Zweiter Auftritt

[228] Ernst Gotthart. Heinrich mit einem Buche.


ERNST GOTTHART. Nun, kommt Ihr einmal? Böser Mensch! kommt her geschwinde und kleidet mich aus! O Himmel! wie ist mir zumute!

HEINRICH. Nun, da sehen Sie einmal! So machen es die Herren Gelehrten. Sie kaufen sich ganze Stuben voller Bücher und lesen doch ihr Leben lang nicht den sechsten Teil davon durch. Ich wollte wohl drauf schwören, daß Sie nicht einmal wissen, ob dies Ihr Buch ist oder nicht?

ERNST GOTTHART. Ei, Bücher hin! Bücher her! Macht nur, daß ich Luft bekomme, Heinrich!

HEINRICH. Wie? Ist's schon wieder unrichtig? nun es eben zum Essen geht? Ich glaube wahrhaftig, Ihr Malus vexiert Sie nur so.

ERNST GOTTHART. Ach! so arg ist es noch nie gewesen, als es diesmal ist!

HEINRICH. Ja, so sagen Sie immer! Aber was ist's denn schon wieder?[228]

ERNST GOTTHART. Ach! was wird es sein? Euch kann ich's endlich wohl sagen. Ich wollte für die Langeweile das Brot zur Tafel vorschneiden, und da wird mir auf einmal, ich weiß nicht wie, zumute! Wofern es nicht wieder übergeht, so darf ich mein Lebetag kein Messer mehr anrühren; oder ich muß besorgen, daß ich mich oder jemanden anders umbrächte.

HEINRICH lachend. Sachte! sachte! das können Sie ja wohl bleibenlassen?

ERNST GOTTHART. Oder ich muß lieber Hungers sterben.

HEINRICH. Noch besser! Er lacht.

ERNST GOTTHART. Oder ich muß mit elfenbeinern oder knöchernen Messern essen wie die kleinen Kinder.

HEINRICH. Nein, ich weiß noch einen bessern Rat. Wenn Sie ja wie die kleinen Kinder essen wollen, so bitten Sie die Jungfer Fröhlichin, daß Sie Ihnen bei Tische das Essen klein schneidet. Da dörfen Sie hernach nur jedes Stückchen mit der Gabel aufspießen.

ERNST GOTTHART. Mit der Gabel? Ei! wenn ich nun mit der Gabel ein Unglück machte?

HEINRICH lacht sehr. Ei, Herr Gotthart, ich habe noch niemals gehört, daß sich jemand mit einer Gabel erstochen hätte.

ERNST GOTTHART. Habt Ihr das gewiß nie gehört?

HEINRICH. Nein, mein Tage nicht! sowenig als mit dem Löffel oder mit der Semmel. Er lacht sehr.

ERNST GOTTHART. Ja, du lieber Himmel: so macht mich ja aber meine Hypochondrie noch vor den Jahren zu einem Kinde? wo ich sie nicht einmal loswerde!

HEINRICH. Das war's eben, was ich sagen wollte; Sie wollten mich nur nicht hören. Da hat Ihnen die Kathrine ungefähr vor einem halben Jahre dies Buch von der Stube genommen, und wir beide lesen so alle Abende ein Kapitelchen daraus. Sie aber, denen dies Buch gehört, wissen wohl nicht einmal, daß ein trefflich schönes Rezept für das Malus hypi ... hypi ... Je! wie heißt das Teufelszeug schon? darinnen steht.

ERNST GOTTHART. In einem von meinen juristischen Büchern? Heinrich! Ihr seid nicht bei Sinnen!

HEINRICH. Ja, Herr Gotthart. Hier in diesem Buche steht's. Ich werde Ihnen ja nichts vorlügen. Kathrine hat es eben jetzt von ohngefähr aufgeschlagen. Er zeigt ihm den Titel.[229]

ERNST GOTTHART stutzt. Was, zum Henker, macht die Kathrine mit dem Buche? Das ist ja mein Venette!

HEINRICH. Ich sage es Ihnen ja, was sie damit macht. Wir halten unsere Abendandachten daraus. Wozu werden die Bücher anders geschrieben, als daß man drinnen lesen soll? Aber die Herren Gelehrten haben sie, wie ich glaube, nur zum Staate und brauchen sie in der Stube anstatt der Tapeten.

ERNST GOTTHART unruhig. In aller Welt! Wie kömmt das Mensch zu dem Buche? Ich habe es doch nebst vielen andern solchen Schriften das erstemal, wie ich meine ängstlichen Gedanken kriegte, so sorgfältig versteckt, daß ich selbst sterben müßte, wenn ich sagen sollte, wo sie wären.

HEINRICH. Ja, das heißt ein Buch trefflich hoch verstecken, wenn man es unter die Bänke oder hinters Bette steckt! Ich weiß davon ein Liedchen zu singen, das eben nicht zum besten klingt.

ERNST GOTTHART. Mein Himmel! wenn mein Vater die Kathrine bei dem Buche einmal betroffen hätte, und sie hätte ihm gesagt, daß es mir gehörte: was würde der Mann nicht Böses von mir gedacht haben?

HEINRICH. Was würde er nicht! was würde er nicht! da reden Sie schon wieder von künftigen Dingen. Genug, daß er es nun nicht gesehen hat! Aber jetzt will ich Ihnen das Rezept weisen. Wenn Sie es aber nicht wissen wollen: gut! so will ich Sie erst auskleiden. Er greift ihm an den Rock. Erst Gotthart halt ihn zurück.

ERNST GOTTHART. So, Heinrich? So steht wirklich ein Rezept wider die Hypochondrie darinnen?

HEINRICH. Freilich! Aber Sie wollen ja nicht hören: so müssen Sie fühlen! kommen Sie, lassen Sie sich abkleiden, daß ich wieder hinunterkomme. Es geht zur Mahlzeit. Er will ihn abkleiden.

ERNST GOTTHART wehrt es ihm. Nein, Heinrich. Nun ist mir mein Herz schon um einen Zentner leichter, da ich höre, daß es noch ein Rezept für meine Krankheit in der Welt gibt.

HEINRICH. Sehen Sie wohl?

ERNST GOTTHART. Aber ist's auch etwa ein fröhliches Gemüt? womit die beiden Mediziner mich Vormittage fast närrisch gemacht haben?

HEINRICH. Ach nein, nein! Es ist nur sonst so was, wornach Sie ein fröhliches Gemüt bekommen sollen.[230]

ERNST GOTTHART. Ei! das wäre viel! Ach! mein lieber Heinrich, so zeigt mir's doch geschwinde, wo es steht.

HEINRICH nimmt das Buch wieder. Ja, ja! ich will es gleich wieder aufschlagen. Eins, Nulle, eins. Nein, es war weiter hinein. Er blättert lange. Es ist doch schlimm, daß ich Zahlen nicht verstehe, ob ich gleich lesen und buchstabieren kann. Er blättert immer. Sieh da! hier ist's! Ich habe ein Ohr in das Blatt gemacht. Richtig! Ein Kapitel von den Nutzbarkeiten des Ehestandes, auf der Seite drei, neun, fünf. Soll ich's Ihnen vorlesen?

ERNST GOTTHART. Ja, mein lieber Heinrich. Lest nur!

HEINRICH. Nun, so hören Sie. Er liest. Die Melancholischen sind dabei fröhlich ...

ERNST GOTTHART. Wobei?

HEINRICH. Ei, bei den Nutzbarkeiten des Ehestandes! Er liest weiter. Die Melancholischen sind dabei fröhlich, und durch dieses Mittel vergeht ihre Traurigkeit und Furcht. Ihr verlorner Appetit und geschwächter Magen wird dadurch wiederum bei Kräften erhalten. In der Tat heilet der Umgang mit dem Frauenzimmer unsere Melancholie ... Sehen Sie, der Mann hat auch selbst die Melancholie gehabt: drum sagt er unsere.

ERNST GOTTHART. Nun, schon gut! nur weiter.

HEINRICH liest. Und hat weit größere Wirkung über uns ... Sehen Sie? als alle El – el, l, e, elle, b, o, bo, ellebo, r, i, bori, lebori, Ellebori, der Medicorum ... Was ist das für Zeug, Herr Gotthart?

ERNST GOTTHART. Das ist Niesewurz.

HEINRICH. Was, zum Teufel! geben die Leute einem ehrlichen Menschen Niesewurz ein? Wofür sehen sie ihre Kranken an?

ERNST GOTTHART. Nun, nun! das versteht Ihr nicht! Leset weiter.

HEINRICH. Was wollte ich's nicht verstehen? Einem Niesewurz eingeben, das heißt ja einen für einen Narren erklären. Ich habe es wohl mehr als tausendmal gehört.

ERNST GOTTHART. Ja, im gemeinen Leben versteht man es wohl so; aber in der Medizin ist es eine Arzenei.

HEINRICH schüttelt den Kopf. Arzenei oder nicht! Wenn mir mein Doktor mit Ellenbogen oder Niesewurz käme, so schmiß ich ihm das Glas vor die Füße und sagte, wollt Ihr einen Narren haben, so nehmt es selbst ein.

ERNST GOTTHART lacht. Ich sage Euch, Ihr sollt weiter lesen.[231]

HEINRICH liest. Selbst die Gedanken der Liebe erfreuen und erquicken und stärken uns: sie vermehren unsern Ca–lo–rem und dissi–dissi–pie–ren und dissipieren die dicke schwarze Galle ... Sehen Sie, da haben Sie's! Ist das nicht ein vortrefflich Rezept wider Ihre Grillen? Da dörfen Sie keinen Kräutertee trinken; keine Pillen einnehmen; keine magenstärkenden Tränke; keine blutreinigende Tropfen; keine niederschlagende Pulver und allen solchen Plunder mehr einschlucken. Nun? was sagen Sie dazu?

ERNST GOTTHART schüttelt den Kopf. Der Ehestand? der Umgang mit dem Frauenzimmer? und die bloßen verliebten Gedanken? das soll ein Mittel wider die Hypochondrie sein? das glaube ich mein Lebetage nicht!

HEINRICH. Ei, hier steht's ja mit ausdrücklichen Worten gedruckt. Der Mann würde es ja nicht geschrieben haben, wenn es nicht wahr wäre. Das Buch ist ja in Leipzig gedruckt. Es muß gewiß wahr sein!

ERNST GOTTHART. Ja, wenn ich nur nicht von allen andern Medicis gehört hätte, daß der Umgang mit dem Frauenzimmer und die verliebten Grillen einem Hypochondristen so schädlich wären als Gift. Sie sagen, das Blut wird dadurch in Wallung gebracht: weil es aber wegen seiner Dicke und der schwarzen Galle seinen Umlauf nicht haben kann, so preßt es sich nach dem Herzen. Daher entstünde das Herzpochen und die Beängstigungen. Die Ehe selbst aber soll einem Hypochondristen ärger sein als der Tod. Denn wie leicht ...

HEINRICH. Ach schweigen Sie doch! Was Sie auf den heiligen Ehestand zu schändieren haben, das habe ich wohl gehöret, als Sie um das Tor gingen. Allein, nehmen Sie mir's nicht übel. Es ist alles falsch!

ERNST GOTTHART. Falsch, sagt Ihr?

HEINRICH. Lauter leere Einbildungen sind es.

ERNST GOTTHART. Einbildungen?

HEINRICH. Ja, ja! lauter Träume?

ERNST GOTTHART. Ich sage: nein.

HEINRICH. Und ich sage: ja.

ERNST GOTTHART. Und womit wollt Ihr mir das beweisen?

