Frage setzte sie in eine solche Verlegenheit, daß sie nicht genügend Geistesgegenwart zu einer Ausrede fand. Sie begann zu weinen und versicherte mir, es sei nicht ihr Fehler, denn die gnädige Frau habe ihr verboten, zu öffnen, ehe nicht Herr de B*** sich über die zur Wohnung gehörige Hintertreppe entfernt hätte.

Ich wurde jetzt so verwirrt, daß ich nicht die Kraft hatte, die Wohnung zu betreten. Ich beschloß, wieder hinabzusteigen, indem ich vorgab, mir sei noch eine Besorgung eingefallen. Ich gebot dem Mädchen, seiner Herrin zu sagen, ich käme im Augenblick zurück, sie sollte ihr aber nichts davon mitteilen, daß sie mit mir über Herrn de B*** gesprochen hätte.

Meine Bestürzung war so groß, daß ich Tränen vergoß,[26] während ich noch die Treppe hinabstieg, und ich wußte nicht einmal, welchem Gefühl diese Tränen entstammten. Ich betrat das erste beste Kaffeehaus, setzte mich an einen Tisch und stützte den Kopf auf meine Hände, um mir klar zu werden, was in mir vorging. Ich wagte kaum an das zu denken, was ich so eben erfahren hatte. Ich wollte es als eine Sinnestäuschung ansehen, und zwei- oder dreimal war ich nahe daran, nach der Wohnung zurückzukehren und mich zu stellen, als ob ich gar nichts gehört hätte. Es erschien mir so unmöglich, daß Manon mich verraten hätte, daß ich sogar in der bloßen Vermutung eine Beleidigung für sie sah. Ich betete sie an, das war sicher, und ich hatte ihr nicht mehr Beweise meiner Liebe gegeben, als ich von ihr empfangen hatte. Wie kam ich dazu, sie zu beschuldigen, sie sei weniger aufrichtig und treu als ich selber? Welchen Grund hätte sie auch gehabt, mich zu betrügen? Es war erst drei Stunden her, seit sie mich mit den zärtlichsten Liebkosungen überschüttet und die meinigen mit Entzücken empfangen hatte. Ich kannte mein eigenes Herz nicht besser als das ihrige.

»Nein, nein«, sagte ich zu mir. »Es ist unmöglich, daß Manon mich verraten hat. Sie hat keinen Grund, mich zu hassen.«

Trotzdem machten mir der Besuch und der schnelle Aufbruch des Herrn de B*** Gedanken. Mir fielen auch[27] die kleinen Anschaffungen Manons ein, die nicht zu unseren augenblicklichen Geldverhältnissen zu passen schienen. Und das Geständnis, das sie mir über Geldquellen gemacht hatte, die mir unbekannt waren? Ich hatte Mühe, so vielen Rätselfragen eine so günstige Auslegung zu geben, wie sie mein Herz er sehnte.

Andererseits hatte ich sie, seit wir uns in Paris befanden, fast niemals aus den Augen verloren. Bei allen Geschäften, Spaziergängen, Zerstreuungen waren wir immer zusammen gewesen, denn schon eine kurze Trennung hätte uns allzusehr betrübt. Wir mußten uns ja unaufhörlich sagen, daß wir uns liebten, und wären sonst vor Unruhe gestorben. Ich konnte mir daher fast keinen einzigen Augenblick denken, in dem sich Manon mit jemand anderem als mit mir hätte beschäftigen können.

Schließlich glaubte ich die Lösung des Geheimnisses gefunden zu haben. »Herr de B***«, sagte ich zu mir, »ist ein großer Geschäftsmann, der viele Beziehungen hat. Die Verwandten Manons werden sich seiner bedient haben, um ihr etwas Geld zukommen zu lassen. Vielleicht hat sie schon welches von ihm erhalten, und heute kam er, um ihr neues zu bringen. Zweifellos hat sie mir das absichtlich verheimlicht, um mir eine angenehme Überraschung zu bereiten. Vielleicht hätte sie auch schon mit mir darüber gesprochen, wenn ich in gewohnter Weise zurückgekommen wäre, statt mich hierhin zu setzen und trübe Gedanken[28] zu hegen. Sie wird es mir um so weniger verschweigen, da ich einfach selbst mit ihr darüber sprechen will.«

Ich durchdrang mich so stark mit dieser Meinung, daß meine Traurigkeit dadurch merklich gemildert wurde, und kehrte sofort in meine Wohnung zurück. Ich umarmte Manon mit gewohnter Zärtlichkeit, und sie empfing mich sehr liebenswürdig. Anfangs war ich geneigt, ihr meine Vermutungen, von deren Richtigkeit ich jetzt fest überzeugt war, mitzuteilen. Ich hielt mich aber zurück in der Hoffnung, daß sie mir vielleicht zuvorkommen würde, indem sie mir alles, was geschehen war, erzählte.

Das Abendessen wurde aufgetragen, und ich setzte mich mit sehr fröhlicher Miene zu Tisch. Aber beim Schein der Kerze, die zwischen ihr und mir stand, glaubte ich im Gesicht und in den Augen meiner Geliebten eine gewisse Traurigkeit zu bemerken. Diese Beobachtung machte mich ebenfalls traurig. Mir fiel auf, daß ihre Blicke in einer ganz anderen Art als sonst auf mich gerichtet waren, aber ich konnte nicht unterscheiden, ob dies Liebe oder Mitleid war. Jedenfalls schien es mir ein süßes, schmachtendes Gefühl zu sein. Ich betrachtete sie mit derselben Aufmerksamkeit, und vielleicht hatte sie die gleiche Mühe, an meinen Blicken den Zustand meines Herzens zu erraten. Wir dachten weder an Sprechen noch an Essen. Endlich sah ich, wie Tränen aus ihren schönen Augen fielen: heuchlerische Tränen![29]

»Ach, mein Gott!« rief ich aus. »Du weinst, liebe Manon? Du bist bis zu Tränen betrübt und sagst mir mit keinem Wort, was dir fehlt?«

Sie antwortete nur mit einigen Seufzern, die meine Unruhe noch vermehrten. Zitternd erhob ich mich und beschwor sie mit dem innigsten Ausdruck meiner Liebe, mir die Ursache ihres Weinens zu entdecken. Ich vergoß dabei selbst Tränen und trocknete die ihrigen. Ich war überhaupt mehr tot als lebendig. Ein Barbar wäre durch die Äußerungen meines Schmerzes und meiner Besorgnisse gerührt worden.

Während ich so ganz mit ihr beschäftigt war, hörte ich, daß mehrere Menschen die Treppe heraufkamen. Man klopfte leise an die Tür. Manon gab mir einen Kuß, und indem sie sich schnell aus meinen Armen losriß, trat sie in das Schlafzimmer, das sie sofort hinter sich zuschloß. Ich glaubte, sie wollte sich, da ihr Kleid etwas in Unordnung geraten war, vor den Augen der Fremden, die angeklopft hatten, verbergen. Ich öffnete ihnen selbst.

Kaum hatte ich die Tür aufgemacht, als ich mich von drei Männern ergriffen sah, die ich als Bediente meines Vaters erkannte. Sie behandelten mich behutsam, aber während zwei mich an den Armen festhielten, untersuchte der dritte meine Taschen und nahm ein kleines Messer heraus, den einzigen eisernen Gegenstand, den ich bei mir[30] hatte. Sie entschuldigten sich wegen der Notwendigkeit, den Respekt gegen mich zu vergessen, und sagten mir geradeheraus, daß sie auf Befehl meines Vaters handelten, und daß mich mein älterer Bruder unten in einem Wagen erwarte.

Ich war so verwirrt, daß ich mich ohne Widerstand, und ohne etwas zu antworten, wegführen ließ. Mein Bruder erwartete mich wirklich. Man setzte mich neben ihn in den Wagen, und der Kutscher, der schon Bescheid wußte, fuhr uns in schneller Fahrt nach Saint-Denis. Mein Bruder hatte mich zärtlich umarmt, aber er sprach nicht zu mir, so daß ich völlige Freiheit genoß, nach Belieben über mein Mißgeschick zu grübeln.

Ich befand mich zunächst in einem solchen Dunkel, daß ich auch nicht auf die geringste Mutmaßung kam. Ein grausamer Verrat war an mir begangen worden, aber durch wen? Tiberge war der erste, der mir einfiel.

»Verräter«, sagte ich. »Es ist um dein Leben geschehen, wenn sich mein Verdacht bestätigt.«

Aber dann fiel mir ein, daß er ja gar nichts von meinem Aufenthaltsort wußte und ihn daher unmöglich hatte verraten können. Manon zu verdächtigen, wäre etwas gewesen, dessen sich mein Herz niemals schuldig gemacht hätte. Zwar die ungewöhnliche Traurigkeit, die ich an ihr entdeckt hatte, ihre Tränen und der zärtliche Kuß, den sie mir gegeben, ehe sie sich zurückzog, erschienen[31] mir ziemlich rätselhaft, aber ich erklärte mir das alles schließlich als eine Art Vorgefühl unseres gemeinsamen Unglücks, und die ganze Zeit über, während ich über das Ereignis, das mich von ihr getrennt hatte, fast verzweifelte, war ich blind genug, mir einzubilden, daß sie noch mehr zu beklagen sei als ich.

Das Ergebnis meines Nachdenkens war, daß ich mir einredete, irgendein Bekannter hätte mich in den Straßen von Paris gesehen und meinem Vater davon Mitteilung gemacht. Dieser Gedanke tröstete mich. Ich rechnete darauf, mit einigen Vorwürfen und etwas strenger Behandlung, die mir die väterliche Autorität auferlegen würde, davonzukommen. Ich beschloß, sie ruhig zu ertragen und alles zu versprechen, was man von mir verlangte, um desto leichter bei der erstbesten Gelegenheit nach Paris zurückkehren zu können und meiner lieben Manon Leben und Freude wiederzugeben.

Wir waren in kurzer Zeit in Saint-Denis. Mein Bruder, der sich über mein Schweigen wunderte, schrieb das meiner Furcht zu. Er begann mich zu trösten und versicherte mir, ich hätte nichts von der Strenge meines Vaters zu befürchten, vorausgesetzt, daß ich willig wäre, ruhig zu meiner Pflicht zurückzukehren, und mich der Zuneigung, die er für mich hegte, würdig erwiese. Mein Bruder ließ mich die Nacht in Saint-Denis verbringen, doch mußten die drei Bedienten zur Vorsicht in meinem Zimmer schlafen.[32]

Sehr unangenehm war es mir dabei, daß ich mich in demselben Gasthof befand, in dem ich auf meiner Reise von Amiens nach Paris geschlafen hatte. Der Wirt und die Angestellten erkannten mich und verstanden jetzt meine ganze Geschichte.

»Ah,« hörte ich den Wirt sagen, »das ist ja der hübsche Herr, der vor sechs Wochen hier durchkam mit dem kleinen Fräulein, das er so sehr liebte. Wie reizend war sie doch! Die armen Kinder, wie haben sie sich geküßt! Wahrhaftig, es ist schade, daß man sie auseinandergebracht hat.«

Ich tat so, als hätte ich gar nichts gehört, und ließ mich so wenig wie möglich sehen.

Mein Bruder hatte in Saint-Denis einen zweisitzigen Wagen, in dem wir in aller Frühe abfuhren und am Abend des nächsten Tages zu Hause ankamen. Er sprach zunächst allein mit meinem Vater, um ihn zu meinen Gunsten zu stimmen, indem er ihm schilderte, mit welcher Sanftmut ich mich hatte fortführen lassen. Infolgedessen wurde ich weniger streng empfangen, als ich erwartet hatte. Mein Vater begnügte sich, mir einige allgemeine Vorwürfe zu machen wegen meines Vergehens, ohne seine Erlaubnis mich entfernt zu haben. Was meine Geliebte anging, so sagte er, ich hätte wohl verdient, was mir begegnet sei, indem ich mich mit einer Unbekannten eingelassen hätte. Allerdings habe er eine bessere Meinung[33] von meiner Klugheit gehabt, hoffe aber, daß dieses kleine Abenteuer mich vernünftiger machen würde.

Ich nahm diese Ansprache in dem Sinne auf, der sich mit meinen vorgefaßten Ansichten vertrug. Ich dankte meinem Vater für die Güte, mit der er mir Verzeihung erwiesen, und versprach ihm ein gehorsameres und ordentlicheres Leben. Im Grunde meines Herzens aber triumphierte ich, denn bei der Art, wie die Angelegenheit beigelegt war, zweifelte ich nicht, daß ich schon vor Ende der Nacht die Freiheit hätte, mich wieder aus dem Hause davonzuschleichen.

Wir setzten uns zum Abendessen zu Tisch, und man neckte mich wegen meiner Eroberung in Amiens und der Flucht mit dieser getreuen Geliebten. Ich nahm diese Anspielungen mit guter Laune auf und war sogar entzückt, mich über das unterhalten zu können, was unaufhörlich meine Seele erfüllte. Aber auf einige Bemerkungen, die mein Vater fallen ließ, horchte ich mit gespannter Aufmerksamkeit. Er sprach von der Falschheit und der eigennützigen Dienstbeflissenheit des Herrn de B***. Ich war verblüfft, als ich diesen Namen hörte, und bat meinen Vater bescheiden, sich näher zu erklären.

Er wandte sich an meinen Bruder und fragte ihn, ob er mir denn nicht die ganze Geschichte erzählt hätte. Mein Bruder antwortete, ich sei ihm auf der Fahrt so ruhig vorgekommen, daß er nicht geglaubt habe, ich hätte diese[34] Arznei zur Heilung von meiner Tollheit nötig. Ich bemerkte, daß mein Vater schwankte, ob er mir Näheres mitteilen sollte, und bat ihn so inständig, daß er mir schließlich Genüge tat, oder vielmehr, daß er mich mit dem schrecklichsten aller Berichte beinahe ermordete.

Er fragte mich zunächst, ob ich immer so einfältig gewesen sei, zu glauben, meine Geliebte hätte mich wirklich geliebt, und ich antwortete ihm dreist, ich sei dessen so sicher, daß nichts meinen Glauben erschüttern könne.

»Ha, ha, ha!« lachte er aus vollem Halse. »Das ist großartig! Du bist ein schöner Gimpel, mit solchen Ansichten gefällst du mir. Es ist wirklich schade, mein armer Chevalier, daß du in den Malteserorden eintrittst, denn du hast die wunderbarsten Anlagen zu einem geduldigen und bequemen Ehegatten!«

Er fügte noch eine Menge Spottworte dieser Art über das, was er meine Dummheit und Leichtgläubigkeit nannte, hinzu.

Endlich, da ich fortfuhr zu schweigen, sagte er mir, daß mich Manon nach der Abreise von Amiens vielleicht etwa vierzehn Tage lang geliebt haben könnte.

»Denn«, meinte er, »ich weiß, daß du am 28. des vorigen Monats von Amiens abgereist bist, und wir haben heute den 29. des gegenwärtigen. Elf Tage ist es her, daß Herr de B*** mir geschrieben hat, und ich nehme an, daß er acht gebraucht hat, um mit deiner Geliebten[35] völlig übereinzukommen. Wenn man also elf und acht von den einunddreißig Tagen abzieht, die zwischen dem 28. eines Monats bis zum 29. des folgenden liegen, so bleiben etwa zwölf.«

Das Gelächter brach nun von neuem los. Mir aber zog sich beim Anhören das Herz so krampfhaft zusammen, daß ich glaubte, ich würde es bis zum Ende dieser traurigen Geschichte nicht mehr aushalten.

»Ich muß dir also mitteilen,« fuhr mein Vater fort, »da du es noch nicht weißt, daß Herr de B*** das Herz deiner Prinzessin erobert hat. Natürlich schwindelt er, wenn er mir einreden will, daß er sie dir nur aus uneigennützigem Diensteifer für mich abspenstig gemacht hat. Er ist gerade der richtige Mann, um an einen ihm völlig Unbekannten, wie ich es bin, so edelmütige Gefühle zu verschwenden! Er hat von ihr erfahren, daß du mein Sohn bist, und um sich Unannehmlichkeiten durch dich vom Halse zu schaffen, hat er mir deine Adresse und deine Geldverlegenheit mitgeteilt und mir zu verstehen gegeben, man müsse sich deiner mit Gewalt versichern. Er erbot sich, mir deine Festnahme zu erleichtern, und in Befolgung seiner Anweisung und sogar der deiner Geliebten gelang es dann deinem Bruder, dich unvorbereitet festzunehmen. Sei also zufrieden mit der Dauer deines Triumphes. Du verstehst ziemlich schnell zu siegen, Chevalier, aber du verstehst nicht, deine Eroberungen fest zuhalten.«[36]

Ich besaß nicht die Kraft, eine Unterhaltung länger anzuhören, von der jedes Wort mein Herz durchbohrt hatte. Ich erhob mich vom Tisch, aber ich hatte kaum vier Schritte nach dem Ausgang des Zimmers getan, als ich ohne Gefühl und Bewußtsein zu Boden sank. Durch schnellen Beistand brachte man mich wieder zu mir. Ich öffnete die Augen, um einen Strom von Tränen zu vergießen, und meinen Mund, um die traurigsten und rührendsten Klagen auszustoßen.

Mein Vater, der mich immer zärtlich geliebt hat, bemühte sich mit seiner ganzen Innigkeit, mich zu trösten. Ich hörte seine Worte, aber ich verstand sie nicht. Ich beschwor ihn mit gefalteten Händen, mich nach Paris zurückkehren zu lassen, um de B*** niederzustechen.

»Nein,« sagte ich, »er hat nicht Manons Herz erobert, er hat ihr Gewalt angetan. Er hat sie durch ein Zaubermittel oder ein Gift verführt, er hat sie vielleicht mit roher Gewalt gezwungen. Manon liebt mich. Weiß ich denn das nicht allzu gut? Er wird sie mit dem Degen in der Hand bedroht haben, um sie zu zwingen, mich zu verlassen. Was wird er nicht versucht haben, um mir eine so wundervolle Geliebte zu rauben! O ihr Götter, ihr Götter, könnte es denn möglich sein, daß Manon mich verraten, daß sie aufgehört hätte, mich zu lieben?«

Da ich immerfort davon sprach, sofort nach Paris zurückzukehren, und da ich mich sogar jeden Augenblick[37] erhob, um das in die Wege zu leiten, sah mein Vater wohl, daß mich in dem wahnsinnigen Zustand, in dem ich mich befand, nichts zurückhalten könnte. Er führte mich in ein hochgelegenes Zimmer, wo er zwei Bediente bei mir ließ, die mich nicht aus den Augen lassen durften. Ich war außer mir, ich hätte tausendmal mein Leben geopfert, um nur eine Viertelstunde in Paris sein zu können.

Ich begriff nun auch, daß man mir jetzt, nachdem ich mich so offen ausgesprochen hatte, nicht so leicht erlauben werde, das Zimmer zu verlassen. Mit einem Blick maß ich die Höhe der Fenster über dem Erdboden, und da ich keine Möglichkeit sah, auf diesem Wege zu entfliehen, wandte ich mich vorsichtig an die beiden Bedienten.

Ich verpflichtete mich mit vielen Eidschwüren, später ihr Glück zu machen, wenn sie in meine Flucht einwilligten. Ich drängte sie, ich schmeichelte ihnen, ich drohte ihnen, aber alle meine Versuche blieben nutzlos. Da verlor ich jede Hoffnung. Ich beschloß, zu sterben, und warf mich aufs Bett mit der Absicht, es nicht mehr lebend zu verlassen. Die Nacht und den folgenden Tag verbrachte ich in dieser Lage, ich verweigerte auch die Annahme der Nahrung, die mir am Tage gebracht wurde.

Des Nachmittags besuchte mich mein Vater. Er hatte die Güte, mit den sanftesten Trostesworten meinen Schmerz zu lindern, und befahl mir so nachdrücklich, etwas zu essen, daß ich es aus Achtung vor seinem Gebote[38] tat. Einige Tage verflossen, während derer ich nichts zu mir nahm, außer in seiner Gegenwart und um ihm zu gehorchen. Er fuhr immerzu fort, Verstandesgründe zu entwickeln, die mich vernünftig machen und mir Verachtung gegen die ungetreue Manon einflößen sollten. Nun ist es sicher, daß ich keine Achtung mehr für sie empfand. Wie hätte ich auch das flatterhafteste und treuloseste aller Geschöpfe achten können? Aber ihr Bild, ihre reizenden Gesichtszüge, die ich tief in meinem Herzen bewahrte, lebten dort noch immer. Ich war mir darüber ganz klar.

»Ich kann sterben«, sagte ich zu mir. »Ich müßte es sogar nach soviel Schande und Schmerz. Aber, wenn ich tausend Tode stürbe, nie könnte ich die undankbare Manon vergessen.«

Mein Vater wunderte sich darüber, mich noch immer so stark von dieser Leidenschaft ergriffen zu sehen. Er kannte mich als einen Menschen von empfindsamem Ehrgefühl und war überzeugt, daß ihr Verrat mir Verachtung gegen sie einflößen müßte. Daher kam er auf den Gedanken, meine Hartnäckigkeit rühre nicht von dieser besonderen Liebesleidenschaft her, sondern von einer allgemeinen starken Neigung zum weiblichen Geschlecht. Er hatte sich so sehr in diese Ansicht vertieft, daß er sie eines Tages, indem er sich nur von seiner herzlichen Zuneigung zu mir leiten ließ, offen aussprach.[39]

»Chevalier,« sagte er zu mir, »ich hatte bisher die Absicht, dich das Kreuz des Malteserordens tragen zu lassen, aber ich sehe jetzt ein, daß deine Neigungen durchaus nicht dorthin gerichtet sind. Du liebst die hübschen Frauen, und ich bin gesonnen, dir eine auszusuchen, die dir gefallen wird. Sage mir daher offen, wie du über diesen Plan denkst.«

Ich antwortete ihm, daß ich keine Unterschiede mehr zwischen den Frauen machte, und daß ich sie nach dem Unglück, das mir zugestoßen sei, alle in gleichem Maße verachtete.

»Ich suche dir eine,« antwortete mein Vater lächelnd, »die deiner Manon gleichen, die aber treuer sein wird.«

»Ach,« sagte ich, »wenn Sie mir wirklich eine Güte erweisen wollen, dann geben Sie mir Manon zurück. Seien Sie überzeugt, teurer Vater, daß sie mich keineswegs verraten hat. Sie ist einer so schwarzen und grausamen Niederträchtigkeit gar nicht fähig. Es ist nur der ruchlose de B***, der uns alle getäuscht hat, Sie, Manon und mich. Wenn Sie wüßten, wie zärtlich und aufrichtig sie ist, wenn Sie sie kennten, Sie wür den sie selber lieben.«

»Du bist ein Kind«, erwiderte mein Vater. »Wie kannst du nach allem, was ich dir von ihr erzählt habe, deine Augen noch in dem Maße verschließen? Sie selbst hat dich deinem Bruder ausgeliefert. Wenn du klug wärest, würdest du sie bis auf ihren Namen vergessen und die Nachsicht, die ich dir entgegenbringe, benutzen.«[40]

Ich sah zu klar ein, daß er recht hatte. Es war nur eine unwillkürliche Regung gewesen, die mich veranlaßt hatte, so die Partei meiner Ungetreuen zu ergreifen.

»Ach«, sagte ich nach einem Augenblick des Schweigens. »Es ist nur allzu wahr, daß ich das unglückselige Opfer der abscheulichsten aller Gemeinheiten geworden bin. Ja,« fuhr ich fort, indem ich Tränen des Unwillens vergoß, »ich sehe wohl, daß ich nur ein Kind bin. Bei meiner Leichtgläubigkeit wurde es ihnen nicht schwer, mich zu täuschen. Aber ich weiß auch, was ich tun muß, um mich zu rächen.«

Mein Vater wollte wissen, welches meine Absicht wäre.

»Ich werde nach Paris gehen,« sagte ich, »das Haus dieses B*** in Brand stecken und ihn mit der treulosen Manon lebend verbrennen.«

Mein Vater lachte über diesen Wutausbruch und sorgte nur dafür, daß ich noch strenger in meinem Gefängnis bewacht wurde.

Ich verbrachte hier im ganzen sechs Monate, und im Anfang veränderte sich meine Stimmung wenig. Alle meine Gefühle waren nur eine fortwährende Abwechslung zwischen Haß und Liebe, Hoffnung und Verzweiflung, je nach dem Bilde, das ich mir in meinen Gedanken von Manon machte. Einmal sah ich in ihr nur das liebenswürdigste aller Mädchen und verschmachtete vor Sehnsucht, sie wiederzusehen. Ein andermal erschien sie mir[41] als eine gemeine und abscheuliche Dirne, und ich schwur tausend Eide, sie nur aufzusuchen, um sie zu bestrafen.

Man gab mir Bücher, die mein Herz auch wirklich etwas beruhigten. Ich las alle meine Autoren wieder und lernte neue kennen. Ich bekam wieder eine unendliche Lust zum Studium. Sie werden sehen, wie wertvoll mir dies in der Folge wurde. Die Erkenntnisse, die ich der Liebe verdankte, klärten mir manche Stellen im Horaz und Virgil auf, die mir vorher dunkel erschienen waren. Ich schrieb einen liebeatmenden Kommentar zum vierten Buch der Äneide. Er soll gedruckt werden, und ich schmeichle mir, daß er dem Publikum gefallen wird.

»Ach,« sagte ich, als ich ihn schrieb, »die getreue Dido hätte ein Herz wie das meinige gebraucht.«

Tiberge besuchte mich eines Tages in meinem Gefängnis. Ich war erstaunt über die Freude, mit der er mich umarmte. Bisher hatte ich noch keine Beweise seiner Zuneigung gehabt, nach denen ich in ihr etwas anderes sehen konnte als eine der einfachen Schülerfreundschaften, wie sie sich oft zwischen jungen Leuten von fast gleichem Alter bildet. Ich fand ihn seit den fünf oder sechs Monaten, die ich ihn nicht gesehen hatte, so verändert und entwickelt, daß mir sein Gesicht und die Art seines Redens unwillkürlich Achtung einflößten. Er sprach zu mir mehr als weiser Berater, denn als Schulfreund. Er beklagte die Verirrung, in die ich gefallen war, und beglückwünschte[42] mich zu meiner Heilung, die er für ziemlich vollständig hielt. Schließlich ermahnte er mich, aus dieser jugendlichen Verirrung den Nutzen zu ziehen, meine Augen über die Eitelkeit aller Vergnügungen aufzumachen.

Ich sah ihn erstaunt an, und er merkte es.

»Mein lieber Chevalier,« sagte er, »alles, was ich dir sage, ist fest begründet, und ich habe mich durch ernsthaftes Prüfen von seiner Wahrheit überzeugt. Ich hatte eine ebenso starke Neigung zur Sinnlichkeit wie du, aber der Himmel hat mir zur gleichen Zeit auch die Liebe zur Tugend gegeben. Ich habe meine Vernunft angewandt, um die Früchte der einen und der anderen miteinander zu vergleichen, und es hat mir nicht viel Mühe gemacht, ihre Unterschiede zu bemerken. Die Gnade des Himmels kam meinen Erwägungen zu Hilfe, und ich faßte für die Welt eine Verachtung ohnegleichen. Begreifst du nun, was mich noch zurückhält und was mich hindert, die Einsamkeit aufzusuchen? Es ist einzig die zärtliche Freundschaft, die ich für dich hege. Ich kenne die Vortrefflichkeit deines Herzens und Geistes, es gibt nichts Gutes, dessen du nicht fähig wärest. Das Gift des Vergnügens hat dich vom rechten Wege abgebracht. Welch ein Verlust ist das für die Tugend! Deine Flucht aus Amiens hat mir einen solchen Schmerz bereitet, daß ich seitdem keine zufriedene Stunde mehr gekostet habe. Du kannst es nach den Schritten beurteilen, die ich deswegen unternommen habe.«[43]

Er erzählte mir nun, wie er, als er bemerkte, daß ich ihn getäuscht und mit meiner Geliebten die Flucht ergriffen hatte, zu Pferde gestiegen und mir gefolgt war. Aber, da ich vor ihm einen Vorsprung von vier oder fünf Stunden hatte, war es ihm unmöglich gewesen, mich zu erreichen. Trotzdem langte er eine halbe Stunde nach meiner Abreise in Saint-Denis an, und da er nicht zweifelte, daß ich mich in Paris aufhielt, verbrachte er dort sechs Wochen, um mich vergeblich zu suchen. Er war überall hingegangen, wo ich mich nur hätte aufhalten können, und eines Tages erkannte er meine Geliebte im Theater. Sie trug einen so glänzenden Schmuck, daß er sich sagte, sie müsse wohl diesen Reichtum einem neuen Geliebten verdanken. Er folgte nun ihrem Wagen bis zu ihrem Hause und er fuhr von einem Bedienten, daß sie von einem Herrn de B*** unterhalten würde.

»Ich gab mich hiermit nicht zufrieden,« fuhr Tiberge fort, »sondern kam am nächsten Tage wieder, um aus ihrem eigenen Munde zu erfahren, was aus dir geworden sei. Als sie mich von dir reden hörte, ließ sie mich einfach stehen, und ich war gezwungen, in die Provinz zurückzukehren, ohne eine Aufklärung gefunden zu haben. Dort erfuhr ich dann dein Abenteuer und die tiefe Niedergeschlagenheit, die es dir gebracht hatte. Aber ich wollte dich nicht besuchen, ehe ich nicht sicher war, dich in einer ruhigeren Verfassung zu finden.«[44]

»Du hast also Manon gesehen?« antwortete ich ihm seufzend. »Ach, du bist viel glücklicher als ich, der ich verdammt bin, sie niemals wiederzusehen!«

Er machte mir Vorwürfe wegen meines Seufzers, der noch meine Neigung zu ihr zeigte. Dann aber erwies er mir so schmeichlerische Bemerkungen über meinen guten Charakter und meine edle Veranlagung, daß in mir von seinem ersten Besuch ab eine starke Neigung entstand, ebenso wie er auf alle Vergnügungen der Welt zu verzichten und in den geistlichen Stand einzutreten.

Diese Idee gefiel mir so sehr, daß ich, sobald ich wieder allein war, mich mit nichts anderem beschäftigte. Ich erinnerte mich der Worte des Herrn Bischofs von Amiens, der mir denselben Rat gegeben und mir das glücklichste Schicksal prophezeit hatte, wenn ich diesen Entschluß durchführen würde. Auch hatte die Frömmigkeit einen Anteil an meinen Erwägungen.

»Ich werde ein weises und christliches Leben führen«, sagte ich mir. »Ich werde mich mit den Wissenschaften und der Religion beschäftigen und infolgedessen gar nicht dazu kommen, an die gefährlichen Vergnügungen der Liebe zu denken. Die Ideale der großen Menge werde ich verachten, und da ich sicher bin, daß sich mein Herz nur nach dem sehnen wird, was es achten darf, so werde ich ebenso wenig Sorgen wie Wünsche haben.«

In dieser Art malte ich mir schon im voraus ein[45] ruhiges und einsames Leben aus. Ich dachte mir ein abgelegenes Haus mit einem kleinen Wäldchen und einem sanften Bach am Ende des Gartens, eine fein ausgewählte Bibliothek, eine kleine Zahl tugendhafter und verständiger Freunde, eine anständige, aber einfache und mäßige Küche. Dazu sollte dann ein Briefwechsel kommen mit einem Freund, der in Paris wohnen und mich über alle wichtigen Neuigkeiten unterrichten würde, weniger um meine Neugier zu befriedigen, als um mir über die törichten Erregungen der Weltmenschen eine Zerstreuung zu verschaffen.

»Würde ich so nicht glücklich sein?« fragte ich mich dann. »Wären dann nicht alle meine Wünsche erfüllt?«

Sicherlich schmeichelte dieser Vorsatz im höchsten Maße meinen Neigungen. Wenn ich aber meinen weisen Plan ganz bis zu Ende gedacht hatte, dann fühlte ich, daß mein Herz doch noch etwas erwartete, und daß, um nichts mehr zu wünschen in dieser wundervollen Einsamkeit, es nötig gewesen wäre, dort mit Manon zusammen zu sein.

Da aber Tiberge fortfuhr, mich häufig zu besuchen, um mich in dem Vorsatz, den er mir eingeflößt hatte, zu bestärken, so ergriff ich eine Gelegenheit, ihn auch meinem Vater mitzuteilen. Er erklärte mir, er sei entschlossen, seinen Kindern bei der Wahl ihres Berufes freie Hand zu lassen, und, wie ich nun auch über mich verfügen[46] wollte, so behielte er sich nur das Recht vor, ihnen dabei mit guten Ratschlägen zu helfen. Er wußte mir auch sehr weise zu raten, und zwar nicht, um mir meine Absicht zu verleiden, sondern um mir die dazu dienlichen Erfahrungen zu übermitteln.

Der Beginn des neuen Schuljahres nahte heran. Ich kam mit Tiberge überein, gemeinsam das Seminar von Saint-Sulpice zu beziehen, er, um seine theologischen Studien zu beenden, ich, um die meinigen zu beginnen. Durch seine bisherigen Verdienste, die dem Bischof der Diözese bekannt waren, erhielt er von diesem Prälaten vor unserer Abreise eine beträchtliche Unterstützung.

Mein Vater, der überzeugt war, daß ich von meiner Leidenschaft vollständig geheilt sei, machte durchaus keine Schwierigkeit, mich abreisen zu lassen. Wir kamen nach Paris, das geistliche Gewand trat an die Stelle des Malteserkreuzes, und der Name des Abbé des Grieux an die des Chevaliers. Ich widmete mich dem Studium mit einem solchen Eifer, daß ich in wenigen Monaten außerordentliche Fortschritte machte. Ich verbrachte sogar einen Teil der Nacht damit und verlor am Tage keine Minute. Mein Ruf war schon so glänzend, daß man mir bereits zu den Würden Glück wünschte, die ich sicherlich erringen würde, und ohne daß ich mich darum beworben hätte, wurde mein Name auf die Pfründenliste gesetzt. Auch vernachlässigte ich die Frömmigkeit nicht und gab[47] mich mit Glut allen religiösen Übungen hin. Tiberge, der dies alles als sein Werk betrachtete, war entzückt darüber, und manchmal sah ich, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen, wenn er sich zu dem, was er meine Bekehrung nannte, Glück wünschte.

Daß die Entschließungen der Menschen veränderlich sind, ist mir niemals erstaunlich vorgekommen. Eine Leidenschaft ruft sie ins Dasein, eine andere kann sie wieder zerstören. Aber wenn ich an die Heiligkeit derjenigen denke, die mich nach Saint-Sulpice geführt hatte, an die innere Freude, die der Himmel mich bei ihrer Durchführung kosten ließ, so erschrecke ich über die Leichtigkeit, mit der ich sie gebrochen habe. Wenn es wahr ist, daß der Beistand des Himmels stets von gleicher Kraft ist, wie es die der Leidenschaften sind, so möge man es mir erklären, durch welchen unheilvollen Einfluß man plötzlich aus den Bahnen seiner Pflicht herausgerissen wird, ohne des geringsten Widerstandes fähig zu sein, ohne die mindesten Gewissensbisse zu empfinden.

Ich glaubte mich ganz befreit von den Schwächen der Liebe. Es schien mir, als zöge ich das Lesen einer Seite des heiligen Augustin oder eine Viertelstunde christlicher Meditation allen Vergnügungen der Sinne vor, ohne die auszunehmen, die mir Manon angeboten hätte. Und doch stürzte mich ein unglückseliger Augenblick in den Abgrund, und mein Fall war um so weniger wieder gut[48] zu machen, als ich mich plötzlich wieder in derselben Tiefe befand, die ich verlassen hatte, und neue Ausschweifungen mich viel weiter bis zum untersten Boden dieses Abgrundes trugen.

Ich hatte fast schon ein Jahr in Paris zugebracht, ohne mich nach den Verhältnissen Manons zu erkundigen. Zuerst hatte mich diese Beherrschung viel Überwindung gekostet, aber infolge des stets bereiten Rats Tibergs und meiner eigenen Überlegungen gelang es mir doch, den Sieg davonzutragen. Die letzten Monate waren dann so ruhig verflossen, daß ich glaubte, ich hätte für immer dieses reizende und treulose Geschöpf vergessen.

Die Zeit kam, da ich in der theologischen Hochschule ein öffentliches Examen ablegen mußte, und ich ließ mehrere Personen von Ansehen bitten, mir dabei die Ehre ihrer Anwesenheit zu gewähren. Mein Name drang dadurch in alle Teile von Paris und kam auch zu den Ohren meiner Ungetreuen. Sie erkannte ihn wegen des Abbétitels nicht mit Sicherheit wieder, aber ein Rest von Neugierde, vielleicht auch etwas Reue über ihren Verrat (ich bin mir nie darüber klargeworden, welches von beiden Gefühlen es war), erweckten in ihr das Interesse an einem Namen, der dem meinigen so ähnlich war. So kam sie mit einigen Damen in die Sorbonne, wohnte meinem Examen bei und hatte zweifellos wenig Mühe, mich wiederzuerkennen.[49]

Ich selbst hatte nicht die geringste Kenntnis von ihrer Anwesenheit, denn es gibt ja bekanntlich an diesem Ort besondere Logen für Damen, in denen sie hinter einem Holzgitter verborgen sind. Ich kehrte also, mit Ruhm bedeckt und mit Lobsprüchen überhäuft, nach Saint-Sulpice zurück. Es war sechs Uhr abends, als man mir einen Augenblick nach meiner Rückkehr mitteilte, eine Dame wünschte mich zu sprechen. Ich ging sofort hin. Ach, ihr Götter, welch eine überraschende Erscheinung erblickte ich! Es war Manon!

Sie war es wirklich, aber schöner und strahlender, als ich sie jemals gesehen hatte. Sie befand sich jetzt in ihrem achtzehnten Lebensjahre, und ihre Reize übertrafen alles, was man nur beschreiben kann. Sie hatte ein so zartes, mildes und gewinnendes Gesicht, es war ein Bild der Liebe selbst. Ihre ganze Gestalt erschien mir wie etwas Überirdisches.

Bei ihrem Anblick blieb ich sprachlos stehen, und da ich nicht erraten konnte, was sie mit ihrem Besuch beabsichtigte, wartete ich zitternd und mit gesenktem Blick auf ihre Erklärung. Eine Zeitlang war sie ebenso verwirrt wie ich, da sie aber sah, daß ich fortfuhr, zu schweigen, hielt sie sich die Hand vor die Augen, um einige Tränen zu verbergen. Mit schüchterner Stimme gestand sie mir, daß ihre Untreue meinen Haß verdiene. Aber, wenn es wahr sei, daß ich jemals auch nur ein[50] wenig Liebe für sie empfunden habe, so sei es doch hart von mir gewesen, zwei Jahre verfließen zu lassen, ohne mir auch nur die Mühe zu geben, mich nach ihrem Schicksal zu erkundigen. Und es sei auch sehr grausam von mir, jetzt nicht einmal ein Wort an sie zu richten, da ich doch sähe, in welchen Zustand meine Gegenwart sie versetzt habe. Alle ihre Worte brachten mich in eine Verwirrung, die ich unmöglich schildern kann.

Sie setzte sich hin, während ich halb abgewandt stehenblieb und nicht wagte, sie direkt anzusehen. Ein paarmal begann ich eine Antwort, die zu vollenden ich aber nicht die Kraft hatte. Endlich nahm ich mich zusammen. »Treulose Manon!« schrie ich schmerzlich. »Oh, du Treulose, du Treulose!«

Unter heißen Tränen wiederholte sie mir, sie wollte ja gar nicht ihre Treulosigkeit rechtfertigen.

»Aber was wollen Sie denn?« schrie ich noch einmal.

»Ich will sterben,« antwortete sie, »wenn du mir nicht dein Herz wiedergibst, ohne das ich nicht leben kann.«

»Dann verlange mein Leben, du Ungetreue!« erwiderte ich und begann auch, Tränen zu vergießen, die ich vergebens zurückhielt. »Verlange mein Leben, das das einzige ist, was ich dir noch opfern kann. Mein Herz hat niemals aufgehört, dir zu gehören.«

Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, da erhob sie sich leidenschaftlich, um mich zu umarmen. Sie überhäufte[51] mich mit tausend glühenden Zärtlichkeiten. Sie nannte mich mit allen Namen, die die Liebe erfindet, um die tiefste Zärtlichkeit auszudrücken.

Ich antwortete ihr zuerst noch zurückhaltend. Welch ein Übergang war das ja auch in der Tat von dem ruhigen Dasein, in dem ich mich befunden hatte, zu den stürmischen Erregungen, die ich in mir anwachsen fühlte. Ich war von einem tiefen Schrecken ergriffen. Ich zitterte wie jemand, den die Nacht in einer verlassenen Gegend überfällt. Man fühlt sich in einer gespenstigen Welt und ist von einer unerklärlichen Angst erfüllt, die erst wieder nachläßt, nachdem man lange Zeit seine ganze Umgebung betrachtet hat.

Wir setzten uns jetzt nebeneinander, und ich nahm ihre Hände in die meinigen.

»Ach, Manon,« sagte ich zu ihr, indem ich sie mit traurigem Blick ansah, »ich hatte nicht den schändlichen Verrat erwartet, mit dem du mir meine Liebe bezahlt hast. Leicht war es dir, ein Herz zu täuschen, dessen unumschränkte Herrscherin du warst, und das sein ganzes Glück darin sah, dir zu gefallen und zu gehorchen. Sage mir jetzt, ob du je einen Menschen gefunden, der ebenso zärtlich und ebenso unterwürfig war. Nein, nein, die Natur schafft nicht noch einmal einen Menschen von meiner Art. Sage mir doch wenigstens, daß du es ein paarmal bereut hast. Womit soll ich deine plötzliche Güte[52] erklären, die dich heute hierherführte, um mich zu trösten? Ich sehe nur zu gut, daß du reizender bist als je, aber im Namen all der Qualen, die ich um deinetwillen erlitten habe, schöne Manon, sage mir, ob du mir in Zukunft treuer sein wirst.«

Sie antwortete mir mit so rührenden Ausdrücken ihrer Reue, sie versprach mir ihre Treue mit so vielen Versicherungen und Schwüren, daß sie mich in unaussprechlichem Maße rührte.

»Teure Manon,« sagte ich zu ihr mit einer unheiligen Mischung von Worten der Liebe und der Religion, »du bist zu anbetungswürdig für ein geschaffenes Wesen. Ich fühle mein Herz von einem alles überwindenden Entzücken fortgerissen. Alles, was man in Saint-Sulpice über die menschliche Freiheit sagt, ist eine Fabel. Ich werde mein Vermögen und meinen Ruf um deinetwillen verlieren, ich sehe das wohl voraus. Ich lese mein Schicksal in deinen schönen Augen. Aber gibt es wohl einen Verlust, über den mich deine Liebe nicht trösten könnte? Die Vorteile des Reichtums berühren mich nicht, der Ruhm erscheint mir wie ein Rauch. Alle meine Pläne eines geistlichen Lebens waren törichte Einbildungen. Kurz, alle Güter außer denen, die ich von dir erhoffe, sind verächtlich und wertlos, denn sie können sich in meinem Herzen nicht einen Augenblick gegen einen einzigen deiner Blicke halten.«[53]

Ich wollte nun wissen, auf welche Art sie sich von de B*** hatte verführen lassen, indem ich ihr zugleich eine vollständige Verzeihung für alles Vorgefallene zugestand.

Sie erzählte mir, daß er sie am Fenster gesehen und sich in sie verliebt habe. Er machte ihr seine Erklärung wie ein richtiger Steuerpächter, das heißt, er teilte ihr in einem Briefe mit, daß er sie entsprechend ihren Gunstbezeugungen bezahlen würde. Sie gab sich ihm auch bald hin, aber nur in der Absicht, aus ihm eine beträchtliche Summe herauszuziehen, die uns ein behagliches Leben verschaffen sollte. Er hatte sie durch so großartige Versprechungen geblendet, daß sie sich allmählich erweichen ließ. Daß sie, so sagte sie, dabei Gewissensbisse empfunden habe, könnte ich schon an dem Schmerze sehen, den sie am Abend unserer Trennung mir zeigte. Und trotz der Freigebigkeit, die er ihr erwies, sei sie bei ihm niemals glücklich gewesen, nicht nur weil sie bei ihm, wie sie sich ausdrückte, nicht das Zartgefühl meiner Empfindungen und meine Vornehmheit im Umgang gefunden habe, sondern auch, weil sie inmitten aller Vergnügungen, die er ihr unaufhörlich verschaffte, doch stets im Grunde ihres Herzens die Erinnerung an meine Liebe und die Reue über ihre Untreue fand.

Sie sprach zu mir von Tiberge und der ungeheuern Verwirrung, in die sie sein Besuch versetzte. »Ein Degenstich in mein Herz«, fügte sie hinzu, »hätte mein Blut[54] weniger erregt. Ich wandte ihm den Rücken, denn ich hätte seine Gegenwart auch nicht einen Augenblick ertragen können.«

Dann erzählte sie mir, auf welche Weise sie von meinem Aufenthalt in Paris, von meinem Wechsel des Berufs und von meiner Prüfung an der Sorbonne erfahren habe. Sie versicherte mir, sie sei während der Disputation so erregt gewesen, daß sie die größte Mühe gehabt habe, nicht nur ihre Tränen zurückzuhalten, sondern auch ihre Seufzer und Schreie, die mehr als einmal daran waren, aus ihr hervorzubrechen. Schließlich hatte sie, wie sie mir sagte, als letzte den Ort verlassen, um ihre Verwirrung zu verbergen, und war dann, einer Bewegung ihres Herzens und der Unwiderstehlichkeit ihres Verlangens folgend, ohne weiteres zum Seminar gegangen mit der Absicht, hier zu sterben, wenn sie mich nicht geneigt fand, ihr zu verzeihen.

