Ueber der edlen Chloris Schwester Stärcke auf dem Clavier

[121] Wohin bin ich, ihr Musen, jetzt entzückt,

Befind ich mich auf Pindus grünen Spitzen,

Wo ihr im Kreiß oft pflegt zu sitzen,

Und eure Harmonie selbst Phöbus Ohr entzückt.

Hör ich nicht jetzt Polhymnien allein

Die Melodie durch eintzle Töne führen,

Daß Wind und Bäume sich dadurch entzückt nicht rühren;

Hört, jetzo fällt das gantze Chor mit ein.

Die Macht der einigen, doch unterschiednen Sayten,

Ihr heftiges, jedoch einstimmigs Streiten

Bestürmt der Hörer Brust

Mit gantz betäubender, doch ungemeiner Lust.

Still! jetzo spielen zwey zusammen,

Bald setzen sie die Brust in Flammen,

Bald aber starret Blut und Hertz,

Und fühlt den angenehmsten Schmertz,

Wenn sie den Ton gantz traurig langsam ziehn.

Bald höret man sie springend fliehn:

Jetzt rolt der Töne Heer zur Tiefe nieder,

Jetzt fliegen sie zum Himmel wieder,

Jetzt setzen sie den Hörer ausser sich.

Ihr Musen, wo befind ich mich!

O Jovis Töchter höret auf,

Ja, ja, es ruht der starcken Töne Lauf.

Doch wie? Hat mich ein Traum betrogen,

Und vor mein Aug ein Blendwerck vorgezogen?

Wie, kan den dis wohl möglich seyn,

Ist aller Musen Kunst in einer nur allein?

Ist sies, ja, ja es ist die Schöne,

Die Meisterin der reinsten Töne

Des edlen Krosigks Kind allein.

Quelle:
Freundschaftliche Lieder von I. J. Pyra und S. G. Lange, Heilbronn 1885, S. 121-122.
Lizenz:
Kategorien: