Nr. 148. Das vertriebene Gespenst.

[134] Über den zellerfelder Kirchhof führet ein Weg, der sonst wenig gegangen wurde, am allerwenigsten aber des abends und des nachts zwischen elf und zwölf Uhr. Denn eine lange weiße Gestalt, wie eine weißgekleidete Jungfrau, hat früher diesen Weg bewacht und jeden zurückgeschreckt, der ihn hat gehen wollen. Wie man sich einmal davon unterhält, daß die weiße Gestalt mit einem Bunde Schlüssel da alle Nacht stehe, und jedem den Rest gäbe, der da durchgehe, entschließen sich zehn kräftige und mutwillige junge Burschen, der Sache auf den Grund zu kommen, und begeben sich mit Stöcken bewaffnet nach dem Gottesacker. Als sie oben beim Hospital angekommen sind, verlieren sie aber alle, bis auf einen untersetzten, aber sehr kampflustigen kleinen Mann, den Mut. Dieser spricht zu[134] seinen Kameraden: gebt mir einen tüchtigen Stock für meine kleine Eiche, dann will ich allein hingehen und sehen, was es giebt. Man giebt ihm einen tüchtigen Knüttel und mutig und trotzig geht er über den Kirchhof. Es ist gerade des nachts zwischen elf und zwölf Uhr gewesen. Da, wo der Weg bald aus der Mauer vom Kirchhof herabführt, steht die weiße Gestalt. Er geht darauf zu und sagt laut und deutlich: »Guten Abend!« bekömmt aber keine Antwort. Er wendet sich wieder um und spricht: »Guten Ohmd ho ich gesaht!« Wieder keine Antwort. Da geht er wieder zurück und spricht: »Guten Ohmd ho ich gesaht. Seid ihr denn epper tahb?« Die Gestalt antwortet nicht. Da wird er zackig, greift nach dem Schlüsselbund und schlägt mit dem Stocke nach der Gestalt. Da ist alles verschwunden und hat sich seit der Zeit nichts wieder auf dem Gottesacker sehen lassen.

Quelle:
Heinrich Pröhle: Harzsagen, zum Teil in der Mundart der Gebirgsbewohner. Leipzig 21886, S. 134-135.
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