Selbst der roheste Mensch wäre durch eine so aufrichtige und zärtliche Liebe gerührt worden. Ich aber fühlte in diesem Augenblick, daß ich für Manon alle Bistümer der Christenheit würde opfern können. Ich fragte, wie wir denn nun nach ihrer Meinung unsere gegenseitigen Beziehungen gestalten sollten. Sie sagte, ich müsse sofort das Seminar verlassen, und wir könnten uns dann an einem gesicherteren Ort eine Wohnung suchen.

Ich stimmte allen ihren Wünschen ohne Widerrede zu,[55] und sie stieg in ihren Wagen, um mich an der nächsten Straßenecke zu erwarten. Einen Augenblick später schlich ich mich hinaus, ohne daß der Türhüter etwas merkte. Ich setzte mich zu ihr, und wir fuhren zu einem Trödelhändler, wo ich Tressen und Degen anlegte. Manon bezahlte, denn ich hatte keinen Sou in der Tasche, da sie aus Furcht, irgendein Hindernis könnte sich meinem Entweichen aus Saint-Sulpice entgegenstellen, mir nicht erlaubt hatte, noch einen Augenblick in mein Zimmer zu gehen und mein Geld zu nehmen. Der Betrag wäre übrigens nicht hoch gewesen, sie aber besaß durch die Freigebigkeit des de B*** genug Geld, daß das von mir im Stich gelassene dagegen nicht zählte.

Wir besprachen gleich bei dem Trödler, was wir weiter unternehmen wollten, und um mir ihren Bruch mit de B*** von vornherein wertvoller zu machen, beschloß sie, ohne jede Rücksicht gegen ihn vorzugehen.

»Ich will ihm seine Möbel lassen«, sagte sie. »Sie gehören ihm. Aber ich behalte, wie es mein Recht ist, die Schmucksachen und etwa sechzigtausend Franken, die ich in den zwei Jahren von ihm bezogen habe. Ich habe ihm keine Rechte über mich gegeben«, fügte sie hinzu. »Wir können also ohne Furcht in Paris bleiben und ein angenehmes Haus beziehen, in dem wir glücklich leben.«

Ich hielt ihr vor, wenn sie auch keine Gefahr liefe, so wäre das doch bei mir ganz anders. Früher oder später[56] würde ich erkannt werden, und dann wäre ich demselben Unglück ausgesetzt, das ich schon einmal durchgemacht hätte. Sie gab mir zu verstehen, daß sie sich nicht gerne von Paris trennen möchte. Ich wollte sie nicht kränken und war daher gerne bereit, ihr zuliebe jeder Gefahr von der Welt zu trotzen. Schließlich aber fanden wir einen vernünftigen Mittelweg, nämlich in einem Nachbardorf von Paris ein Haus zu mieten. Von da konnten wir bequem nach der Stadt kommen, wenn uns ein Vergnügen oder eine Besorgung dazu veranlaßte. Wir wählten Chaillot, das ja nicht weit entfernt liegt. Manon fuhr sofort in ihre Wohnung, und ich ging zum kleinen Pförtchen des Tuileriengartens, um sie dort zu erwarten.

Eine Stunde später kam sie in einer Mietskutsche zurück. Sie hatte ein Mädchen bei sich, das sie bediente, und einige Koffer, in denen ihre Kleider und alles, was sie an wertvollen Dingen besaß, verschlossen waren.

Ohne zu zögern, fuhren wir nunmehr nach Chailott. Die erste Nacht verbrachten wir in einer Herberge, um uns mit Muße ein Haus oder wenigstens eine bequeme Wohnung zu suchen. Wir fanden auch am nächsten Tag eine Wohnung nach unserem Geschmack.

Mein Glück schien mir anfangs auf unerschütterlichen Grundlagen errichtet zu sein. Manon war die Sanftmut und Liebenswürdigkeit selbst. Sie erwies mir so zärtliche Aufmerksamkeiten, daß ich mich für alle ausgestandenen[57] Schmerzen völlig entschädigt glaubte. Da wir nun beide etwas Erfahrung erworben hatten, so berieten wir gemeinsam über die Dauerhaftigkeit unseres Vermögens. Sechzigtausend Franken, die die Grundlage unserer Reichtümer bildeten, waren doch keine Summe, die ein langes Leben hindurch ausreichen konnten. Auch waren wir beide nicht dazu veranlagt, unsere Ausgaben allzusehr einzuschränken. Sparsamkeit war weder Manons noch meine Haupttugend. Darum schlug ich ihr folgenden Plan vor:

»Sechzigtausend Franken«, sagte ich zu ihr, »können uns zehn Jahre erhalten. Wir kommen, wenn wir weiterhin in Chaillot leben, mit zweitausend Taler im Jahr aus. Wir führen dabei ein anständiges, aber einfaches Leben, und unsere einzige Nebenausgabe wird das Halten eines Wagens und der Besuch des Theaters sein. Alles das ordnen wir schon. Du liebst die Oper, und wir gehen zweimal in der Woche hin. Was das Spiel angeht, so beschränken wir uns darin so, daß wir nie über einen Verlust von zwei Pistolen hinausgehen. Es ist unmöglich, daß sich in einem Zeitraum von zehn Jahren keine Veränderung in einer Familie ereignen sollte. Mein Vater ist nicht mehr jung und kann sterben. Dann werde ich Vermögen besitzen, und wir brauchen uns weiter keine Besorgnisse zu machen.«

Diese Regelung wäre noch nicht die törichtste Handlung meines Lebens gewesen, wenn wir nur die Vernunft besessen[58] hätten, sie beharrlich zu befolgen. Aber unsere Beschlüsse dauerten kaum länger als einen Monat. Manon hatte einen leidenschaftlichen Hang zum Vergnügen, und ich betete sie an. Fast jeden Augenblick entstand für uns ein neuer Anlaß zu Geldausgaben, und weit entfernt, die Summen zu bedauern, die sie manchmal verschwenderisch ausstreute, ging ich sogar voran, ihr alles zu verschaffen, was mir nur geeignet schien, ihr zu gefallen. Sogar unsere Wohnung in Chaillot begann ihr lästig zu werden.

Der Winter nahte sich, alles zog in die Stadt zurück, und auf dem Lande wurde es einsam. Sie schlug mir vor, wieder ein Haus in Paris zu nehmen. Ich stimmte zwar nicht zu, aber, um ihr doch in gewissem Maße entgegenzukommen, sagte ich ihr, wir könnten uns ja ein möbliertes Zimmer mieten und dort die Nacht verbringen, wenn wir die Gesellschaft, die wir jede Woche mehrmals besuchten, zu spät verließen. Denn gerade die Unbequemlichkeit, so spät nach Chaillot zu kommen, war der Vorwand, weshalb sie von dort fortziehen wollte. Wir hielten uns also jetzt zwei Wohnungen, eine in der Stadt und eine auf dem Lande.

Dieser Wechsel aber sollte bald unsere Verhältnisse vollständig verwirren, denn durch ihn begegneten uns zwei Abenteuer, die zu unserm Untergang führten:

Manon hatte einen Bruder, der bei der Leibgarde diente, und er wohnte unglücklicherweise in Paris in derselben[59] Straße wie wir. Eines Morgens erkannte er seine Schwester, als sie an ihrem Fenster stand. Sofort lief er in unsere Wohnung. Er war ein roher Mensch, ohne Ehrgefühl. Als er in unser Zimmer trat, fluchte er abscheulich, und da er einiges von den Abenteuern seiner Schwester wußte, überhäufte er sie mit Beschimpfungen und Vorwürfen.

Ich war kurz vorher ausgegangen, was zweifellos sowohl für ihn wie für mich ein Glück war, denn ich war nicht der Mann, der eine Beleidigung ruhig hingenommen hätte. Ich kam auch erst zurück, als er schon fort war, erkannte aber sofort an der traurigen Miene Manons, daß etwas Ungewöhnliches geschehen sei. Sie erzählte mir den häßlichen Auftritt, den sie erlebt hatte, und die rohen Drohungen ihres Bruders. Ich erregte mich darüber so sehr, daß ich unverzüglich hingelaufen wäre, um Rache zu nehmen, wenn sie mich nicht mit ihren Tränen zurückgehalten hätte.

Während ich noch mit ihr über den Vorfall sprach, kehrte der Gardist, ohne sich anmelden zu lassen, wieder in das Zimmer zurück, in dem wir uns befanden. Ich hätte ihn nicht so höflich empfangen, wie ich es tat, wenn mir sein Charakter bekannt gewesen wäre. Aber, nachdem wir uns lächelnd begrüßt hatten, benutzte er die Gelegenheit, sich bei Manon wegen seiner Zornesaufwallung zu entschuldigen. Er habe geglaubt, sie befinde sich[60] in mißlichen Umständen, was seine Wut erst angefacht hätte. Jetzt aber, nachdem er einen unserer Diener befragt, habe er über mich so vorteilhafte Dinge erfahren, daß er den Wunsch hege, mit uns im besten Einvernehmen zu leben.

Obgleich diese Erkundigung bei einem meiner Diener etwas Merkwürdiges und Beleidigendes an sich hatte, nahm ich doch sein Lob mit Höflichkeit entgegen, weil ich glaubte, dadurch Manon einen Gefallen zu tun. Sie schien entzückt zu sein über seine versöhnliche Neigung, und wir behielten ihn zum Essen da.

In kurzer Zeit machte er sich so vertraulich, daß er, als wir von unserer Rückkehr nach Chaillot sprachen, uns unbedingt Gesellschaft leisten wollte. Wir mußten ihm schon einen Platz in unserem Wagen geben.

Es war einfach eine Besitzergreifung. Denn bald gewöhnte er sich daran, uns so häufig zu besuchen, daß unser Haus zu dem seinigen wurde, und daß er sich in gewisser Beziehung zum Herrn über unser ganzes Eigentum machte. Mich nannte er seinen Bruder, und unter dem Vorwand der brüderlichen Rechte erlaubte er sich, alle seine Freunde in unser Haus in Chaillot einzuführen und sie dort auf unsere Kosten zu bewirten. Er kleidete sich auf unsere Rechnung großartig ein, er veranlaßte uns sogar, alle seine Schulden zu bezahlen. Um Manon nicht zu mißfallen, übersah ich diese ganze Tyrannei so sehr,[61] daß ich sogar tat, als bemerkte ich nicht, wie er ihr von Zeit zu Zeit beträchtliche Summen abnahm. Er war ein großer Spieler und besaß allerdings noch so viel Ehrlichkeit, daß er ihr, wenn ihn das Glück begünstigte, einen Teil zurückzahlte. Aber unser Vermögen war zu mittelmäßig, um lange Zeit so riesige Ausgaben ertragen zu können.

Ich war schon im Begriff, ihm das alles einmal deutlich auseinanderzusetzen und uns von seiner Zudringlichkeit zu befreien, als ein trauriges Ereignis mir diese Mühe ersparte und etwas Schlimmeres herbeiführte, was uns rettungslos in den Abgrund stürzte.

Wir hatten eines Tages, wie das häufig geschah, in Paris übernachtet, als mich am nächsten Morgen die Dienerin, die bei solchen Gelegenheiten allein in Chaillot blieb, benachrichtigte, daß während der Nacht in meinem Hause ein Brand ausgebrochen sei, den man nur mit Mühe gelöscht habe. Ich fragte sie, ob unsere Möbel Schaden gelitten hätten, und sie antwortete mir, es habe durch die Menge von fremden Menschen, die zu Hilfe gekommen seien, eine solche Verwirrung geherrscht, daß sie für nichts gutsagen könnte. Mit Schrecken dachte ich an unser Geld, das in einer kleinen Kassette verschlossen war, und begab mich eiligst nach Chaillot. Meine Eile war nutzlos, die Kassette war schon verschwunden.

Jetzt erfuhr ich auch, daß man das Geld lieben kann,[62] ohne geizig zu sein. Der Verlust durchdrang mich mit einem so heftigen Schmerz, daß ich glaubte, darüber den Verstand zu verlieren. Ich begriff sofort, welchem neuen Unheil ich entgegenginge, und daß die Armut daran das kleinste war. Ich kannte Manon. Ich hatte es an ihr schon allzu gut erfahren, daß, wie treu und anhänglich sie mir im Glück auch sein mochte, ich doch im Unglück nicht auf sie rechnen durfte. Sie liebte zu sehr den Überfluß und das Vergnügen, um sie mir opfern zu können.

»Ich werde sie verlieren!« rief ich aus. »Ach, armer Chevalier, du wirst also von neuem alles verlieren, was du liebst!«

Dieser Gedanke versetzte mich in eine so schreckliche Bestürzung, daß ich einige Augenblicke schwankte, ob es nicht besser sei, allen meinen Übeln durch den Tod ein Ende zu machen.

Ich bewahrte jedoch noch so viel Geistesgegenwart, daß ich erst einmal prüfen wollte, ob mir denn gar keine Hilfe mehr bliebe. Der Himmel sandte mir auch einen Gedanken, der meiner Verzweiflung Halt gebot. Ich glaubte, es sei mir nicht unmöglich, unsern Verlust Manon zu verschweigen, und durch Tätigkeit und gutes Glück würde ich so viel für sie aufbringen, daß sie gar keinen Mangel verspürte.

»Ich habe darauf gerechnet,« sagte ich mir, um mich zu trösten, »daß uns die sechzigtausend Franken zehn[63] Jahre reichen würden. Nehmen wir an, die zehn Jahre seien verflossen, ohne daß die Veränderungen in meiner Familie, auf die ich gehofft habe, eingetreten seien. Welchen Entschluß würde ich dann fassen? Ich weiß es noch nicht recht, aber was hindert mich, das, was ich dann tun würde, heute schon zu tun? Wieviele Menschen leben nicht in Paris, die weder meine Bildung, noch meine natürlichen Anlagen haben, und die doch von ihren Talenten, wie sie nun einmal sind, ganz gut leben!«

Ich dachte nun über die verschiedenen Lebensverhältnisse nach. »Die Vorsehung«, so urteilte ich, »hat doch eigentlich alles sehr weise eingerichtet. Die Mehrzahl der vornehmen und reichen Leute sind Dummköpfe, das weiß jeder, der die Welt ein wenig kennt. Nun, darin liegt eine wunderbare Gerechtigkeit. Wenn sie zu ihren Reichtümern auch noch den Geist hinzufügen können, so würden sie zu glücklich, und die übrigen Menschen zu unglücklich sein. Diesen sind die körperlichen und seelischen Vorzüge gegeben worden, damit sie sich dadurch aus Elend und Not befreien können. Die einen nehmen sich ihren Teil von den Reichtümern der Großen, indem sie ihren Vergnügungen dienen und sie dabei prellen. Die andern dienen ihnen mit ihrem Wissen, sie versuchen, sie zu vornehmen Menschen zu erziehen. Es ist wahr, daß ihnen das selten gelingt, aber das ist ja auch nicht die Absicht der göttlichen Weisheit. Jedenfalls bringen ihnen ihre[64] Bemühungen immer den Vorteil, daß sie auf Kosten derjenigen leben, denen sie Unterricht erteilen, und welchen Weg man nun auch einschlägt, die Dummheit der Reichen und Großen ist eine ausgezeichnete Einnahmequelle für die Kleinen.«

Diese Erwägungen machten mich wieder etwas mutiger und ruhiger. Ich beschloß, zuerst Herrn Lescaut, den Bruder Manons, um Rat zu fragen. Er kannte Paris genau, und ich hatte nur zu oft Gelegenheit gehabt, zu bemerken, daß es weder sein Vermögen noch der Sold des Königs war, die ihm seine hauptsächlichsten Einkünfte verschafften. Ich besaß kaum noch zwanzig Pistolen, die sich zum Glück in meiner Tasche befunden hatten. Ich zeigte ihm nun meine Börse, erzählte ihm mein Unglück und meine Befürchtungen und fragte ihn, ob es für mich einen anderen Ausweg gäbe, als vor Hunger zu sterben oder mir verzweifelt eine Kugel in den Kopf zu schießen.

Er antwortete mir, sich zu erschießen, das sei der Ausweg der Dummköpfe. Was das Verhungern angehe, so wäre dem eine Menge von Leuten von Geist ausgesetzt, wenn sie nicht von ihren Talenten Gebrauch machen wollten. Ich müßte nur selbst prüfen, wozu ich befähigt sei. Jedenfalls versicherte er mich seiner Hilfe und seines Rats bei allen meinen Unternehmungen.

»Das alles ist sehr unbestimmt, Herr Lescaut«, sagte[65] ich zu ihm. »Meine Not verlangt eine unmittelbare Hilfe, denn was soll ich Manon sagen?«

»Manon macht Ihnen Sorge?« fragte er. »Haben Sie denn nicht gerade durch sie immerfort ein Mittel, wenn Sie nur wollen, sich aller Sorgen zu entledigen? Ein Mädchen wie sie könnte uns schon ernähren, Sie, sich selbst und mich.«

Er schnitt mir die Antwort, die er für diese Unverschämtheit verdient hätte, ab, indem er fortfuhr, er garantierte mir schon für denselben Abend tausend Taler, die wir unter uns teilen könnten, wenn ich seinem Rat folgen wollte. Er kenne nämlich einen Standesherrn, der im Punkte des Vergnügens so freigebig sei, daß ihm sicherlich tausend Taler nicht zu viel seien, wenn er dadurch die Gunst eines Mädchens wie Manon genießen könnte.

Ich unterbrach ihn. »Ich hatte von Ihnen eine bessere Meinung«, antwortete ich. »Ich bildete mir ein, das Gefühl, das Sie veranlaßt hat, mir Ihre Freundschaft zu gewähren, sei ganz entgegengesetzt dem, das Sie jetzt geäußert haben.«

Er gestand mir ohne Scham, daß er nie anders gedacht, und da nun seine Schwester sich einmal über die Gesetze ihres Geschlechts hinweggesetzt hätte, wenn auch zugunsten des Mannes, den sie am meisten geliebt, so hätte er sich nur in der Hoffnung mit ihr ausgesöhnt, aus ihrem schlechten Lebenswandel Nutzen zu ziehen.[66]

Ich konnte jetzt leicht sehen, wie er uns bisher zum Narren gehalten hatte. Ich unterdrückte den Unwillen, den seine Worte in mir erregt hatten, und da ich ihn nun einmal brauchte, zwang ich mich zu der lachenden Antwort, sein Rat sei eine letzte Aushilfe, die ich erst im Notfalle ergreifen würde. Ob er mir denn keinen anderen Weg wüßte.

Er schlug mir vor, meine Jugend und das vorteilhafte Aussehen, das ich von Natur hätte, zu benutzen, um mich in Verbindung mit einer alten und freigebigen Dame zu setzen. Aber auch dieses Mittel war nicht nach meinem Geschmack, denn ich wäre dadurch Manon untreu geworden.

Ich sprach zu ihm vom Spiel, das ich für das leichteste und meiner Stellung angemessenste Mittel hielt. Er antwortete mir, das Spiel sei in der Tat eine Geldquelle, aber das müßte noch näher erklärt werden. Nämlich, einfach mit den gewöhnten Chancen zu spielen, das hieße meinen Zusammenbruch noch beschleunigen. Wenn man aber allein und ohne Hilfe die kleinen Mittelchen anwendete, mit denen ein geschickter Mensch seinem Glück nachhilft, so sei das ein zu gefährliches Gewerbe. Allerdings gäbe es einen dritten Weg, den der Vereinigung mit anderen. Er fürchte aber, bei meiner Jugend würden die Teilhaber mich schwerlich für fähig halten, ihrem Bunde beizutreten. Trotzdem versprach er mir seine gute[67] Fürsprache bei ihnen und, was ich nicht von ihm erwartet hatte, bot mir sogar einiges Geld an, falls ich in dringender Verlegenheit sei. Ich bat ihn aber nur um den einzigen Gefallen, Manon von dem Verlust, den ich erlitten, und von unserem ganzen Gespräch nichts zu erzählen.

Ich verließ ihn in unzufriedenerer Stimmung, als ich bei ihm eingetreten war. Ich bereute sogar, ihm mein Geheimnis gestanden zu haben, denn er hatte nichts für mich getan, was ich nicht auch ohne seinen Rat hätte erreichen können, und mich überkam eine tödliche Angst, er möchte sein Versprechen, das er mir gemacht hatte, nämlich Manon nichts zu verraten, doch brechen. Ich hatte auch infolge seines Geständnisses über seinen Charakter allen Grund, zu befürchten, er möchte, um besseren Nutzen aus ihr zu ziehen, wie er sich ja selbst ausdrückte, sie meinen Händen entreißen, oder ihr wenigstens raten, mich zu verlassen, um sich mit einem reicheren und glücklicheren Liebhaber zu verbinden. Ich machte mir darüber tausend Gedanken, die nur dazu dienten, mich zu quälen und mich von neuem in die Verzweiflung zu stürzen, in der ich mich des Morgens befunden hatte.

Ein paarmal kam mir der Gedanke, an meinen Vater zu schreiben und eine neue Bekehrung vorzutäuschen, um dadurch eine Geldhilfe zu erlangen. Aber ich erinnerte mich sofort, daß er mich trotz seiner Güte wegen meines ersten[68] Fehltritts sechs Monate in einem engen Gefängnis gehalten hatte. Sicherlich würde er mich nach dem Aufsehen, das meine Flucht aus Saint-Sulpice verursacht haben mußte, diesmal noch viel strenger behandeln.

Schließlich kam mir inmitten meiner verwirrten Gedanken ein Einfall, der mich sofort beruhigte, und ich wunderte mich nur, daß ich ihn nicht früher gehabt hatte. Ich wollte mich an meinen Freund Tiberge wenden, bei dem ich sicher war, noch immer die alte Treue und Freundschaft zu finden. Nichts ist wunderbarer und ehrenvoller für die Tugend als das Vertrauen, mit dem man sich an Personen wendet, deren unbedingte Rechtschaffenheit man kennt. Man fühlt, daß man bei ihnen keine Gefahr läuft, und wenn sie auch nicht immer in der Lage sind, uns Hilfe zu erweisen, so ist man doch sicher, ihre Güte und ihr Mitleid zu finden. Das Herz, das sich so sorgfältig vor den übrigen Menschen verschließt, öffnet sich ohne weiteres in ihrer Gegenwart, wie eine Blume sich dem Licht der Sonne öffnet, von dem sie nur einen wohltätigen Einfluß erwartet.

Ich hielt es für eine Folge himmlischen Schutzes, daß ich mich gerade jetzt an Tiberge erinnert hatte, und beschloß, es zu ermöglichen, ihn noch am selben Tage zu sehen. Sofort kehrte ich in die Wohnung zurück, um ihm ein paar Zeilen zu schreiben und ihm einen für unsere Unterredung geeigneten Ort anzugeben. Ich bat um sein[69] Schweigen und seine Behutsamkeit, die jetzt der wichtigste Dienst seien, den er mir in meiner augenblicklichen Lage erweisen könnte.

Die Hoffnung, ihn zu sehen, hatte mir eine solche Freude eingeflößt, daß dadurch alle Zeichen des Schmerzes von meinem Gesicht vertilgt wurden, die Manon sicherlich sonst bemerkt hätte. Ich sprach zu ihr von unserem Unglück in Chaillot wie von einer Kleinigkeit, über die sie sich nicht zu beunruhigen brauchte. Und da Paris der Ort war, wo sie sich am liebsten aufhielt, war sie nicht böse, als ich ihr sagte, wir wollten eine Zeitlang hier bleiben, bis in Chaillot einige leichte Spuren des Brandes beseitigt seien.

Eine Stunde später empfing ich Tiberges Antwort, in der er mir versprach, sich an dem bezeichneten Ort einzufinden. Voller Ungeduld lief ich hin, obgleich ich mich etwas schämte, vor den Augen eines Freundes zu erscheinen, dessen bloße Gegenwart ein Vorwurf wegen meiner Ausschweifungen war. Aber mein Glaube an seine Herzensgüte und der Gedanke an Manon hielten meinen Mut aufrecht.

Ich hatte ihn gebeten, sich im Garten des Palais Royal einzufinden. Er war schon vor mir da und eilte, mich zu umarmen, sobald er mich bemerkt hatte. Lange Zeit hielt er mich in seine Arme gedrückt, und ich fühlte, wie mein Gesicht von seinen Tränen feucht wurde. Ich gestand[70] ihm, daß ich nur in äußerster Scham vor ihn hinträte und in meinem Herzen ein brennendes Gefühl meiner Undankbarkeit trüge. Vor allem aber beschwor ich ihn, mir zu sagen, ob ich ihn noch als Freund betrachten dürfte, nachdem ich doch sicherlich verdient hätte, seine Achtung und Zuneigung zu verlieren.

Er antwortete mir im zärtlichsten Ton, daß es nichts auf der Welt gäbe, was diese Freundschaft erschüttern könnte. Gerade mein Unglück und, wenn ich ihm erlaubte, das zu sagen, meine Fehler und Ausschweifungen hätten seine Zärtlichkeit für mich vermehrt. Aber diese Zärtlichkeit sei auch vermischt mit dem bittersten Schmerz, wie man ihn für einen geliebten Menschen empfindet, der seinem Untergang entgegengeht, ohne daß man ihm helfen kann.

Wir setzten uns auf eine Bank. »Ach,« sagte ich zu ihm mit einem Seufzer, der aus meinem tiefsten Herzen kam, »dein Mitgefühl muß unendlich sein, mein lieber Tiberge, wenn du mir versicherst, daß es eben so stark ist wie mein Leid! Ich schäme mich, es dir zu schildern, denn ich bekenne, daß der Grund dazu kein rühmlicher ist. Aber die Folge ist so traurig, daß du mich gar nicht so sehr zu lieben brauchtest, wie du es tust, um dadurch gerührt zu werden.«

Er bat mich, ihm als einen Freundschaftsbeweis ohne alle Umschweife alles zu erzählen, was mir seit meiner[71] Flucht aus Saint-Suplice begegnet war. Ich folgte seinem Wunsche, und weit entfernt, irgendwie von der Wahrheit abzuweichen oder meine Fehler zu verringern, um sie entschuldbarer zu machen, sprach ich zu ihm über meine Leidenschaft mit der ganzen Kraft, die sie mir einflößte.

Ich schilderte sie als einen dieser besonderen Schläge des Schicksals, die sich den Untergang eines armen Menschen vorgenommen zu haben scheinen, gegen die man sich mit keiner Tugend verteidigen, mit keiner Weisheit schützen kann. Ich entwarf ihm ein lebhaftes Bild der Aufregung, Angst und Verzweiflung, die ich noch vor zwei Stunden empfunden hatte, und in die ich sicherlich zurückfallen würde, wenn meine Freunde mich ebenso mitleidlos verließen wie das Glück. Ich rührte schließlich den guten Tiberge so sehr, daß ich ihn ebenso ergriffen von dem Gefühl des Mitleids sah, wie ich es war durch meine eigenen Schmerzen.

Er wurde nicht müde, mich zu umarmen und mich anzuflehen, Mut und Trost zu schöpfen. Aber da er immer noch annahm, daß ich mich von Manon trennen wollte, so sagte ich ihm schließlich geradeheraus, daß ich eben diese Trennung als das allergrößte Unglück für mich ansähe, und daß ich entschlossen wäre, lieber das alleräußerste Elend und den grausamsten Tod zu erleiden, als ein Heilmittel anzunehmen, das für mich viel unerträglicher sei als alle meine Übel zusammen.[72]

»Dann erkläre mir bitte,« sagte er, »auf welche Art ich dir dann helfen soll, wenn du dich gegen alle meine Vorschläge wendest.«

Ich wagte nicht, es auszusprechen, daß ich Geld von ihm haben wollte. Schließlich begriff er es aber, und nachdem er seine Vermutung geäußert hatte, verstummte er eine Zeitlang, und ich sah es ihm an, daß er unschlüssig war.

»Glaube nur nicht,« fuhr er dann fort, »daß mein Überlegen etwas mit einem Kühlerwerden meiner Ergebenheit und Freundschaft zu tun hatte. Aber du bringst mich da in eine sehr zweifelhafte Lage, da ich dir entweder die einzige Hilfe, die du annehmen willst, abschlagen oder meine Pflicht verletzen muß, indem ich sie dir gewähre. Denn heißt das nicht an deiner Ausschweifung teilnehmen, wenn ich dir die Mittel gebe, darin zu verharren?«

Einen Augenblick dachte er von neuem nach. »Aber vielleicht«, fuhr er dann fort, »ist es doch nur die große Erregung, in die dich die plötzliche Armut versetzt hat, die dir nicht genügend Freiheit läßt, das bessere Los zu wählen. Man muß in ruhiger Stimmung sein, um Vernunft und Wahrheit schätzen zu können. Ich werde es ermöglichen, dir etwas Geld zu verschaffen. Erlaube mir, lieber Chevalier,« fügte er hinzu, indem er mich umarmte, »hieran eine einzige Bedingung zu knüpfen. Du mußt[73] mir deine Wohnung mitteilen und mir gestatten, daß ich wenigstens versuche, dich zur Tugend zurückzuführen. Denn ich weiß, daß du sie liebst, und daß nur die Gewalt der Leidenschaft dich davon entfernt hat.«

Ich bewilligte ihm aufrichtig alles, was er wünschte, und bat ihn, es der Boshaftigkeit meines Schicksals zuzuschreiben, wenn ich so wenig Nutzen aus den Ratschlägen eines so tugendhaften Freundes zöge. Er führte mich sofort zu einem ihm bekannten Bankier, der mir auf seine Quittung hundert Pistolen vorstreckte, den ganzen Betrag seines Guthabens. Ich habe schon gesagt, daß er nicht reich war: seine Pfründe brachte ihm tausend Taler ein. Da er sich aber erst im ersten Jahr ihres Besitzes befand, hatte er noch keine Bezüge erhalten, und es war auf diese kommenden Einnahmen, daß er mir diesen Vorschuß gab.

Ich empfand die ganze Tiefe seines Edelmuts. Ich war dadurch so gerührt, daß ich die Verblendung einer Liebe, die mich alle Pflichten verletzen ließ, tief beklagte, und für eine kurze Zeit hatte die Tugend in mir genügende Kraft, sich in meinem Herzen gegen meine Leidenschaft aufzulehnen. Wenigstens bemerkte ich in diesem lichteren Augenblick die Schmach und Schande meiner Fesseln. Aber der Kampf war nur schwach und dauerte nicht lange. Der Anblick Manons hätte mich veranlassen können, mich selbst aus dem Himmel herabzustürzen, und als[74] ich mich wieder bei ihr befand, wunderte ich mich, daß ich meine Liebe zu einem so reizenden Geschöpf auch nur einen Augenblick für etwas Schändliches hatte halten können.

Manon war ein Geschöpf von ungewöhnlichem Charakter. Es gab wohl kein anderes Mädchen, das so wenig wie sie am Gelde hing, aber sie geriet trotzdem sofort in große Unruhe, wenn sie auch nur einen Augenblick befürchtete, in Mangel zu kommen. Vergnügen und Zeitvertreib waren ihr nun einmal Bedürfnis. Sie hätte niemals einen Sou auch nur angerührt, falls es Vergnügungen, die nichts kosteten, gegeben hätte. Wenn sie nur angenehm den Tag verbringen konnte, dann fragte sie gar nicht danach, wie unsere Geldverhältnisse standen. Da sie nun nicht leidenschaftlich dem Spiel ergeben, noch berauscht war von dem Schimmer großer Ausgaben, so war nichts leichter, als sie zufriedenzustellen, wenn man ihr nur täglich Vergnügungen nach ihrem Geschmack bot. Aber sich durch Unterhaltungen zu beschäftigen, das war für sie so notwendig, daß man sich sonst nicht auf ihre Laune und Stimmung verlassen konnte.

Obgleich sie mich zärtlich liebte, und ich, wie sie gern gestand, der einzige war, bei dem sie wirklich einen vollkommenen Genuß der Liebe empfand, so zweifelte ich doch nicht daran, daß ihre Zärtlichkeit sich nicht gegen gewisse Befürchtungen halten könnte. Selbst bei einem[75] bescheidenen Vermögen hätte sie mich der ganzen Welt vorgezogen, aber es war auch sicher, daß sie mich für einen neuen de B*** verlassen würde, wenn ich nur noch allein meine Beständigkeit und Treue anzubieten hatte.

Ich beschloß daher, meine persönlichen Ausgaben so sehr zu beschränken, daß ich den ihrigen immer genügen konnte, und mich lieber der notwendigsten Dinge zu berauben, ehe ich ihr selbst das Überflüssige versagte. Der Wagen machte mir daher am meisten Sorgen, denn es sah nicht so aus, als könnte ich Pferde und Kutscher unterhalten.

Ich schilderte Herrn Lescaut meine Besorgnis und verschwieg ihm auch nicht, daß ich von einem Freund hundert Pistolen erhalten hätte. Er sagte mir nochmals, wenn ich mein Glück mit dem Spiel versuchen wollte, so hoffe er bestimmt, daß ich auf seine Empfehlung in die Zunft der gewerbsmäßigen Spieler aufgenommen werden würde. Doch wäre es gut, wenn ich auf noble Art hundert Franken opferte, um meine neuen Genossen zu bewirten. Obgleich ich nun gegen die ganze Sache ein starkes inneres Widerstreben fühlte, gab ich schließlich, durch die harte Notwendigkeit gezwungen, nach.

Herr Lescaut stellte mich noch am selben Abend als einen seiner Verwandten vor. Er fügte hinzu, ich würde mir um so mehr Mühe geben, Erfolg zu erringen, da ich in besonderem Maße auf Geld angewiesen sei. Um[76] aber zu zeigen, daß meine Verlegenheit nicht die eines Habenichts sei, teilte er ihnen meine Absicht mit, ihnen ein Souper zu geben. Das Anerbieten wurde angenommen, und ich bewirtete sie in prächtiger Weise. Man unterhielt sich ausführlich über mein sympathisches Aussehen und meine glückverheißenden Anlagen und behauptete, ich hätte sehr günstige Aussichten, denn da in meinen Gesichtszügen etwas läge, was den ehrlichen Mann verriete, so würde mir niemand falsches Spielen zutrauen. Schließlich dankte man Herrn Lescaut, weil er der Gemeinschaft einen Novizen von solcher Begabung zugeführt habe, und beauftragte einen der Kavaliere, mir ein paar Tage lang den nötigen Unterricht zu geben.

Der hauptsächlichste Schauplatz meiner Tätigkeit sollte das Hotel de Transsylvanie sein, wo sich im Saal ein Pharotisch befand, und auf der Galerie andere Karten- und Würfelspiele gespielt wurden. Dieses Spielhaus wurde von dem Prinzen de R*** unterhalten, der damals in Clagny wohnte, und die Mehrzahl seiner Offiziere gehörte zu unserer Gesellschaft. Muß ich es zu meiner Schande gestehen? Ich machte mir in kurzer Zeit den Unterricht meines Lehrers zunutze. Vor allem erwarb ich eine große Fertigkeit, die Volte zu schlagen und Karten verschwinden zu lassen. Indem ich mich geschickt meiner langen Manschetten bediente, brachte ich sie so anmutig beiseite, daß ich selbst die Augen der erfahrensten Menschen[77] täuschte und ohne Mitleid eine Menge ehrlicher Spieler ruinierte. Diese außerordentliche Geschicklichkeit verbesserte so schnell meine Vermögensumstände, daß ich in wenigen Wochen beträchtliche Summen besaß, neben dem Geld, das ich in ehrlicher Weise mit meinen Genossen teilte.

Ich hatte jetzt keine Bedenken mehr, Manon unseren Verlust in Chaillot mitzuteilen, und um sie wegen der schlimmen Nachricht zu trösten, mietete ich ein möbliertes Haus, wo wir uns in üppiger und gesicherter Art einnisteten.

Tiberge hatte nicht verfehlt, mich während der ganzen Zeit häufig zu besuchen. Seine Moralpredigten nahmen kein Ende. Immer wieder hielt er mir das Unrecht vor, das ich an meinem Gewissen, meiner Ehre und meinem Lebensglück beginge. Ich nahm seine Lehren in aller Freundschaft auf, und obgleich ich nicht die mindeste Neigung hegte, sie zu befolgen, war ich ihm doch dankbar für seinen Eifer, dessen Ursprung ich ja kannte. Manchmal neckte ich ihn freundlich, auch in Manons Gegenwart, und beschwor ihn, doch nicht gewissenhafter zu sein als eine große Anzahl von Bischöfen und Priestern, die sich trotz ihres heiligen Amts eine Geliebte halten.

»Sieh sie doch an,« sagte ich, indem ich mit den Augen auf die meinige wies, »und sage mir, ob es Sünden gibt, die um eines so schönen Grundes willen nicht gerechtfertigt sind.«

Er verhielt sich stets geduldig und ging darin sogar sehr[78] weit. Als er aber sah, daß meine Reichtümer sich vermehrten, und daß ich ihm nicht nur seine hundert Pistolen zurückgab, sondern mir auch ein neues Haus mietete, meine Ausgaben verdoppelte und mich wilder als je in die Vergnügungen stürzte, da änderte er ganz und gar seinen Ton und sein Auftreten. Er beklagte sich über meine Verhärtung, er bedrohte mich mit den Strafen des Himmels und sagte mir einen Teil des Unglücks voraus, das mich bald darauf auch ereilen sollte.

»Es ist unmöglich,« sprach er zu mir, »daß die Reichtümer, die dir zur Fortführung deiner Ausschweifungen dienen, auf ehrliche Weise in deinen Besitz gekommen sind. Du hast sie unrechtmäßigerweise erworben, und sie werden dir auch ebenso genommen werden. Die schrecklichste Strafe Gottes wäre es allerdings, wenn er sie dich ruhig genießen ließe. Alle meine Ratschläge«, fuhr er fort, »sind zwecklos gewesen, ich sehe nur zu gut, daß sie dir in kurzer Zeit lästig wurden. Lebe wohl, undankbarer und haltloser Freund. Mögen deine verbrecherischen Vergnügungen verschwinden wie ein Schatten! Möge dein Vermögen und dein Geld unwiederbringlich verlorengehen, bis du allein und bloß dastehst und die Eitelkeit der Güter empfindest, die dich so wahnsinnig berauscht haben! Dann wirst du mich auch wieder geneigt finden, dich zu lieben und dir zu helfen, aber für jetzt breche ich jeden Verkehr mit dir ab, denn ich verachte das Leben, das du führst.«[79]

Es war in meinem Zimmer und in der Gegenwart Manons, daß er mir diese heilige Predigt hielt. Er erhob sich, um zu gehen. Ich wollte ihn zurückhalten, wurde aber daran durch Manon gehindert, die sagte, er sei ein Verrückter, den man gehen lassen müsse.

Seine Worte verfehlten nicht, einen gewissen Eindruck auf mich zu machen. Ihnen schreibe ich es zu, daß mein Herz bei verschiedenen Gelegenheiten eine Rückwendung zum Guten verspürte, und der Erinnerung an ihn verdankte ich später unter den unglückseligsten Umständen meines Lebens einen Teil meiner Kraft.

Die Liebkosungen Manons zerstreuten in einem Augenblick den Kummer, den der Auftritt mir bereitet hatte, und wir fuhren fort, ein Leben zu führen, das ganz dem Vergnügen und der Liebe gewidmet war. Das Anwachsen unserer Reichtümer verdoppelte unsere gegenseitige Zuneigung. Venus und Fortuna haben niemals glücklichere Sklaven gehabt. Bei Gott, warum nennt man nur die Welt ein Jammertal, wenn sie uns so entzückende Genüsse zu kosten gibt! Aber ach, das Schlimme an ihr ist, daß ihre Wonnen nur so kurze Zeit dauern. Wie ganz anders wäre unser Glück, wenn es niemals ein Ende nähme? Jedenfalls hatte auch unser beider Glück das allgemeine Schicksal, nämlich nur kurze Zeit zu währen und von bitterer Reue gefolgt zu werden.

Ich hatte beim Spiel so beträchtliche Gewinne gemacht,[80] daß ich daran dachte, einen Teil meines Geldes anzulegen. Meine Bedienten wußten um meine Erfolge, vor allem mein Kammerdiener und Manons Zofe, in deren Gegenwart wir uns öfters ohne Zwang unterhielten. Das Mädchen war hübsch, und mein Kammerdiener liebte sie. Sie hatten es mit einer jungen und nachsichtigen Herrschaft zu tun, so daß sie nicht daran zweifelten, uns leicht zu hintergehen. Sie faßten diesen Plan und führten ihn in einer für uns so unheilvollen Weise aus, daß sie uns in eine Lage brachten, aus der es uns nie wieder möglich war, uns zu erheben.

Herr Lescaut hatte uns eines Abends zum Essen eingeladen, und es war ungefähr Mitternacht, als wir in unsere Wohnung zurückkehrten. Ich rief nach meinem Kammerdiener, und Manon nach ihrer Zofe, aber weder der eine noch die andere erschienen. Man teilte uns mit, daß man sie seit acht Uhr nicht mehr im Hause gesehen hatte. Sie seien fortgegangen, nachdem sie angeblich nach meinem Befehl einige Kisten fortgeschafft hätten.

Ich ahnte schon die halbe Wahrheit, aber meine schlimmsten Befürchtungen wurden von dem Anblick übertroffen, der sich mir bot, als ich in mein Zimmer trat. Die Tür zu meinem Kabinett war gewaltsam erbrochen, und mein ganzes Geld mit allen meinen Kleidern war gestohlen. Während ich noch dastand und über das Unglück nachdachte, kam Manon ganz erschreckt herein und teilte[81] mir mit, daß man ihr Zimmer ebenso ausgeplündert hätte.

Dieser Schlag traf mich so hart, daß ich mich mit aller Gewalt zusammennehmen mußte, um nicht in Schreien und Weinen auszubrechen. Aus Furcht, meine Verzweiflung Manon sehen zu lassen, zwang ich mich zu einem ruhigen Gesichtsausdruck. Scherzend sagte ich zu ihr, dafür würde ich schon einen Dummkopf im Hotel de Transsylvanie hochnehmen. Unser Unglück schien aber auf sie einen solchen Eindruck gemacht zu haben, daß ihr Schmerz mich in stärkerem Maße bedrückte, als mein geheuchelter Gleichmut sie hätte aufrechthalten können.

»Wir sind verloren!« rief sie mit Tränen in den Augen.

Vergebens versuchte ich, sie durch Zärtlichkeiten zu trösten. Meine eigenen Tränen verrieten meine Verzweiflung und Bestürzung. Wir waren ja auch tatsächlich so ruiniert, daß uns nicht einmal ein Hemd blieb.

Ich entschloß mich, sofort Herrn Lescaut holen zu lassen. Er riet mir, noch zu dieser Stunde zum Herrn Polizeidirektor und zum Herrn Gerichtsverwalter von Paris zu gehen. Ich ging auch hin, aber nur zu meinem größten Unheil. Denn abgesehen davon, daß dieser Schritt und alles, was diese beiden Beamten auf meine Veranlassung unternahmen, zu nichts führte, gab ich Lescaut Zeit, sich mit seiner Schwester zu unterhalten und ihr in meiner Anwesenheit einen abscheulichen Rat einzuflößen.[82]

Er sprach zu ihr über Herrn de G*** M***, einen alten Wüstling, der für seine Vergnügungen enorm bezahlte, und wußte ihr die Vorteile, die sie durch ein Verhältnis mit ihm haben würde, so eindringlich zu schildern, daß sie, noch ganz verwirrt von unserem Unglück, auf alles einging, was er ihr vorredete. Dieser schöne Handel wurde, bevor ich zurückkam, abgeschlossen und die Ausführung auf den nächsten Tag verschoben, indem Lescaut inzwischen Herrn de G*** M*** benachrichtigen wollte.

Er wartete noch in meiner Wohnung auf mich, als ich ankam. Manon aber hatte sich in ihrem Zimmer zu Bett gelegt und ließ mir durch ihren Diener sagen, daß sie etwas Ruhe brauchte und mich bäte, sie während der Nacht allein zu lassen. Lescaut verließ mich, nachdem er mir einige Pistolen angeboten hatte, die ich auch annahm.

Es war fast vier Uhr, als ich mich zu Bett begab, und nachdem ich noch lange Zeit darüber nachgedacht hatte, durch welche Mittel ich mein Vermögen wiederherstellen könnte, schlief ich so spät ein, daß ich erst gegen elf oder zwölf wieder erwachte. Ich erhob mich sofort, um mich nach Manons Befinden zu erkundigen, und erfuhr, daß sie vor einer Stunde mit ihrem Bruder ausgegangen sei, der sie in einer Mietskutsche abgeholt habe.

Obgleich nun dieses Fortgehen mit Lescaut mir verdächtig erschien, zwang ich mich mit Gewalt, meine Befürchtungen zu unterdrücken. Ich ließ einige Stunden, die ich[83] mit Lesen verbrachte, vorübergehen. Dann aber konnte ich meine Unruhe nicht mehr bemeistern und schritt mit schnellen Schritten durch unsere Gemächer. Im Zimmer Manons sah ich plötzlich einen versiegelten Brief, der auf ihrem Tische lag. Er war an mich gerichtet, und ich erkannte ihre Handschrift. Mit einem eisigen Schrecken öffnete ich ihn, er hatte folgenden Inhalt:

»Ich schwöre Dir, mein lieber Chevalier, daß Du der Abgott meines Herzens bist, und daß es niemand auf der Welt gibt, den ich so lieben könnte wie Dich. Aber siehst Du nicht, Du liebe, gute Seele, daß in dem Zustand, in den wir hinabgesunken sind, die Treue eine törichte Tugend wäre? Glaubst Du, man könnte sich zärtlich lieben, wenn es am Nötigsten fehlt? Der Hunger könnte mich zu einem fatalen Irrtum verleiten, indem ich eines Tages meinen letzten Seufzer ausstieße in dem Glauben, es sei ein Liebesseufzer. Ich bete Dich an, rechne darauf, aber laß mir einige Zeit, um unser Vermögen wieder herzustellen! Wehe dem, der in meine Netze fällt! Ich arbeite nur daran, meinen Chevalier reich und glücklich zu machen. Mein Bruder wird Dir Nachrichten von Deiner Manon bringen, er wird Dir erzählen, daß sie geweint hat über die Notwendigkeit, Dich zu verlassen.«

Ich blieb, als ich den Brief gelesen hatte, in einem Zustand, den ich schwer beschreiben kann, denn ich weiß heute noch nicht, welche Art von Gefühl mich erregte. Ich[84] befand mich in einer jener einzigartigen Lagen, die man mit nichts anderem vergleichen kann. Man kann sie keinem Außenstehenden schildern, weil der sich auch nicht einmal eine Vorstellung davon machen könnte. Ja, man hat Mühe, sie sich selber klarzumachen, da sie durch ihren ganz besonderen Charakter sich mit nichts im Gedächtnis verknüpfen und mit keinem bekannten Gefühl verglichen werden können. Aber welcher Natur nun auch meine Empfindungen waren, jedenfalls wurden sie von Schmerz, Verachtung, Eifersucht und Scham getränkt. Ich hätte es als Glück empfunden, wenn darin keine Liebe mehr gewesen wäre.

»Sie liebt mich,« rief ich aus, »ich will es glauben. Aber müßte sie denn nicht ein Untier sein, wenn sie mich haßte? Welches Anrecht auf ein Herz kann es denn überhaupt geben, das ich nicht auf das ihrige habe? Was soll ich denn überhaupt noch für sie tun nach allem, was ich ihr geopfert habe? Und doch verläßt sie mich! Und die Undankbare glaubt sich gegen alle meine Vorwürfe geschützt zu haben, indem sie mir sagt, sie habe nicht aufgehört, mich zu lieben! Sie fürchtet sich vor dem Hunger! O heilige Liebe, was für rohe Gefühle sind das, und wie wenig entsprechen sie meinem Zartgefühl! Ich habe mich nicht davor gefürchtet, ich, der ich mich gern dem Hunger aussetzte, indem ich ihretwegen auf mein Vermögen und auf die Annehmlichkeiten meines Vaterhauses verzichtete.[85] Ich, der ich auf die notwendigsten Dinge verzichtet habe, um ihre geringsten Launen und Wünsche zu befriedigen! Sie betet mich an, sagte sie. Wenn du mich anbetetest, du Undankbare – ach, ich weiß wohl, welchen Ratschlägen du gefolgt bist –, dann hättest du mich nicht verlassen, wenigstens hättest du es nicht getan, ohne mir Lebewohl zu sagen. Ich und nicht du könnte über die grausamen Schmerzen reden, die man bei der Trennung von einem angebeteten Wesen empfindet. Und man müßte den Verstand verloren haben, wenn man sich dem freiwillig aussetzte.«

Meine Klagen wurden durch einen Besuch unterbrochen, den ich nicht erwartet hatte. Lescaut trat ins Zimmer.

»Du Henker!« schrie ich, indem ich meinen Degen zog. »Wo ist Manon? Was hast du mit ihr getan?«

Meine Bewegung erschreckte ihn. Er antwortete mir, wenn ich ihn so empfinge, nachdem er mir den größten Dienst erwiesen habe, den er überhaupt für mich tun könnte, dann würde er sich zurückziehen und nie wieder einen Fuß über meine Schwelle setzen.

Ich aber lief nach der Tür und verschloß sie sorgfältig. »Bilde dir nicht ein,« sagte ich, indem ich mich zu ihm wandte, »daß du mich noch einmal zum Narren halten kannst, indem du mir Märchen erzählst. Du mußt um dein Leben kämpfen oder mir Manon wiedergeben.«

»Nein, wie aufgeregt Sie nur sind!« antwortete er.[86] »Ich komme doch eben deshalb her. Ich will Ihnen ein Glück ankündigen, an das Sie gar nicht gedacht haben, und vielleicht werden Sie dann auch anerkennen, daß Sie mir zum Dank verpflichtet sind.«

Ich verlangte sofortige Aufklärung.

Er erzählte mir, daß Manon, die die Angst vor der Armut und überhaupt den Gedanken, zu einer Einschränkung unserer Lebenshaltung gezwungen zu sein, nicht ertragen konnte, ihn gebeten habe, ihr die Bekanntschaft mit Herrn de G*** M*** zu verschaffen, der als sehr freigebig gälte. Er scheute sich auch nicht, mir zu sagen, daß der Rat eigentlich von ihm komme, und daß er ihr den Weg geebnet habe, bevor er sie zu ihm hinführte.

»Ich habe sie heute früh dorthin gebracht,« fuhr er fort, »und dieser wackere Mann war so entzückt von ihren Vorzügen, daß er sie zunächst eingeladen hat, ihm auf seinem Landgut Gesellschaft zu leisten, wohin er für einige Tage gegangen ist. Ich, der ich sofort begriff, welchen Vorteil das für Sie haben könnte, habe ihm geradeheraus erzählt, daß Manon beträchtliche Verluste erlitten hätte. Ich habe seine Großmut so angestachelt, daß er ihr gleich zu Anfang ein Geschenk von zweihundert Pistolen machte. Dann sagte ich ihm, daß das zunächst ja ganz anständig wäre, daß aber meine Schwester in der Zukunft große Ausgaben haben würde. Sie habe noch für einen jüngeren Bruder zu sorgen, der nach dem[87] Tode unserer Eltern in unserer Obhut verblieben sei, und wenn er sie seiner Achtung für würdig hielte, dann dürfe er sie nicht wegen dieses armen Kindes leiden lassen, das ein Teil ihres eigenen Wesens sei. Meine Erzählung verfehlte nicht, ihn zu rühren. Er versprach, für Sie und Manon eine nette Wohnung zu mieten, denn Sie sind natürlich selbst dieser arme, kleine, verwaiste Bruder. Er hat mir zugesagt, alles nett einzurichten und Ihnen jeden Monat vierhundert bare Franken zu zahlen, was, wenn ich recht zähle, im Jahr viertausendachthundert Franken sind. Er hat, bevor er aufs Land abreiste, seinen Hausmeister beauftragt, eine Wohnung zu suchen und sie zu seiner Rückkehr bereitzuhalten. Sie werden dann also Manon wiedersehen, die Ihnen tausend Küsse schickt und Ihnen durch mich sagen läßt, daß sie Sie mehr als jemals liebt.«

Ich setzte mich hin und dachte über die seltsame Veränderung meines Schicksals nach. Ich befand mich in einem solchen Zwiespalt der Gefühle und daher auch in einer so schwer zu überwindenden Ungewißheit, daß ich lange Zeit stumm dasaß, ohne auf die vielen Fragen zu antworten, die Lescaut nach und nach an mich richtete. In diesem Augenblick veranlaßten mich Ehre und Tugend noch einmal zu den quälendsten Gewissensbissen, und seufzend richtete ich meinen inneren Blick nach Amiens, nach dem Hause meines Vaters, nach Saint-Sulpice und nach allen Orten, wo ich in Unschuld gelebt hatte.[88]

Welche ungeheure Zeitspanne trennte mich jetzt von diesem glücklichen Zustand! Ich sah ihn nur noch in weiter Ferne wie einen Schatten, der wohl noch meine Reue und Sehnsucht hervorrief, aber doch zu verblaßt war, um mich zum Handeln anzutreiben.

»Welches Verhängnis«, sagte ich zu mir, »hat mich so verbrecherhaft gemacht? Die Liebe ist doch eine unschuldige Leidenschaft, wie konnte sie bei mir zu einer Quelle von Elend und Ausschweifungen werden? Was hindert mich denn, mit Manon ruhig und tugendhaft zu leben? Warum habe ich sie nicht geheiratet, um nichts zu besitzen als ihre Liebe? Mein Vater, der mich so zärtlich liebt, würde er nicht schließlich zugestimmt haben, wenn ich ihm mit einer legitimen Verbindung entgegengetreten wäre? Ach, mein Vater hätte sie selbst geliebt als eine reizende Tochter, die nur zu würdig war, die Frau seines Sohnes zu sein. Wie glücklich würde ich sein mit der Liebe Manons, der Zuneigung meines Vaters, der Achtung aller anständigen Leute, mit den Gaben des Reichtums und dem Frieden der Tugend! Wie anders ist nun alles geworden! Welche schändliche Rolle wird mir vorgeschlagen! Was, ich soll von diesem Geld nehmen? ... Aber bleibt mir denn überhaupt noch eine Wahl, wenn Manon es so bestimmt hat, und ich sie ohne diese Nachgiebigkeit verliere?«

Ich schloß einen Augenblick die Augen, wie um diese[89] schmerzlichen Erwägungen zu verscheuchen. »Herr Lescaut,« rief ich dann aus, »wenn Sie diese Absicht gehabt haben, mir einen Dienst zu erweisen, so bin ich Ihnen dafür dankbar. Sie hätten nur einen ehrenhafteren Weg wählen sollen. Aber, nicht wahr, die Sache ist erledigt? Denken wir also nur daran, aus Ihren Bemühungen Nutzen zu ziehen und Ihren Plan zu verwirklichen.«

Lescaut, dem mein Zorn und das darauf folgende lange Stillschweigen viel Unbehagen verursacht hatten, war entzückt, als ich einen ganz anderen Entschluß faßte, als er ihn zweifellos befürchtet hatte. Er war nichts weniger als mutig, wovon ich in der Folge mehrere Beweise erfuhr.

»Ja, ja,« beeilte er sich, mir zu antworten, »es ist ein sehr guter Dienst, den ich Ihnen erwiesen habe, und Sie werden sehen, wir werden daraus noch größere Vorteile ziehen, als Sie vielleicht erwartet haben.«

Wir berieten nun, wie wir am besten dem Mißtrauen begegnen würden, das Herr de G*** M*** gegen unsere Geschwisterschaft fassen könnte, wenn er sah, daß ich doch etwas älter war, als er gedacht hatte. Wir fanden schließlich kein anderes Mittel, als vor ihm ein schlichtes und provinziales Wesen anzunehmen und ihn in den Glauben zu versetzen, ich wollte mich dem geistlichen Stande widmen und ginge deshalb täglich ins Gymnasium. Wir beschlossen auch, daß ich mich das erstemal, wenn ich[90] zur Ehre zugelassen würde, ihn zu begrüßen, sehr einfach kleiden sollte.

Drei oder vier Tage später kam er zur Stadt zurück. Er selbst brachte Manon in die Wohnung, die sein Hausmeister hatte einrichten lassen. Sie benachrichtigte sofort Lescaut von ihrer Rückkehr, und nachdem dieser es mir auch mitgeteilt hatte, begaben wir uns beide zu ihr hin. Der alte Liebhaber war schon fortgegangen.

Trotz der Ergebung, mit der ich mich ihrem Willen unterworfen hatte, konnte ich doch bei ihrem Anblick nicht das Widerstreben meines Herzens überwinden. Ich erschien ihr traurig und niedergeschlagen. Die Freude des Wiedersehens konnte doch nicht ganz bei mir den Schmerz über ihre Untreue verwischen. Sie dagegen schien ganz entzückt zu sein von dem Vergnügen, mich wieder zu sehen. Sie machte mir Vorwürfe über meine Kälte. Ich konnte mich nicht enthalten die Worte Verrat und Untreue auszustoßen, die ich mit tiefen Seufzern begleitete.

Anfangs scherzte sie über meine Einfalt, als sie aber meine immer auf sie gerichteten traurigen Blicke sah und die Mühe bemerkte, die ich hatte, um eine meinen Gefühlen und Wünschen so widerstrebende Veränderung zu ertragen, ging sie schnell in ihr Kabinett. Ich folgte ihr einen Augenblick später und fand sie hier ganz in Tränen. Ich fragte sie, warum sie weine.

»Es wird dir nicht schwer sein, das zu sehen«, sagte sie.[91]

»Welchen Wert soll das Leben für mich haben, wenn du bei meinem Anblick ein so finsteres und betrübtes Gesicht machst? In der ganzen Stunde, seit du hier bist, hast du mir nicht einen Kuß gegeben, und die meinigen hast du mit der Majestät eines Großsultans im Serail angenommen.«

»Höre mich an, Manon«, antwortete ich, indem ich sie umarmte. »Ich kann dir nicht verhehlen, daß mein Herz tödlich verletzt ist. Ich spreche jetzt nicht von der Bestürzung, in die deine unvermutete Flucht mich versetzt hat, noch von der Grausamkeit, mit der du mich ohne ein Wort der Tröstung verlassen, nachdem du die Nacht in einem andern Bett als dem meinen verbracht hattest – der Zauber deiner Gegenwart würde mich das alles bald vergessen machen. Aber glaubst du, ich könnte ohne Seufzer und sogar ohne Tränen zu vergießen,« – hierbei rannen mir wirklich Tränen aus den Augen – »an das traurige und unglückliche Leben denken, das ich hier in diesem Hause führen soll? Lassen wir meine Herkunft und meine Ehre beiseite! Solche Gründe kommen nicht in Betracht, wenn es sich um eine Liebe wie die meinige handelt. Aber diese Liebe selbst – kannst du dir nicht vorstellen, wie sie leidet, wenn sie sich so übel belohnt oder vielmehr so grausam behandelt sieht durch eine undankbare und gefühllose Herrin? ...«

Sie unterbrach mich. »Halt ein, mein Chevalier«, rief[92] sie. »Es ist zwecklos, mich mit solchen Vorwürfen zu quälen, die mein Herz durchbohren, da sie von dir kommen. Ich sehe, was dich verletzt. Ich hatte gehofft, du würdest einem Plane zustimmen, den ich gefaßt hatte, um unsere Vermögenslage etwas zu verbessern, und nur um dein Zartgefühl zu schonen, hatte ich ohne deine Zustimmung mit der Ausführung begonnen. Aber ich will auf ihn verzichten, da du ihn nicht billigst.«

Sie fügte hinzu, daß sie mich nur um etwas Nachsicht für den Rest des Tages bäte. Sie hätte schon zweihundert Pistolen von ihrem alten Liebhaber erhalten, und nun habe er ihr versprochen, ihr zum Abend ein schönes Perlenhalsband mit anderen Schmucksachen zu bringen, ferner noch dazu die Hälfte der zugesagten Jahrespension.

»Lasse mir nur so viel Zeit,« sagte sie, »diese Geschenke anzunehmen. Ich schwöre dir, daß er sich keiner Gunstbezeugung rühmen kann, die ich ihm erwiesen hätte, denn ich habe ihn bisher auf die Stadt vertröstet. Es ist wahr, daß er mir unzählige Male die Hände geküßt hat, und natürlich muß er für dieses Vergnügen bezahlen. Jedenfalls werden da fünf- oder sechstausend Franken nicht zuviel sein, wenn man diesen Preis mit seinem Reichtum und seinem Alter vergleicht.«

Ihr Entschluß war mir unendlich angenehmer als die Hoffnung auf die fünftausend Franken. Ich erkannte jetzt, daß mein Herz noch nicht alles Ehrgefühl verloren hatte,[93] da es eine solche Befriedigung fühlte, der Schande entgangen zu sein. Aber mein Geschick hatte mich für kurze Freuden und lange Leiden bestimmt, und das Glück errettete mich nur aus einem Abgrund, um mich in einen anderen fallen zu lassen. Als ich durch tausend Zärtlichkeiten Manon gezeigt hatte, wie glücklich ich mich über ihre Willensänderung fühlte, sagte ich ihr, wir müßten nun aber Herrn Lescaut davon in Kenntnis setzen, um uns über unsere weiteren Schritte zu beraten.

Er machte anfangs Einwendungen, aber als er von den vier- oder fünftausend Franken bares Geld hörte, ging er freudig auf unseren Plan ein. Wir beschlossen also, uns alle zum Souper mit Herrn de G*** M*** einzufinden, und zwar aus zwei Gründen. Erstens wollten wir das Vergnügen des hübschen Schauspiels genießen, das ich durch meine Rolle als Schüler und Bruder der Manon bot, dann aber hinderten wir dadurch den alten Wüstling, sich mit meiner Geliebten infolge des Anrechts, das er durch seine freigebige Vorauszahlung zu haben glaubte, allzu intim abzugeben. Wir beide, Lescaut und ich, wollten aufbrechen, sobald er in das Zimmer hinaufging, in welchem er die Nacht zu verbringen gedachte. Dann aber sollte Manon, statt ihm zu folgen, auch hinausgehen und darauf mit mir zusammen sein. Lescaut versprach, dafür zu sorgen, daß rechtzeitig ein Wagen an der Türe stand.

Die Stunde des Soupers kam heran, und Herr de G***[94] M*** ließ nicht lange auf sich warten. Herr Lescaut befand sich mit seiner Schwester im Speisezimmer. Als erste Artigkeit bot der Alte seiner Schönen eine Halskette, Armbänder und Perlenohrringe an, die mindestens tausend Taler wert waren. Dann zählte er ihr in schönen Goldlouis die Summe von zweitausendvierhundert Franken auf, die die Hälfte ihres Jahresgeldes waren. Er begleitete sein Geschenk mit zahlreichen Liebenswürdigkeiten im alten höfischen Stil. Manon konnte nicht umhin, ihm einige Küsse zu gestatten, wofür sie ja auch ein Anrecht auf das Geld erwarb, das er ihr übergeben hatte. Ich befand mich noch an der Tür und lauschte, denn ich sollte warten, bis Lescaut mich aufforderte, hereinzutreten.

Endlich, als Manon das Geld und die Schmucksachen beiseitegebracht hatte, kam er heraus und nahm mich bei der Hand. Er führte mich zu Herrn de G*** M*** und forderte mich auf, ihm meine Aufwartung zu machen. Ich verneigte mich zwei- oder dreimal aufs tiefste vor ihm.

»Entschuldigen Sie, mein Herr«, sagte nun Herr Lescaut zu ihm. »Er ist noch ein richtiges Kind und, wie Sie sehen, weit davon entfernt, die Pariser Lebensart zu besitzen. Aber wir hoffen, daß er sich mit der Zeit abschleifen wird.« Dann wandte er sich zu mir. »Du wirst hier oft die Ehre haben, den Herrn zu sehen. Sieh zu, daß du Vorteil von einem solchen Vorbild hast.«

Dem alten Liebhaber schien meine Erscheinung Vergnügen[95] zu machen. Er tätschelte mich zwei- oder dreimal leicht auf die Wange und sagte, ich wäre ein hübscher Junge, aber ich müßte in Paris sehr auf der Hut sein, weil hier die jungen Leute so leicht zu Ausschweifungen verführt würden. Lescaut versicherte, ich sei von Natur so tugendhaft, daß ich nur davon spräche, Priester zu werden, und ich unterhielte mich am liebsten damit, kleine Kapellen zu bauen.

»Ich finde, daß er Manon gleicht«, fuhr der Alte fort, indem er mit der Hand mein Kinn erhob.

Ich antwortete mit einer einfältigen Miene: »Mein Herr, das kommt daher, weil wir ja fast ein Fleisch sind. Auch liebe ich meine Schwester wie mein zweites Ich.«

»Hören Sie, was er sagt?« fragte er Lescaut. »Er ist nicht dumm. Schade, daß dieses Kind nicht etwas mehr Menschenkenntnis besitzt.«

»Oh, mein Herr,« erwiderte ich, »ich habe in meiner Heimat viele Menschen in den Kirchen gesehen, und ich glaube, daß ich in Paris dümmere finden werde, als ich selbst es bin.«

»Sehen Sie,« fügte der Alte hinzu, »für ein Kind aus der Provinz ist das wundervoll gesagt.«

Unsere Unterhaltung verlief während des Essens fast ganz in dieser Weise. Die mutwillige Manon war ein paarmal nahe daran, in lautes Lachen auszubrechen. Ich fand im Verlauf des Soupers Gelegenheit, dem Alten[96] seine eigene Geschichte und das üble Schicksal, das ihn erwartete, als Anekdote zu erzählen. Lescaut und Manon zitterten während meiner Erzählung, besonders, als ich sein Aussehen ganz natürlich schilderte. Aber seine Eigenliebe hinderte ihn, sich selbst zu erkennen, und ich kam mit meiner Geschichte so geschickt zu Ende, daß er der erste war, der sie sehr komisch fand. Wie Sie sehen werden, hat es seine Gründe, warum ich diese lächerliche Szene so ausführlich wiedergebe.

Endlich, als die Schlafenszeit herangekommen war, sprach er von der Liebe und seiner Ungeduld. Lescaut und ich zogen uns zurück. Man führte ihn auf sein Zimmer, und Manon, die unter irgendeinem Vorwand einmal hinausgegangen war, traf uns an der Türe. Der Wagen, der drei oder vier Häuser weiter auf uns wartete, fuhr heran, damit wir einsteigen konnten, und in wenigen Augenblicken waren wir aus dem Viertel verschwunden.

Obgleich diese ganze Handlung in meinen eigenen Augen eine richtige Betrügerei war, so schien sie mir noch nicht die schlimmste zu sein, die ich mir vorwerfen mußte. Ich machte mir größere Gewissensbisse wegen des Geldes, das ich beim Spiel erworben hatte. Indessen sollte uns weder das eine, noch das andere lange zugute kommen, und der Himmel wollte es, daß die geringste von diesen beiden Ungerechtigkeiten am schärfsten bestraft wurde.[97]

Herr de G*** M*** brauchte natürlich keine lange Zeit, um zu bemerken, daß er betrogen war. Ich weiß nicht, ob er noch an demselben Abend Schritte unternahm, um uns aufzuspüren. Jedenfalls standen ihm genügend Mittel zu einem schnellen Erfolg zur Verfügung, während wir so töricht waren, uns auf die Größe von Paris und die Entfernung unserer Wohnung von der seinigen zu verlassen. Er erfuhr nicht nur unsere Wohnung und unsere augenblickliche Lage, sondern auch meinen Namen, und was für ein Leben ich in Paris geführt hatte. Ferner entdeckte er die früheren Beziehungen Manons zu B*** und den Betrug, den sie an ihm verübt hatte, kurz alle schändlichen Einzelheiten unserer Geschichte. Er faßte deshalb den Entschluß, uns festnehmen zu lassen und uns weniger als einfache Verbrecher, sondern als ausgefeimtes Gesindel zu behandeln.

Wir befanden uns noch im Bett, als ein Polizeioffizier mit einem halben Dutzend Beamten in unser Zimmer trat. Sie beschlagnahmten zunächst unser Geld oder vielmehr das des Herrn de G*** M***, und nachdem sie uns barsch zum Aufstehen gezwungen hatten, führten sie uns nach der Tür. Draußen standen zwei Wagen, von denen der eine ohne Erklärung die arme Manon davonführte, und der andere mich nach Saint-Lazare brachte.

Man muß solche Schicksalsschläge selbst durchgemacht haben, um die Verzweiflung zu ermessen, in die sie uns[98] versetzen können. Unsere Wächter waren hart genug, mir weder zu gestatten, Manon zu umarmen, noch ein Wort zu ihr zu sprechen. Ich erfuhr lange Zeit nicht, was aus ihr geworden war, und es war das auch sicherlich nur ein Glück für mich, daß ich es damals nicht wußte, denn ein so entsetzliches Unglück hätte mich um meinen Verstand, vielleicht sogar um mein Leben gebracht.

Meine arme Geliebte wurde also vor meinen Augen davongeschleppt und an einen Ort, den ich nur mit Schaudern nennen könnte. Welch ein Schicksal für ein unendlich bezauberndes Geschöpf, das, wenn alle Menschen meine Augen und mein Herz gehabt hätten, den höchsten Thron in der Welt einnehmen würde! Sie wurde dort zwar nicht grausam behandelt, aber sie befand sich in einem engen Gelaß, ohne jede Gesellschaft und verurteilt, jeden Tag eine gewisse Arbeit zu verrichten als unumgängliche Bedienung für das bißchen widerliche Nahrung, das man ihr reichte. Ich erfuhr diese traurige Geschichte erst lange nachher, als ich ebenfalls schon mehrere Monate eine strenge und eintönige Strafe erlitten hatte.

Da meine Wächter mir auch nichts über den Ort mitteilten, wohin sie mich bringen sollten, so erkannte ich mein Schicksal erst, als ich das Tor von Saint-Lazare sah. In diesem Augenblick hätte ich den Tod dem Zustand vorgezogen, der mir bevorzustehen schien, denn ich hatte schreckliche Vorstellungen von diesem Hause. Meine[99] Angst vermehrte sich noch, als beim Eintritt meine Wächter noch einmal meine Taschen untersuchten, um sicher zu sein, daß ich keine Waffen noch sonstige Hilfsmittel mehr hätte.

Der Prior erschien sofort, er war schon von meinem Kommen benachrichtigt. Er grüßte mich mit großer Freundlichkeit.

»Mein Vater,« sagte ich zu ihm, »keine unwürdige Behandlung! Ich werde tausendmal lieber sterben, als mich einer solchen unterwerfen.«

»Haben Sie keine Besorgnis«, antwortete er. »Wenn Sie sich gut aufführen, werden wir miteinander zufrieden sein.«

Er forderte mich auf, in ein hochgelegenes Zimmer zu gehen, und ich folgte ihm ohne Widerstreben. Die Wächter folgten uns bis zur Türe, worauf der Prior, indem er hineintrat, ihnen ein Zeichen gab, sich zurückzuziehen.

»Ich bin also Ihr Gefangener«, sagte ich zu ihm. »Nun gut, mein Vater, was beabsichtigen Sie mit mir zu tun?«

Er antwortete mir, daß er sich freue, mich so vernünftig zu sehen. Seine Pflicht sei, daran zu arbeiten, mir die Neigung für Tugend und Religion einzuflößen, und die meinige sei es, aus seinen Ermahnungen und Ratschlägen Nutzen zu ziehen. Und wenn ich nur ein wenig die gute Absicht, die er mir entgegenbrächte, würdigen wollte, dann würde mir meine Einsamkeit nur Freude bereiten.[100]

»Ach, Freude!« unterbrach ich ihn. »Sie kennen nicht, mein Vater, den einzigen Gegenstand, der mir eine solche geben könnte.«

»Ich weiß alles«, erwiderte er. »Aber ich hoffe, daß Ihre Neigung sich ändern wird.«

Aus seiner Antwort ersah ich, daß er über meine Erlebnisse und vielleicht auch über meinen Namen unterrichtet war. Ich bat ihn, mich darüber aufzuklären, und er sagte mir ohne Umschweife, daß man ihm alles mitgeteilt habe.

Diese Erkenntnis war die härteste meiner Strafen. Mit allen Anzeichen einer schrecklichen Verzweiflung begann ich einen Strom von Tränen zu vergießen. Ich konnte mich gar nicht über meine Demütigung trösten, denn ich mußte ja jetzt ein Gegenstand des Geredes für alle meine Bekannten und eine Schande für meine Familie werden. Acht Tage verbrachte ich so in der tiefsten Niedergedrücktheit und war weder fähig, etwas zu hören, noch mich mit etwas anderem als mit meiner Schmach zu beschäftigen. Selbst die Erinnerung an Manon konnte meinen Schmerz nicht verschärfen. Sie war nur ein Gefühl, das meiner neuen Qual vorangegangen war, und in meiner Seele herrschten jetzt ausschließlich und mit leidenschaftlicher Gewalt Scham und Bestürzung.

Es gibt nur wenige Leute, die die ganze Stärke dieser besonderen Gefühlserregungen kennen. Die Mehrzahl der Menschen ist nur für fünf oder sechs Arten von Leidenschaften[101] empfänglich, in deren Kreis sich ihr Leben mit allen Erschütterungen abspielt. Man nehme ihnen Liebe und Haß, Freude und Schmerz, Hoffnung und Furcht, und es wird ihnen überhaupt kein Gefühl mehr übrigbleiben. Aber Menschen von edlerem Charakter können auf tausenderlei Art erschüttert werden. Es scheint, als ob sie mehr als fünf Sinne haben, und als ob sie Gedanken und Empfindungen erleben können, die über die gewöhnlichen Grenzen der Natur hinausgehen. Und da sie ein Gefühl dieser Größe haben, das sie über die gewöhnliche Menge hinaushebt, so sind sie gerade darin besonders empfindlich. Das ist dann auch der Grund, warum ihnen Verachtung und Hohn einen so unerträglichen Schmerz verursacht, und warum die Scham eine ihrer heftigsten Gemütserregungen ist.

Einen traurigen Vorteil hatte ich aber dadurch in Saint-Lazare. Dem Prior erschien mein Schmerz so außerordentlich stark, daß er dadurch üble Folgen für mich befürchtete und deshalb glaubte, mich mit möglichst viel Güte und Nachsicht behandeln zu müssen. Er besuchte mich täglich zwei- oder dreimal, nahm mich öfters mit sich zu einem Spaziergang durch den Garten und erschöpfte sich voll Eifer in Ermahnungen und heilsamen Ratschlägen. Ich nahm alles sanftmütig auf und zeigte ihm sogar Dankbarkeit, so daß er daraus Hoffnung auf meine Bekehrung schöpfte.[102]

»Sie besitzen eine so sanfte und liebenswürdige Natur,« sagte er eines Tages zu mir, »daß ich die Vergehen, deren man Sie beschuldigt, gar nicht begreifen kann. Vor allem setzen mich zwei Dinge in Erstaunen: einmal, wie Sie trotz Ihrer guten Veranlagung sich einer solchen ausgelassenen Zügellosigkeit ergeben konnten; dann aber, worüber ich mich noch mehr wundere, wie Sie so bereitwillig meine Ratschläge und Unterweisungen annehmen, nachdem Sie mehrere Jahre in der Gewohnheit der Zügellosigkeit gelebt haben. Wenn dieses Reue ist, dann sind Sie ein ausgesprochenes Beispiel der himmlischen Barmherzigkeit; wenn es gute Veranlagung ist, dann haben Sie wenigstens eine ausgezeichnete Charaktergrundlage, die mich hoffen läßt, daß wir Sie hier nicht lange Zeit zurückzuhalten brauchen, ehe wir Sie zu einem ehrenhaften und geordneten Leben zurückführen.«

Ich war entzückt, bei ihm diese gute Meinung über mich zu sehen, und beschloß, sie durch ein Betragen, das ihn gänzlich zufriedenstellen mußte, zu vermehren, denn ich war überzeugt, daß ich auf diese Weise am sichersten meine Haft abkürzen würde. Ich bat ihn um Bücher. Er überließ es meiner Wahl, was ich lesen wollte, und war erstaunt, als ich mich für einige ganz ernsthafte Schriftsteller entschloß. Ich tat so, als ob ich mich dem Studium mit der äußersten Hingabe widmete, und gab ihm so auf alle Arten neue Beweise der von ihm gewünschten Sinnesänderung.[103]

In Wirklichkeit war das aber alles nur äußerlich, und ich muß zu meiner Schande gestehen, ich spielte in Saint-Lazare die Rolle eines Heuchlers. Anstatt zu studieren, wenn ich allein war, beschäftigte ich mich dann nur damit, über mein Schicksal zu jammern. Ich verfluchte mein Schicksal und die Gewalt, die mich darin zurückhielt. Nachdem nämlich die niedergeschlagene Stimmung, in die mich der Zusammenbruch versetzt hatte, etwas verflogen war, begann mich meine Liebe aufs neue zu quälen. Die Abwesenheit Manons, die Ungewißheit meines Schicksals und die Furcht, sie niemals wiederzusehen, waren der einzige Gegenstand meiner Betrachtungen. Ich glaubte, sie befände sich in den Armen des G*** M***, denn das war der Gedanke, den ich sogleich gefaßt hatte; und, weit davon entfernt, zu vermuten, man habe sie ebenso behandelt wie mich, war ich überzeugt, er hätte mich nur aus dem Wege geschafft, um sie ruhig besitzen zu können.

Auf diese Weise verbrachte ich meine Tage und Nächte, deren Länge mir wie eine Ewigkeit erschien. Meine einzige Hoffnung war ein Erfolg meiner Heuchelei. Ich beobachtete sorgfältig das Gesicht und die Reden des Priors, um darüber klar zu werden, wie er über mich dachte, und ich machte mir eine Aufgabe daraus, ihm als dem Schiedsrichter meines Schicksals zu gefallen. Mit Leichtigkeit erkannte ich, daß ich seine völlige Gunst besaß, und ich[104] zweifelte nicht, daß er bereit sei, mir einen Dienst zu erweisen.

Eines Tages nahm ich mir die Kühnheit, ihn zu fragen, ob von ihm meine Freilassung abhinge. Er sagte mir, daß er darüber nicht Herr sei. Aber hoffentlich werde seine Fürsprache Herrn de G*** M***, auf dessen Ansuchen mich der Herr Polizeipräfekt hatte festnehmen lassen, bewegen, mir die Freiheit zurückzugeben.

»Kann ich mir schmeicheln,« antwortete ich in sanftem Ton, »daß die zwei Monate Gefängnis, die ich jetzt durchgemacht habe, ihm als genügende Strafe erscheinen?«

Er versprach mir, wenn ich es wünschte, mit ihm zu reden, und ich bat ihn dringend, mir diesen Dienst zu erweisen.

Zwei Tage später teilte er mir mit, daß Herr de G*** M*** von dem guten Bericht, den er über mich erhalten hatte, so gerührt war, daß er nicht nur die Absicht hegte, mir die Freiheit zu schenken, sondern auch eine große Lust geäußert hatte, mich genauer kennenzulernen, und daher vorhabe, mich in meinem Gefängnis zu besuchen. Obgleich mir nun seine Gegenwart nicht angenehm sein konnte, betrachtete ich sie doch als einen baldigen Weg zu meiner Freiheit.

Er kam auch wirklich nach Saint-Lazare. Ich fand, daß er ein würdigeres und weniger dummes Gesicht hatte, als es mir in Manons Hause vorgekommen war. Er sprach[105] zu mir einige sehr vernünftige Worte über meine schlechte Aufführung und fügte hinzu, offenbar um seine eigenen Ausschweifungen zu rechtfertigen, daß es der Schwäche der Menschen erlaubt sei, sich gewisse Vergnügungen zu verschaffen, die die Natur verlange, daß aber Betrug und schmachvolle Ränke ihre Strafe verdienten.

Ich hörte ihn mit einer unterwürfigen Miene an, die ihn offenbar befriedigte. Ich ärgerte mich sogar nicht einmal, als er mich etwas über meine Verbrüderung mit Lescaut und Manon verspottete, und auch über die kleinen Kapellchen, deren ich, wie er meinte, sicherlich in Saint-Lazare eine ganze Menge angefertigt haben müßte, da ich ja an dieser frommen Beschäftigung ein solches Vergnügen empfände. Aber zum Unglück für ihn und mich entschlüpfte ihm die Bemerkung, daß Manon im Arbeitshaus sicherlich wohl ebenso hübsche angefertigt hätte. Trotzdem ich bei dem Wort Arbeitshaus innerlich erbebte, hatte ich noch die Kraft, ihn mit sanfter Stimme zu bitten, sich genauer zu erklären.

»Nun ja,« fuhr er fort, »seit zwei Monaten lernt sie im Allgemeinen Arbeitshaus, tugendsam zu sein, und ich hoffe, daß sie ebenso großen Vorteil daraus gezogen hat wie Sie in Saint-Lazare.«

Wenn mir jetzt lebenslängliches Gefängnis oder der Tod selbst vor Augen gestanden hätten, ich hätte meine Wut bei dieser entsetzlichen Nachricht nicht beherrschen[106] können. Ich warf mich mit einer solchen schrecklichen Erregung auf ihn, daß ich dadurch fast meine halbe Kraft verlor. Es blieb mir aber davon noch genügend, ihn zur Erde zu werfen und bei der Kehle zu fassen. Ich würgte ihn, doch wurden durch das Geräusch seines Falles und einige laute Schreie, die er noch mit Mühe hatte ausstoßen können, der Prior und mehrere Brüder in mein Zimmer gerufen. Sie entrissen ihn meinen Händen.

Ich hatte selbst fast alle meine Kräfte und den Atem verloren. »Oh, mein Gott«, schrie ich, indem ich tausend Seufzer ausstieß. »Gerechter Himmel, muß ich denn eine solche Schändlichkeit auch nur einen Augenblick überleben?«

Ich wollte mich von neuem auf den Menschen stürzen, der mich so tödlich verletzt hatte. Man hielt mich zurück. Meine Verzweiflung, meine Schreie und Tränen waren unbeschreiblich. Ich beging so erstaunliche Dinge, daß alle Dabeistehenden, die den Grund dazu nicht wußten, sich mit ebensoviel Schrecken wie Verwunderung ansahen.

Herr de G*** M*** brachte inzwischen seine Perücke und seine Halsbinde in Ordnung, und aus Wut über das, was ihm geschehen war, befahl er dem Prior, mich strenger abzuschließen als je und mich mit allen Züchtigungen zu bestrafen, die, wie man weiß, in Saint-Lazare in Gebrauch sind.[107]

»Nein, mein Herr,« sagte der Prior, »bei Personen von der Herkunft des Herrn Chevalier wenden wir so etwas nicht an. Er ist übrigens so sanft und so anständig, daß ich kaum begreife, wie er ohne starke Gründe sich zu einer solchen Ausschreitung hat hinreißen lassen.«

Diese Antwort brachte Herrn de G*** M*** erst recht aus der Fassung. Er ging davon, indem er sagte, er würde schon sowohl den Prior, wie mich und alle, die ihm Widerstand zu leisten wagten, zu beugen wissen.

Der Prior gab den Brüdern Befehl, ihn hinauszuführen, und blieb mit mir allein. Er beschwor mich, ihm sogleich mitzuteilen, wodurch der Streit entstanden sei.

»Oh, mein Vater!« sagte ich, indem ich fortfuhr zu weinen. »Stellen Sie sich die entsetzlichste Grausamkeit vor, denken Sie sich die verächtlichste aller Unmenschlichkeiten, das ist das, was dieser gemeine und feige G*** M*** begangen hat. Oh, er hat mir das innerste Herz getroffen, ich werde mich nie wieder davon erholen. Ich will Ihnen alles erzählen«, fuhr ich unter strömenden Tränen fort. »Sie sind gut, Sie werden Mitleid mit mir haben.«

Ich gab ihm nun einen kurzen Bericht über die unerschütterliche und unüberwindliche Liebe, die ich für Manon hegte, über die günstige Vermögenslage, in der wir uns befanden, bevor wir von unseren eigenen Bedienten bestohlen wurden, über das Anerbieten, das G*** M*** meiner Geliebten gemacht, den Handel, den sie miteinander[108] abgeschlossen hatten, und die Art, wie er getäuscht wurde. Ich schilderte ihm, um die Wahrheit zu sagen, die Dinge in einer für uns möglichst günstigen Weise.

»Das also«, fuhr ich fort, »ist der Grund, warum sich Herr de G*** M*** mit solchem Eifer für meine Bekehrung interessiert. In Wirklichkeit ließ er mich einzig und allein hier einsperren, um seiner Rache freien Lauf zu lassen. Ich verzeihe es ihm. Aber, mein Vater, das ist nicht alles. Er ließ auch in grausamer Weise diejenige entführen, die die bessere Hälfte meines eigenen Ichs ist. Er hat sie in schändlicher Weise in das Arbeitshaus bringen lassen, er besaß die Unverschämtheit, es mir heute aus eigenem Munde zu verkünden. In das Arbeitshaus, mein Vater! Du lieber Himmel, meine reizende Geliebte, meine süße Königin in das Arbeitshaus, als wenn sie das gemeinste aller Geschöpfe gewesen wäre! Wo finde ich genügend Kraft, um nicht vor Schmerz und Scham zu sterben?«

Der gute Prior versuchte, als er mich in einem solchen Übermaß der Niedergeschlagenheit sah, mich zu trösten. Er sagte mir, er habe meine Erlebnisse nie in der Art begriffen, wie ich sie ihm jetzt geschildert hätte. Allerdings habe er der Wahrheit gemäß gewußt, daß ich in unordentlichen Verhältnissen gelebt, doch habe er dabei geglaubt, Herr de G*** M*** interessiere sich für mich aus Achtung und Freundschaft gegen meine Familie. Er habe[109] ihm das selbst so vorgestellt. Aber nach dem, was ich ihm heute gestanden, erscheine alles in einem ganz anderen Licht, und da er beabsichtige, hierüber einen genauen Bericht an den Herrn Polizeipräfekten zu senden, so zweifle er nicht, daß das zu meiner Befreiung beitragen werde.

Er fragte mich dann, warum ich noch nicht daran gedacht habe, meiner Familie, die doch nichts mit meiner Gefangensetzung zu tun habe, Nachricht zu geben. Ich erwiderte ihm auf seinen Einwand, daß der Schmerz, den ich meinem Vater zu bereiten fürchtete, und die Scham, die ich selbst empfunden, mich daran gehindert hätten. Schließlich versprach er mir, sofort zum Polizeipräfekten zu gehen.

»Sei es auch nur,« sagte er, »um einer schlimmen Handlung von seiten des Herrn de G*** M*** zuvorzukommen. Denn er ist in sehr schlechter Stimmung von hier fortgegangen und hat Einfluß genug, um seinen Willen durchzusetzen.«

Ich erwartete die Rückkehr des Priors mit der ganzen Aufregung eines Angeklagten, der vor dem Augenblick der Urteilsfällung steht. Es war für mich eine unerträgliche Qual, mir Manon im Arbeitshaus vorzustellen. Abgesehen von der Schmach eines solchen Aufenthalts, wußte ich auch gar nicht, wie sie dort behandelt wurde, und die Erinnerung an einzelne Dinge, die ich über diesen entsetzlichen[110] Ort gehört hatte, erneuerte immerfort meine Befürchtungen. Ich war so sehr entschlossen, ihr um jeden Preis und mit jedem Mittel zu helfen, daß ich Saint-Lazare in Brand gesteckt hätte, wenn es mir anders nicht möglich gewesen wäre, hinauszukommen.

Ich überlegte also, welche Schritte ich ergreifen müßte, falls der Polizeipräfekt fortführe, mich hier gegen meinen Willen festzuhalten. Ich strengte meinen Verstand aufs äußerste an und bedachte alle Möglichkeiten. Ich fand keinen unbedingt sicheren Weg zur Flucht und fürchtete, noch strenger eingeschlossen zu werden, wenn mir ein Versuch mißglückte. Ich dachte an einige Freunde, von denen ich Hilfe erhoffen konnte, aber auf welche Weise sollte ich ihnen meine Lage schildern? Endlich glaubte ich einen passenden Plan gefunden zu haben, der auch gelingen konnte, und verschob es bis nach der Rückkehr des Priors, ihn noch genauer auszuarbeiten, falls die Vergeblichkeit seiner Bemühungen mich dazu zwingen sollte.

Er kam auch bald zurück, und vergebens spähte ich auf seinem Gesicht nach Anzeichen der Freude, die eine frohe Nachricht begleitet hätten.

»Ich habe«, sagte er zu mir, »mit dem Herrn Polizeipräfekten gesprochen, aber ich habe zu spät mit ihm gesprochen. Herr de G*** M*** hat ihn sofort nach seinem Fortgehen von hier aufgesucht und so stark gegen Sie eingenommen, daß er im Begriff war, mir neue Befehle[111] zu senden, um Sie noch strenger einzuschließen. Als ich ihm aber erzählte, was es im Grunde mit Ihrer Angelegenheit auf sich hätte, schien er sich sehr zu beruhigen. Er lachte etwas über die Ausschweifungen des alten Herrn de G*** M*** und sagte mir, ich sollte Sie sechs Monate hier behalten, um ihn zufriedenzustellen. Er fügte noch hinzu, daß dieser Aufenthalt ja nicht ohne Nutzen für Sie sein werde, und empfahl mir, Sie rücksichtsvoll zu behandeln. Jedenfalls verspreche ich Ihnen, daß Sie sich nicht über mein Benehmen beklagen sollen.«

Die ganze Erklärung des guten Priors dauerte lange genug, um mir Zeit zu einem ruhigen Nachdenken zu geben. Ich begriff, daß es nur meinen Plänen schaden würde, wenn ich ein zu starkes Verlangen nach meiner Freiheit äußerte. Daher bezeugte ich ihm im Gegenteil, daß es infolge der Notwendigkeit, hier zu bleiben, für mich eine süße Tröstung sei, ein wenig seine Achtung zu genießen. Ich bat ihn darauf in ungezwungener Weise, mir eine Gunst zu gewähren, die für jeden anderen ganz harmlos sei, mir aber viel zu meiner Beruhigung dienen würde. Nämlich, er möchte doch einen Freund von mir, einen heiligmäßigen Geistlichen, der in Saint-Sulpice wohnte, benachrichtigen, daß ich hier in Saint-Lazare wäre, und mir erlauben, dann und wann seinen Besuch zu empfangen. Diese Gunst wurde mir ohne Bedenken gewährt.[112]

Es war natürlich mein Freund Tiberge, von dem ich gesprochen hatte. Nicht daß ich hoffte, durch ihn die nötigen Mittel zu meiner Befreiung zu erlangen, aber ich wollte mich seiner als eines indirekten Mittels bedienen, ohne daß er selbst es wußte. Mein Plan war nämlich der, an Lescaut zu schreiben und ihn sowie unsere gemeinsamen Freunde damit zu beauftragen, für meine Befreiung zu sorgen. Meine erste Schwierigkeit bestand darin, ihm meinen Brief zuzustellen, und das hoffte ich durch Tiberge fertigzubringen. Da er ihn aber als Bruder meiner Geliebten kannte, fürchtete ich, daß es ihm widerstreben würde, diese Besorgung zu übernehmen. Mein Plan war nun, meinen Brief an Lescaut in einen anderen Brief zu stecken, den ich an einen ehrenwerten Mann meiner Bekanntschaft richtete, wobei ich diesen bat, den eingeschlossenen Brief doch sofort an seine Adresse zu befördern. Und da ich unbedingt persönlich mit Lescaut sprechen mußte, um mich mit ihm über unsere Maßnahmen zu einigen, wollte ich ihm sagen, er sollte nach Saint-Lazare kommen und unter dem Namen meines älteren Bruders, der eigens nach Paris gekommen sei, um sich über meine Lage zu unterrichten, mich zu sprechen verlangen. Wir konnten uns dann zusammen über die Mittel einigen, die uns als die tauglichsten und sichersten erschienen.

Der Pater Prior ließ Tiberge von meinem Wunsch[113] unterrichten, mich mit ihm auszusprechen. Mein treuer Freund hatte mich immer etwas im Auge behalten. Er wußte auch von meinem Abenteuer und daß ich in Saint-Lazare war. Vielleicht war er sogar nicht einmal betrübt über dieses Unglück, weil er es für geeignet hielt, mich zur Pflicht zurückzuführen. Jedenfalls eilte er sofort zu mir.

Unsere Unterredung verlief in aller Freundschaft. Er fragte mich nach meinen Plänen, und ich öffnete ihm rückhaltlos mein Herz, nur daß ich nichts von meinem Fluchtplan erwähnte.

»Ich will nicht, lieber Freund,« sagte ich zu ihm, »vor deinen Augen anders erscheinen, als ich bin. Wenn du geglaubt hast, hier einen frommen und von seinen Leidenschaften befreiten Freund zu finden, einen durch die Strafe des Himmels bekehrten Sünder, mit einem Wort, ein Herz, das sich von der Liebe und von Manons Zauber frei gemacht hat, dann hast du zu günstig über mich geurteilt. Du findest mich noch ebenso, wie du mich vor vier Monaten verlassen hast, noch immer verliebt und noch immer unglücklich infolge dieser unheilvollen Verliebtheit, in der ich nicht ablasse, mein Glück zu suchen.«

Er antwortete mir, daß das Geständnis, das ich ihm gemacht hätte, mich unentschuldbar mache. »Man sieht wohl Sünder,« sagte er, »die sich an dem trügerischen Glück des Lasters so berauschen, daß sie es offen dem[114] wahren Glück der Tugend vorziehen. Aber diese ketten sich wenigstens an Scheinbilder des Glücks und werden durch deren trügerischen Glanz geblendet. Aber so wie du anerkennen, daß der Gegenstand deiner Neigung dich nur in Schuld und Unglück verstricken kann, und sich trotzdem freiwillig in das Unglück und die Schuld hineinstürzen, das zeigt einen Widerspruch zwischen Denken und Tun, der deinem Verstande nicht zur Ehre gereicht.«

»Tiberge,« erwiderte ich, »du magst leicht recht behalten, wenn man deinen Worten nicht widerspricht. Aber laß mich auch einmal meine Ansichten entwickeln. Kannst du behaupten, daß das, was du das Glück der Tugend nennst, frei von Schmerzen, Widerwärtigkeiten und Beunruhigungen ist? Welchen Namen gibst du dem Gefängnis, der Kreuzigung, Hinrichtung und Folter durch die Tyrannen? Willst du, wie die Mystiker, sagen, daß das, was den Körper quält, ein Glück für die Seele ist? Du wagst gar nicht, das zu behaupten, denn das wäre ein unhaltbarer Widerspruch. Dieses Glück, das du so hoch erhebst, ist also mit tausend Schmerzen verbunden, oder, um mich noch genauer auszudrücken, es ist nur ein Dickicht von Unglücksfällen, durch das man nach dem Glück strebt. Wenn also die Einbildungskraft in diesen Übeln selbst noch ein Glück sieht, weil sie zu einem erhofften glücklichen Ende führen können, warum bezeichnest du ein ganz ähnliches Handeln in meinem Leben als[115] widerspruchsvoll und unvernünftig? Ich liebe Manon, ich strebe inmitten von tausend Schmerzen danach, an ihrer Seite glücklich und ruhig zu leben. Der Weg, den ich dabei gehe, ist unheilvoll, aber die Hoffnung, ihn zu beendigen, versüßt ihn mir immer, und ich glaube mich durch jeden Augenblick, den ich mit ihr verbringe, reichlich für allen Kummer bezahlt, den ich durchmachen muß, um ihn zu erlangen. Es scheinen mir daher die Dinge auf meiner und auf deiner Seite ganz gleich zu stehen, oder, wenn es einen Unterschied gibt, dann spricht er noch zu meinem Vorteil. Denn das Glück, auf das ich hoffe, ist nahe, das andere aber ist fern. Das meine ist von der Art, wie die Schmerzen sind, das heißt, es ist fühlbar, das andere aber ist von einer unbekannten Art, und seine Gewißheit beruht nur auf dem Glauben.«

Tiberge schien ganz erschrocken zu sein über meine Schlußfolgerung. Er wich zwei Schritte zurück und sagte mir mit dem ernstesten Gesicht, daß das, was ich gesagt hätte, nicht nur der gesunden Vernunft widerspräche, sondern auch ein trauriger Trugschluß von Bosheit und Gottlosigkeit sei.

»Denn«, fügte er hinzu, »dieser Vergleich zwischen dem Ende deiner Schmerzen und dem Ende, das uns die Religion verspricht, ist eine der zügellosesten und abscheulichsten Ideen.«

»Ich gebe zu,« erwiderte ich, »daß er nicht richtig ist.[116] Aber beachte wohl, daß ich auch gar nicht meinen Gedankengang darauf aufbaue. Ich wollte dir nur das erklären, was du für unsinnig in dem Festhalten an einer unglücklichen Liebe hältst, und ich glaube wohl bewiesen zu haben, wenn darin etwas Unsinniges liegt, daß du dem ebensowenig entgehen kannst wie ich. Lediglich um dieses klarzulegen habe ich die Dinge miteinander verglichen, und ich wiederhole, daß sie auch gleich liegen. Willst du mir nun antworten, daß das Ziel der Tugend ein unendlich höheres ist als das der Liebe? Wer weigert sich, das zuzugeben? Aber steht denn das überhaupt in Frage? Handelt es sich nicht lediglich um die Kraft, die beide haben, um uns die Schmerzen ertragen zu machen? Beurteilen wir die Frage nach dem Ergebnis: Wie oft findet man Menschen, die der strengen Tugend untreu werden, und wie selten welche, die der Liebe den Rücken wenden! Du wirst nun wiederum antworten, daß, wenn auch ein tugendhaftes Leben Schmerzen bringen kann, dies nicht immer und notwendigerweise der Fall zu sein braucht; daß es heute weder Tyrannen noch Kreuzigungen mehr gibt, und man eine große Menge tugendhafter Menschen ein glückliches und ruhiges Leben führen sieht. Dann werde ich dir aber auch sagen, daß es friedliche und glückliche Liebesverhältnisse gibt, und, was noch einen sehr zu meinen Gunsten sprechenden Vorteil ausmacht, ich werde hinzufügen, daß die Liebe, obgleich sie uns oft[117] täuscht, trotzdem Befriedigung und Freude gewährt, während die Religion verlangt, daß man sich mit einem langweiligen und asketischen Leben zufrieden gibt.«

Ich sah, daß er im Begriff war, mich in zornigem Eifer zu unterbrechen. Aber ich wollte meine Ausführungen erst beenden. »Errege dich nicht,« fuhr ich deshalb fort, »das einzige, was ich hier noch beweisen möchte, ist, daß es keinen schlechteren Weg gibt, einem Herzen die Liebe zu verleiden, als ihm deren Süßigkeiten abzustreiten und ein größeres Glück in der Ausübung der Tugend zu versprechen. Wir sind nun einmal so geschaffen, daß unser Glück im Genuß besteht, und ich bestreite jede andere Erklärung. Und das Herz braucht nicht lange zu überlegen, um zu fühlen, daß von allen Genüssen die süßesten die der Liebe sind. Es bemerkt bald, daß man es betrügt, wenn man ihm anderswo angenehmere verspricht, und dieses Betrügen bringt es dahin, daß es den schönsten Versprechungen mißtraut. Darum, ihr Prediger, die ihr mich zur Tugend zurückführen wollt, ich will euch gern glauben, daß diese Tugend unumgänglich notwendig ist, aber verhüllt es mir auch nicht, daß sie streng und mühsam ist. Zeigt, daß die Vergnügungen der Liebe flüchtig, daß sie sündhaft sind und zu ewigen Qualen führen, ja, was vielleicht noch stärkeren Eindruck auf mich machen würde, daß, je süßer und reizender sie sein mögen, um so größer auch die Belohnung des Himmels sein wird,[118] wenn man auf sie verzichtet. Aber gesteht, daß sie, wie unsere Herzen nun einmal veranlagt sind, hienieden unser vollkommenstes Glück ausmachen.«

Dieser Schluß meiner Ausführungen gab Tiberge seine gute Laune wieder. Er gab zu, daß etwas Vernünftiges in meinem Gedankengange läge, und machte nur den einzigen Einwurf, warum ich denn nicht meinen eigenen Grundsätzen folgte und meine Liebe der Hoffnung auf diese Belohnung opferte, von der ich ja eine so hohe Vorstellung hätte.

»Oh, mein lieber Freund,« antwortete ich ihm, »hieran erkenne ich mein Elend und meine Schwäche. Ach ja, es wäre meine Pflicht, nach meiner Erkenntnis zu handeln, aber bin ich denn Herr über mein Tun? Welche Hilfe brauchte ich nicht, um die Reize Manons zu vergessen?«

»Gott verzeihe mir,« fiel hier Tiberge ein, »aber du hast Ansichten, als wärest du ein Jansenist.«

»Ich weiß nicht, was ich bin,« antwortete ich, »aber wenn die Jansenisten sagen, daß der Mensch von vornherein zu einem bestimmten Schicksal bestimmt ist, dann sehe ich nur zu gut an mir, daß sie recht haben.«

Diese Unterredung diente wenigstens dazu, das Mitleid meines Freundes neu zu erregen. Er begriff, daß mich mehr meine Schwäche als meine Bosheit zur Liederlichkeit verführt hätte. Deshalb war auch seine Freundschaft späterhin um so mehr geneigt, mir seine Hilfe zu[119] geben, ohne die ich zweifellos in mei nem Unglück zugrunde gegangen wäre. Trotzdem verriet ich ihm nicht das geringste von meiner Absicht, aus Saint-Lazare zu entfliehen. Ich bat ihn nur, mir meinen Brief zu besorgen. Ich hatte ihn schon fertiggemacht, ehe er kam, und ich unterließ nicht, einen Vorwand auszumalen, um die Notwendigkeit meines Schreibens zu zeigen. Er war auch so freundlich, den Brief zu besorgen, und Lescaut erhielt noch vor Schluß des Tages das für ihn bestimmte Schreiben.

Den nächsten Tag kam Manons Bruder mich besuchen und erlangte auch glücklich unter dem Namen meines Bruders Zugang zu mir. Meine Freude war unendlich, als ich ihn in meinem Zimmer sah. Sorgfältig schloß ich die Tür hinter ihm zu.

»Verlieren wir keinen Augenblick«, sagte ich zu ihm. »Sagen Sie mir zunächst, was Sie von Manon wissen, und geben Sie mir dann einen guten Rat, wie ich meine Fesseln brechen kann.«

Er versicherte mir, daß er seit dem Tage, der meiner Festnahme vorangegangen war, seine Schwester nicht mehr gesehen habe; daß er mein und ihr Schicksal erst nach mühsamen Erkundigungen erfahren und sich zwei- oder dreimal im Arbeitshaus gemeldet habe, ohne daß man ihm die Erlaubnis gab, sie zu sehen.

»Elender G*** M***,« rief ich aus, »das wirst du mir teuer bezahlen.«[120]

»Was nun Ihre Befreiung angeht,« fuhr Lescaut fort, »so ist das ein schwierigeres Unternehmen, als Sie vielleicht denken. Zwei meiner Freunde und ich haben gestern den Abend damit verbracht, alle äußeren Teile dieses Hauses zu beobachten, und wir sind zu dem Urteil gekommen, daß, da Ihre Fenster, wie Sie schon schrieben, auf einen Hof hinausgehen, der ganz mit Gebäuden umgeben ist, es gar nicht so leicht wäre, Sie herauszubringen. Sie befinden sich übrigens im dritten Stockwerk, und wir können weder Stricke noch Leitern hierherbringen. Ich sehe daher keine Möglichkeit einer Hilfe von außen. Es muß hier im Hause selbst ein Mittel gefunden werden.«

»Nein,« erwiderte ich, »ich habe alles untersucht, besonders seitdem infolge der Nachsicht des Priors meine Abschließung weniger streng ist. Meine Zimmertüre ist nicht mehr verschlossen, ich darf mich nach Belieben in den Wandelgängen der Mönche aufhalten. Aber alle Treppen sind durch dicke Türen verrammelt, die man sorgfältig sowohl am Tage wie bei der Nacht verschlossen hält, so daß es unmöglich ist, mich durch bloße List zu retten.«

Eine Weile schwieg ich und dachte nach, bis mir eine ausgezeichnete Idee kam. »Warten Sie,« rief ich aus, »könnten Sie mir eine Pistole bringen?«

»Mit Leichtigkeit«, antwortete Lescaut. »Aber Sie wollen doch nicht jemand töten?«[121]

Ich antwortete ihm, ich hätte so wenig die Absicht, jemand zu töten, daß es nicht einmal nötig sei, die Pistole zu laden.

»Bringen Sie sie mir morgen,« fügte ich hinzu, »und verfehlen Sie nicht, sich abends um elf Uhr mit zwei oder drei Freunden gegenüber diesem Tore einzufinden. Ich hoffe, daß ich dann zu Ihnen stoßen kann.«

Vergebens drängte er mich, ihm Näheres zu sagen. Ich antwortete ihm, daß ein Unternehmen, wie ich es vorhätte, erst dann vernünftig erschiene, wenn es gelungen sei. Ich bat ihn, seinen Besuch abzukürzen, um mich desto sicherer am nächsten Tag wieder besuchen zu können. Er wurde auch ebenso leicht wieder zugelassen wie am Tage vorher. Er machte ein ernstes Gesicht, und es wäre niemand auf den Gedanken gekommen, ihn für etwas anderes als einen Mann von Ehre zu halten.

Als ich mich im Besitz des Werkzeuges zu meiner Befreiung befand, zweifelte ich nicht mehr an dem Erfolg meines Vorhabens. Es war seltsam und gewagt, aber zu was wäre ich bei den Gründen, die mich antrieben, nicht fähig gewesen? Ich hatte, seit ich mein Zimmer verlassen und mich in den Wandelgängen aufhalten durfte, beobachtet, daß der Pförtner jeden Abend die Schlüssel zu allen Toren zum Prior heraufbrachte, und daß dann eine tiefe Stille im Hause herrschte, die anzeigte, daß alles zu Bett gegangen sei. Ohne Hindernis konnte ich[122] durch eine Verbindungsgalerie von meinem Zimmer zu dem des Priors gehen. Mein Entschluß war, ihm die Schlüssel abzunehmen, indem ich ihm, falls er Schwierigkeiten machen sollte, mit meiner Pistole einschüchterte, und mit Hilfe dieser Schlüssel auf die Straße zu gelangen.

Mit Ungeduld erwartete ich die Zeit. Der Pförtner kam zur gewohnten Stunde, das heißt etwas nach neun. Ich ließ dann noch eine Stunde vorübergehn, um sicher zu sein, daß alle Mönche und Diener eingeschlafen seien. Endlich ging ich mit meiner Waffe und einer angezündeten Kerze hinüber. Ich klopfte zunächst leise an die Tür, um ihn ohne Lärm aufzuwecken. Er hörte erst beim zweiten Klopfen, und da er offenbar in dem Glauben war, es sei ein Mönch, der sich krank fühlte und seiner Hilfe bedürftig sei, erhob er sich, um mir zu öffnen. Trotzdem war er so vorsichtig, mich durch die Tür zu fragen, wer da sei, und was man von ihm wollte. Ich war gezwungen, meinen Namen zu nennen, aber nahm dabei einen klagenden Ton an, um ihm anzudeuten, daß ich mich nicht wohl befände.

»Ach, das sind Sie, mein lieber Sohn?« fragte er, indem er die Tür öffnete. »Was führt Sie denn so spät zu mir?«

Ich trat in sein Zimmer, und nachdem ich ihn an das der Tür entgegengesetzte Ende gezogen hatte, erklärte ich ihm, es sei mir unmöglich, länger in Saint-Lazare zu[123] bleiben. Die Nacht sei eine geeignete Zeit, um unbemerkt hinauszuschlüpfen, und ich erwartete von seiner Freundschaft, daß er mir die Türe öffnen oder mir die Schlüssel leihen würde, um sie mir selbst aufzuschließen.

Meine höfliche Anrede verblüffte ihn. Eine Zeitlang verharrte er, ohne zu antworten. Da ich keine Zeit mehr zu verlieren hatte, ergriff ich von neuem das Wort und sagte ihm, ich sei sehr berührt von allen seinen Guttaten, aber die Freiheit stehe höher als alle Güter, besonders für mich, dem man sie so ungerechtfertigt vorenthalte, so daß ich entschlossen sei, sie mir diese Nacht um jeden Preis zu verschaffen. Und aus Furcht, er möchte Lust bekommen, mit lauter Stimme um Hilfe zu rufen, zeigte ich ihm einen triftigen Grund zum Schweigen, den ich bisher unter meinem Rock verborgen hatte.

»Eine Pistole!« rief er aus. »Wie, mein Sohn, Sie wollen mir das Leben nehmen zum Dank für die Rücksichtnahme, die ich Ihnen erwiesen habe?«

»Das möge Gott verhüten!« antwortete ich ihm. »Sie sind zu klug und zu vernünftig, mich in diese Notwendigkeit zu versetzen. Aber ich will frei sein und bin dazu so entschlossen, daß, wenn mir mein Plan durch Ihre Schuld mißlingt, es um Sie geschehen ist.«

»Aber, mein lieber Sohn«, erwiderte er mit bleichem und erschrecktem Gesicht. »Was habe ich Ihnen denn getan? Welchen Grund haben Sie, meinen Tod zu begehren?«[124]

»Aber nein«, antwortete ich ungeduldig. »Ich habe keine Absicht, Sie zu töten. Wenn Sie am Leben bleiben wollen, dann öffnen Sie mir das Tor, und ich bin der beste Ihrer Freunde.«

Ich bemerkte die Schlüssel, die auf dem Tische lagen. Ich nahm sie und bat ihn, mir zu folgen. Er möchte aber dabei so wenig Geräusch machen, wie ihm nur möglich sei.

Er war gezwungen, sich mir zu fügen. Je weiter wir kamen, und jedesmal, wenn er eine Tür aufschloß, wiederholte er mit einem Seufzer: »Ach, mein Sohn, ach, wer das doch je geglaubt hätte!«

»Kein Geräusch, mein Vater!« wiederholte ich dagegen in jedem Augenblick.

Endlich gelangten wir an eine Art Schutzgatter, das sich vor dem großen Straßentor befand. Ich glaubte schon frei zu sein und stand hinter dem Prior, in der einen Hand die Kerze, in der anderen meine Pistole.

Während er sich bemühte, zu öffnen, hörte ein Bedienter, der in der Nähe in einer kleinen Kammer schlief, das Geräusch der Riegel, erhob sich und steckte den Kopf aus der Tür. Der gute Vater hielt ihn offenbar für fähig, mich festzuhalten. Er befahl ihm höchst unklugerweise, ihm zu Hilfe zu kommen. Er war ein kräftiger Bursche, der sich, ohne zu überlegen, auf mich stürzte. Ich zauderte auch nicht lange, sondern schoß ihn mitten in die Brust.[125]

»Nun sehen Sie, was Sie verschuldet haben, mein Vater«, sagte ich zu meinem Führer in barschem Ton. »Das soll Sie aber nicht hindern, das Angefangene zu beenden«, fügte ich hinzu, indem ich gegen das letzte Tor stieß.

Er wagte es nicht, sich zu weigern, mir aufzuschließen. Ich gelangte glücklich hinaus und fand vier Schritte entfernt Lescaut, der mich seinem Versprechen gemäß mit zwei Freunden erwartete.

Wir machten, daß wir fortkamen, und Lescaut fragte mich, ob es richtig sei, daß er einen Pistolenschuß gehört habe.

»Das war Ihre Schuld«, sagte ich zu ihm. »Warum haben Sie sie mir geladen gebracht?«

Trotzdem dankte ich ihm für seine Vorsicht, ohne die ich zweifellos noch lange Zeit in Saint-Lazare verblieben wäre. Wir gingen zu einem Speisewirt, bei dem wir die Nacht verbrachten, und ich mich etwas von der mageren Kost erholte, die ich seit fast drei Monaten genossen hatte. Trotzdem war es mir nicht möglich, vergnügt zu sein, ich litt zu furchtbar bei dem Gedanken an Manon.

»Wir müssen sie befreien«, sagte ich zu meinen Freunden. »Ich habe mir die Freiheit gewünscht, um dies auszuführen, und bitte Sie, mir mit Ihrem Rat zur Seite zu stehn. Ich selbst werde mein Leben daran wagen.«

Lescaut, dem es nicht an Verstand und Vorsicht fehlte,[126] hielt mir vor, daß wir sehr vorsichtig zu Wege gehen müßten. Meine Flucht aus Saint-Lazare und das Unglück, das mir dabei im letzten Augenblick passiert sei, würden zweifellos Aufsehen erregen. Der Polizeipräfekt würde nach mir suchen lassen, und er hätte einen langen Arm. Wenn ich mich also nicht einem Schicksal aussetzen wollte, das schlimmer als Saint-Lazare sei, dann hielte er es für angebracht, mich einige Tage versteckt und eingeschlossen zu halten, bis die erste Wut meiner Feinde etwas verraucht sei.

Sein Rat war klug, nur hätte ich auch so klug sein müssen, ihn zu befolgen. Aber soviel Vorsicht und Langsamkeit paßte nicht zu meinem leidenschaftlichen Charakter, und ich gab ihm nur so weit nach, daß ich versprach, den folgenden Tag mit Schlafen zu verbringen. Er schloß mich in seinem Zimmer ein, wo ich dann bis zum Abend verblieb.

Einen Teil dieser Zeit verbrachte ich damit, Pläne und Mittel auszudenken, um Manon zu helfen. Ich war fest davon überzeugt, daß ihr Gefängnis noch unzugänglicher war, als es das meinige gewesen. Von gewaltsamem Vorgehen konnte da keine Rede sein, es mußte List angewandt werden, aber selbst die Göttin der Findigkeit wäre hier um einen Anfang verlegen gewesen. Die Sache erschien mir so dunkel, daß ich beschloß, mich erst dann näher damit zu beschäftigen, wenn ich einige Erkundigungen[127] über die inneren Einrichtungen des Arbeitshauses eingezogen hatte.

Als mir der Abend die Freiheit wiedergab, bat ich Lescaut, mich zu begleiten. Wir knüpften mit einem der Pförtner, der mir ein vernünftiger Mann zu sein schien, ein Gespräch an. Ich gab an, ein Fremder zu sein, der mit Bewunderung von dem Allgemeinen Arbeitshaus und der Ordnung, die darin herrsche, habe sprechen hören. Ich befragte ihn über die kleinsten Einzelheiten, und so kamen wir von einem Gegenstand zum anderen und dann auch auf die Verwaltungsbeamten, nach deren Namen und Eigenschaften ich mich erkundigte.

Die Antworten, die er mir über die Beamten gab, erweckten in mir einen Gedanken, zu dem ich mir sofort Glück wünschte, und den ich auch nicht zögerte, ins Werk zu setzen. Ich fragte ihn, da das in wesentlicher Weise zu meinem Plan gehörte, ob diese Herren auch Kinder hätten. Er sagte mir, daß er mir darüber keine ganz sichere Auskunft geben könnte, aber was den Herrn de T*** anginge, der einer der Leiter sei, so kenne er von ihm einen Sohn im heiratsfähigen Alter, der mehrmals mit seinem Vater zum Arbeitshaus gekommen sei. Diese Mitteilung genügte mir.

Ich brach unsere Unterhaltung gleich darauf ab und ging wieder zu Lescaut zurück, indem ich ihm den Plan, den ich gefaßt hatte, mitteilte.[128]

»Ich glaube,« sagte ich zu ihm, »dieser jüngere Herr de T***, der reich und von guter Herkunft ist, wird, wie die meisten jungen Leute in seinem Alter, einen gewissen Hang zum Vergnügen haben. Jedenfalls dürfte er wohl kein Feind der Frauen sein und sich deshalb auch nicht weigern, in einer Liebesangelegenheit seine Hilfe zu leisten. Ich habe die Absicht, ihn für die Befreiung Manons zu interessieren. Wenn er ein vornehmer Charakter und ein Mann von Mitgefühl ist, wird er uns schon aus Großmut helfen. Sollte er einer solchen Empfindung nicht fähig sein, so wird er doch etwas für ein hübsches Mädchen tun, und wenn auch nur in der Hoffnung, ihre Gunst mitgenießen zu können. Ich werde ihn bereits morgen besuchen, ich fühle mich durch meinen Plan so getröstet, daß ich das als ein günstiges Vorzeichen ansehe.«

Lescaut gab ebenfalls zu, daß etwas Aussichtsvolles in meinen Ideen läge, und daß wir einige Hoffnung auf diesen Plan setzen könnten. Ich verbrachte deshalb die Nacht in einer trostreicheren Stimmung.

Am Morgen zog ich mich so sorgfältig an, wie es mir in der dürftigen Lage, in der ich mich befand, nur möglich war, und ließ mich in einem Wagen zur Wohnung des Herrn de T*** fahren. Er war erstaunt, als er den Besuch eines ihm Unbekannten empfing. Ich versprach mir sofort Gutes von seinem Gesichtsausdruck und seinem[129] höflichen Wesen und erzählte ihm unbefangen, was mir am Herzen lag. Um vor allem sein natürliches Mitgefühl zu erwecken, sprach ich zu ihm von meiner Leidenschaft und von den Vorzügen meiner Geliebten wie von Dingen, die mit nichts anderem verglichen werden könnten. Er sagte mir, er hätte zwar Manon nie gesehen, aber doch von ihr reden hören, vorausgesetzt, daß es sich um die ehemalige Geliebte des alten G*** M*** handelte. Natürlich war ich mir nicht im Zweifel, daß er über meinen Anteil an der ganzen Geschichte unterrichtet sei, und um ihn erst recht für mich einzunehmen, indem ich ihm zeigte, welches Vertrauen ich in ihn setzte, erzählte ich ihm ausführlich alles, was zwischen Manon und mir vorgegangen war.

»Sie sehen, mein Herr,« fuhr ich fort, »daß ich das Schicksal meines Lebens und meiner Liebe in Ihre Hände lege. Das eine gilt mir nicht mehr als das andere. Ich habe Ihnen nichts verheimlicht, weil man mir von Ihrem Edelmut erzählt hat, und weil unsere Gleichaltrigkeit mich hoffen läßt, daß auch unsere Neigungen übereinstimmen.«

Meine ausgesprochene Offenheit und Treuherzigkeit machten auf ihn einen starken Eindruck. Er antwortete mir wie ein Mann von Welt, der zugleich auch Gefühl hat, was man sonst in der großen Welt nicht immer findet, weil Gefühl sehr leicht verlorengeht. Er sagte mir, daß er meinen Besuch zu den guten Ereignissen seines[130] Lebens rechne, daß er meine Freundschaft als eine seiner glücklichsten Erwerbungen betrachten und sich bemühen werde, sie durch rührige Anteilnahme zu verdienen. Er versprach nicht, mir Manon zurückzugeben, weil er, wie er mir sagte, nur einen geringen und unsicheren Einfluß habe. Aber er bot mir an, mir das Vergnügen zu verschaffen, sie zu sprechen, und wollte überhaupt alles tun, was in seiner Macht lag, um sie in meine Arme zurückzuführen.

Ich war mehr befriedigt von dem Zugeständnis der Unsicherheit seiner Hilfe, als ich es von einer vollen Versicherung der Erfüllung aller meiner Wünsche gewesen wäre. Ich fand gerade in der Mäßigung seiner Angebote ein mich entzückendes Zeichen von Freimütigkeit. Mit einem Wort, ich versprach mir alles von seiner ehrlichen Gefälligkeit. Das einzige Versprechen, mich mit Manon zusammenzubringen, hätte mich bewogen, alles für ihn zu tun. Ich äußerte diese meine Empfindung in einer Art, die auch ihn überzeugte, daß ich keine undankbare Natur sei. Wir umarmten uns zärtlich und wurden Freunde durch nichts anderes als die Güte unserer Herzen und jene Veranlagung, die einen zärtlichen und edelmütigen Menschen dazu treibt, ein ihm ähnliches Wesen zu lieben.

Er ging in den Beweisen seiner Zuneigung noch viel weiter, denn nachdem er meine Erlebnisse erfahren hatte,[131] begriff er, daß ich mich nach meiner Flucht aus Saint-Lazare nicht gerade in den besten Verhältnissen befinden müßte, und bot mir aufs dringendste seine Börse an. Aber ich schlug sie aus.

»Das ist zuviel, mein lieber Herr«, sagte ich zu ihm. »Wenn Sie durch Ihre große Güte und Freundschaft es mir ermöglichen, meine teure Manon wiederzusehen, dann bin ich Ihnen für mein ganzes Leben verbunden. Und wenn Sie mir ganz und gar dieses liebe Geschöpf zurückgeben, dann glaube ich nicht, es Ihnen vergolten zu haben, auch wenn ich für Sie all mein Blut vergösse.«

Wir trennten uns nicht, ohne Zeit und Ort zu verabreden, wo wir uns wiedersehen wollten. Er war so gefällig, dieses Wiedersehen auf keinen ferneren Zeitpunkt als den Nachmittag desselben Tages zu verschieben.

Ich erwartete ihn in einem Kaffeehaus, in dem er mich gegen vier Uhr traf, und wir fuhren zusammen zum Arbeitshaus. Meine Knie zitterten, als ich die Höfe durchschritt.

»O heilige Liebe,« sagte ich, »ich werde also den Abgott meines Herzens, den Gegenstand so vieler Träume und Beängstigungen wiedersehen! Himmel, bewahre mir so viel Leben, um bis zu ihr hinzugehen, und verfüge dann über mein Glück und meine Tage. Ich habe keine andere Gnade zu erbitten.«

Herr de T*** sprach mit einigen Schließern des Hauses,[132] die sich beeilten, alles, was von ihnen abhing, zu seiner Zufriedenheit zu besorgen. Er ließ sich nach dem Teil des Gebäudes bringen, in dem Manon ihr Zimmer hatte, und man führte uns dahin mit einem Schlüssel von schrecklicher Größe, der dazu diente, ihre Tür zu öffnen. Ich fragte den Knecht, der uns leitete, und der auch ihre Beaufsichtigung unter sich hatte, auf welche Art sie die Zeit ihres Aufenthalts an diesem Ort verbracht habe.

Er sagte uns, sie sei von einer engelhaften Güte und habe ihm nie ein rohes Wort gesagt. Während der ersten sechs Wochen nach ihrer Ankunft habe sie unaufhörlich Tränen vergossen, aber seit einiger Zeit schiene sie ihr Schicksal gleichmütiger aufzunehmen und widme sich vom Morgen bis zum Abend dem Nähen, mit Ausnahme einiger Stunden, die sie mit Lesen verbrächte.

Ich fragte ihn noch, ob sie anständig behandelt worden sei. Er antwortete mir, daß es ihr wenigstens an den nötigsten Dingen niemals gefehlt hätte.

Wir näherten uns ihrer Tür, mein Herz schlug heftig. »Treten Sie allein hinein,« sagte ich zu Herrn de T***, »und bereiten Sie sie auf meinen Besuch vor, denn ich fürchte, es wird sie zu sehr erregen, wenn sie mich plötzlich erblickt.«

Die Tür wurde uns geöffnet, ich blieb auf dem Flur. Trotzdem konnte ich ihr Gespräch verstehen. Er sagte ihr, er sei gekommen, um ihr etwas Trost zu bringen. Er sei[133] ein Freund von mir und nähme großen Anteil an unserem Glück. Sie fragte ihn in lebhaftester Erregung, ob sie nicht von ihm erfahren könnte, was aus mir geworden sei. Er versprach ihr, mich zu ihren Füßen zu führen, ebenso zärtlich und ebenso treu, wie sie mich nur wünschen könnte.

»Wann?« fragte sie.

»Noch heute«, antwortete er. »Dieser glückliche Augenblick ist nicht fern, und wenn Sie es wünschen, wird er sogleich erscheinen.«

Sie begriff, daß ich an der Türe stand, und ich kam hinein, als sie eilends auf mich zustürzen wollte. Wir umarmten uns mit jener überströmenden Zärtlichkeit, die für vollkommene Liebende nach einer Trennung von drei Monaten so köstlich ist. Unsere Seufzer, unsere immerwährenden Ausrufe, die tausend schmachtenden Liebesnamen, die zwischen uns hin und her flogen, bildeten eine Viertelstunde lang ein Schauspiel, das Herrn de T*** sehr ergriff.

»Ich beneide Sie«, sagte er zu mir und veranlaßte uns, uns hinzusetzen. »Es gibt keine Höhe eines ruhmreichen Schicksals, dem ich nicht eine so schöne und so gefühlvolle Geliebte vorziehen würde.«

»Auch ich würde alle Kaiserreiche der Welt verschmähen,« antwortete ich ihm, »um mich des Glücks zu versichern, von ihr geliebt zu werden.«[134]

Natürlich verlief auch der übrige Teil einer so sehr ersehnten Unterredung unendlich zärtlich. Die arme Manon erzählte mir ihre Erlebnisse und ich ihr die meinigen. Wir vergossen bittere Tränen, als wir uns von dem Zustand unterhielten, in dem sie sich befand, und dem, den ich soeben verlassen hatte. Herr de T*** tröstete uns durch neue Versprechungen, sich mit vollem Eifer für die Beendigung unseres Elends einzusetzen. Er riet uns, diese erste Zusammenkunft nicht zu lange auszudehnen, um es ihm zu erleichtern, uns eine neue zu verschaffen. Er hatte aber große Mühe, uns seinem Rat geneigt zu machen. Vor allem konnte sich Manon nicht entschließen, mich gehen zu lassen, und sie zog mich hundertmal wieder auf meinen Stuhl zurück. Sie hielt mich an den Kleidern und an den Händen fest.

»Ach, an welchem Ort läßt du mich hier zurück!« sagte sie. »Wer gibt mir Sicherheit, daß ich dich wiedersehe?«

Herr de T*** versprach ihr, oft mit mir zu Besuch zu kommen. »Was diesen Ort angeht,« fügte er liebenswürdig hinzu, »so braucht man ihn nicht länger ein Arbeitshaus zu nennen. Es ist ein Versailles, seit eine Dame, die die Herrschaft über alle Herzen verdient, hier eingeschlossen ist.«

Beim Fortgehen erwies ich dem Knecht, der sie unter seiner Obhut hatte, einige Freigebigkeiten, um ihn zu verpflichten,[135] für sie mit Eifer zu sorgen. Der Bursche hatte eine weniger gewöhnliche und harte Seele als seine Kameraden. Er war Zeuge unseres Zusammenseins gewesen, und dieses zärtliche Schauspiel hatte ihn gerührt. Ein Louisdor, den ich ihm gab, fesselte ihn erst recht an mich, und als wir zum Hof hinabstiegen, nahm er mich beiseite.

»Mein Herr,« sagte er zu mir, »wenn Sie mich in Ihren Dienst nehmen oder mir eine anständige Entschädigung geben wollen für die Stelle, die ich hier verliere, so glaube ich, daß es mir leicht sein wird, Fräulein Manon zu befreien.«

Ich nahm diesen Vorschlag bereitwillig auf, und obgleich ich von allem entblößt war, machte ich ihm Versprechungen, die weit über seine Wünsche hinausgingen. Ich rechnete darauf, daß es mir immer leicht sein würde, einen Mann von dieser Art zu entschädigen.

»Sei überzeugt, mein Freund,« sagte ich zu ihm, »daß es nichts gibt, was ich nicht für dich täte, und daß dein Glück ebenso gesichert ist wie das meinige.«

Ich fragte ihn, welche Mittel er anzuwenden beabsichtigte.

»Nichts anderes,« sagte er mir, »als ihr des Abends die Türe ihres Zimmers zu öffnen und sie zu der Straßenpforte zu führen, wo Sie bereit sein müssen, sie zu empfangen.«[136]

Ich fragte ihn, ob denn nicht zu befürchten sei, daß sie beim Durchschreiten der Gänge und Höfe erkannt werde. Er gestand, daß eine gewisse Gefahr vorhanden wäre, aber er sagte mir, daß man schon etwas wagen müßte.

Obgleich ich entzückt war, ihn so entschlossen zu sehen, wandte ich mich doch an Herrn de T***, um ihm den Plan und das einzige Bedenken, das ihn zweifelhaft machen konnte, mitzuteilen. Er fand die Sache noch bedenklicher als ich, obgleich er zugab, daß sie auf diese Art entkommen könnte.

»Aber, wenn sie erkannt wird«, fuhr er fort, »und auf der Flucht ergriffen wird, dann ist es vielleicht um sie für immer getan. Im übrigen müssen Sie beide Paris sofort verlassen, denn Sie können sich gar nicht genügend vor den Nachforschungen verstecken. Infolge der Berichte über Sie und Ihre Geliebte wird man diese Nachforschungen verdoppeln. Ein Mann, der allein ist, kann ihnen leicht entgehen, aber es ist unmöglich, mit einer hübschen Frau unbekannt zu bleiben.«

So vernünftig mir auch sein Einwand erschien, er konnte doch nicht eine so unmittelbare Hoffnung, Manon zu befreien, in mir besiegen. Ich sagte das Herrn de T*** und bat ihn, meiner Liebe etwas Unbesonnenheit und Tollkühnheit zu verzeihen. Ich fügte hinzu, es sei allerdings meine Absicht, Paris zu verlassen und mich, wie[137] ich es schon getan hätte, in einem nahegelegenen Dorf aufzuhalten.

Wir kamen also mit dem Gefängnisdiener überein, unser Unternehmen schon am nächsten Abend zu wagen, und um ihm die größtmöglichste Sicherheit zu geben, beschlossen wir, Männerkleider herbeizuschaffen, die das Hinausgelangen erleichtern sollten. Es war nicht so einfach, sie hinauszuschmuggeln, aber ich fand doch schließlich ein Mittel, es zu ermöglichen. Ich bat nur Herrn de T***, am nächsten Tag zwei leichte Röcke übereinander anzuziehen, für das andere würde ich sorgen.

Den nächsten Morgen gingen wir wieder in das Arbeitshaus. Ich hatte für Manon Wäsche, Strümpfe und dergleichen bei mir und trug über meinem Wams einen Überrock, der die etwas ausgestopften Taschen verbarg. Wir blieben nur einen Augenblick in ihrem Zimmer. Herr de T*** überließ ihr einen seiner Röcke, ich gab ihr mein Wams, da mir der Überrock zum Hinauskommen genügte. So fehlte nichts an ihrer Kleidung mit Ausnahme der Hose, die ich unglücklicherweise vergessen hatte.

Das Vergessen dieses notwendigen Kleidungsstückes hätte uns sicherlich Stoff zum Lachen gegeben, wenn die Verlegenheit, in der wir uns befanden, nicht zu ernst gewesen wäre. Ich befand mich in Verzweiflung, weil uns eine solche Kleinigkeit aufhalten sollte. Schließlich faßte ich den Entschluß, selbst ohne Hose fortzugehen.[138] Ich überließ die meinigen Manon. Mein Überrock war lang, und mit Hilfe von einigen Stecknadeln setzte ich mich in den Stand, ohne aufzufallen zur Tür hinauszukommen.

Der Rest des Tages dehnte sich mir zu einer unerträglichen Länge aus. Endlich, als die Nacht gekommen war, begaben wir uns in einem Wagen bis in die Nähe vom Tor des Arbeitshauses. Wir waren noch nicht lange da, als wir Manon mit ihrem Begleiter erscheinen sahen. Unsere Wagentüre stand offen, und sie stiegen schnell hinein. Ich nahm meine Geliebte in die Arme, sie zitterte wie ein Blatt.

Der Kutscher fragte mich, wohin er fahren sollte. »Fahr zum Ende der Welt,« sagte ich, »und führe mich irgendwohin, wo ich niemals mehr von Manon getrennt werden kann.«

Diese Überschwenglichkeit, derer ich nicht Herr war, hätte mich beinahe in eine böse Verlegenheit gebracht. Der Kutscher dachte über meine Worte nach, und als ich ihm dann die Straße nannte, wohin wir gefahren werden wollten, antwortete er, er fürchte, daß er sich in eine schlimme Geschichte eingelassen habe. Er sehe wohl, daß dieser schöne junge Mann, der sich Manon nenne, ein Mädchen sei, das ich aus dem Arbeitshaus entführt hätte, und er habe keine Lust, sich mir zuliebe ins Unglück zu stürzen.[139]

Das zarte Gewissen dieses Halunken entsprang natürlich nur den Wunsch, sich von mir mehr bezahlen zu lassen. Wir befanden uns noch zu nahe beim Arbeitshaus, um uns anders als sehr still davonzumachen.

»Schweige,« rief ich ihm daher zu, »du sollst einen Louisdor haben!«

Für diese Summe hätte er mir geholfen, das Arbeitshaus in Brand zu stecken.

Wir erreichten das Haus, in dem Lescaut wohnte. Da es schon spät war, hatte Herr de T*** uns unterwegs verlassen mit dem Versprechen, uns am nächsten Tag wiederzusehen. Der Gefängnisdiener blieb allein bei uns.

Ich hielt Manon so fest in meinen Armen umschlungen, daß wir nur einen Platz im Wagen einnahmen. Sie weinte vor Freude, und ich fühlte, wie ihre Tränen mein Gesicht überströmten.

Als ich aussteigen mußte, um zu Lescaut hineinzugehen, bekam ich mit dem Kutscher einen neuen Streit, der sehr verhängnisvolle Folgen hatte. Ich bereute es, ihm einen Louis versprochen zu haben, und zwar nicht nur, weil das Anerbieten so übertrieben hoch war, sondern auch aus einem anderen, viel stärkeren Grunde, nämlich weil ich ihn nicht bezahlen konnte. Ich ließ daher Lescaut rufen. Er kam aus seinem Zimmer herab, um die Haustüre zu öffnen, und ich flüsterte ihm ins Ohr, in welcher Verlegenheit ich mich befände. Da er aber schlecht gelaunt[140] und auch nicht gewohnt war, auf einen Kutscher große Rücksicht zu nehmen, so antwortete er mir, ich scherze wohl.

»Einen Louisdor?« fügte er hinzu. »Zwanzig Stockhiebe kann dieser Halunke haben!«

Ich versuchte, ihm leise vorzustellen, daß er uns ins Verderben stürzen werde, aber er entriß mir meinen Spazierstock und machte Miene, den Kutscher zu verprügeln. Dieser war wohl schon einmal einem Gardisten oder Musketier in die Hände gefallen, denn er entfloh mit seinem Wagen, wobei er aber schrie, ich hätte ihn betrogen und würde noch von ihm zu hören bekommen. Vergebens rief ich ihm ein paarmal nach, er solle doch halten.

Seine Flucht versetzte mich in die äußerste Unruhe, denn ich zweifelte nicht, daß er die Polizei benachrichtigen würde.

»Sie stürzen mich ins Unglück«, sagte ich zu Lescaut. »Ich befinde mich bei Ihnen nicht in Sicherheit und muß mich sofort von hier entfernen.«

Damit reichte ich Manon den Arm, und wir gingen schnell aus dieser gefährlichen Straße fort. Lescaut schloß sich uns an.

Der Chevalier des Grieux hatte mehr als eine Stunde mit diesem Bericht verbracht, und ich bat ihn jetzt, sich[141] etwas Ruhe zu gönnen und uns beim Essen Gesellschaft zu leisten. Er ersah aus unserer Aufmerksamkeit, daß wir ihm voller Teilnahme zugehört hatten. Er versicherte uns, wir würden im weiteren Verlauf seiner Geschichte noch interessantere Dinge hören, und, als wir mit dem Essen fertig waren, fuhr er folgendermaßen fort.

Quelle:
Prévost d' Exilles, Antoine: Geschichte der Manon Lescaut und des Chevalier des Grieux. Berlin [o. J.], S. 1-142.
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