HEINRICH. Womit? damit, daß es hier in diesem Buche ganz anders steht.[232]

ERNST GOTTHART. Soll ich denn diesem einzigen Buche mehr glauben als allen andern Medicis?

HEINRICH. Ja freilich.

ERNST GOTTHART. Und warum das?

HEINRICH. Darum, weil dem Manne, der es geschrieben hat, mehr zu trauen ist als allen übrigen Doktors.

ERNST GOTTHART. Freilich ist das Vertrauen bei allen Medizinern die beste Arzenei. Aber warum ich dem Herrn Venette mehr trauen soll als allen seinen andern Kollegen: das weiß ich nicht. Zumal, da er ein Franzose ist.

HEINRICH. Lesen Sie nur einmal die Vorrede. Da werden Sie finden, was das für ein Buch ist. Es ist kein gründlicheres, gelehrteres, brauchbarers, bessers, vortrefflichers, nützlichers, vollkommeners medizinisches Buch in der ganzen Welt als des Herrn Venette seines. Ja, es steht sogar darin, daß ein großer, gelehrter, berühmter Mann, der selbst ein großes Buch geschrieben haben soll, gestanden hat: daß er aus diesem Buche tausend neue Dinge gelernet habe, die er sonst nicht gewußt hätte.

ERNST GOTTHART. Das wäre viel!

HEINRICH. Ja. Und Sie wollen nicht einmal ein Rezept daraus annehmen? Da Sie doch selbst sehen, daß es ganz neu ist und aller andern Mediziner ihrem Rate schnurstracks zuwiderläuft.

ERNST GOTTHART schüttelt den Kopf. Heinrich, Heinrich! Ihr macht mir beinahe Lust zu dem Rezepte. Ein Kranker muß doch alles versuchen, was ihm die Ärzte raten; es klinge auch so widersinnig, als es wolle. Nun, es sei darum! ich will also einmal aus Desperation verliebt werden und wider alle meine ehemaligen Vorsätze auf die Freite gehen. Allein ... Er schüttelt den Kopf.

HEINRICH. Allein! allein! mit Ihrem ewigen allein! Wenn ich schon das Wort höre, so ist es nicht anders, als wenn mich einer mit einem Eimer kaltes Wasser begösse! Suchen Sie sich doch lieber geschwinde ein hübsches Mädchen aus. Und daß Sie sehen sollen, daß ich es mit Ihnen redlich meine, so will ich auch alles mein mögliches tun, daß Sie sie auch bekommen sollen. Ich habe bei meinem vorigen Herrn in der Kunst so ziemlich ausgelernet.

ERNST GOTTHART. Ja, Heinrich, wo ich in der Welt mit einem Frauenzimmer umzugehen oder gar zu leben wünschte: so wäre es keine andere als meine lustige Muhme, die jetzt hier im Hause ist.[233]

HEINRICH. Ei, desto besser! desto besser! Bringen Sie nur je eher, je lieber Ihr Jawort bei ihr an. Aber lange zaudern müssen Sie nicht. Sie bleibt nur noch zween Tage hier.

ERNST GOTTHART. Heinrich, ich muß es Euch nur vertrauen. Mir kömmt es gänzlich so vor, als wenn die Jungfer Muhme schon ein Auge auf mich hat.

HEINRICH stellt sich fremde. So?

ERNST GOTTHART. Ja. Seht nur einmal, was sie mir für eine kostbare Tresse geschenkt hat. Er sucht ganz erschrocken in allen Taschen.

HEINRICH. Ei, zeigen Sie sie mir doch.

ERNST GOTTHART ganz unruhig. Hilf, Himmel! Heinrich, die Tresse ist fort. Er sucht nochmals überall.

HEINRICH. Fort?

ERNST GOTTHART schlägt die Hände zusammen. Ja, so wahr ich lebe! Sie ist fort!

HEINRICH. Ei! was wird sie fort sein. Sie werden Sie gewiß in Gedanken wieder wohin verwahret haben. Eben wie die Bücher.

ERNST GOTTHART. Nein, Heinrich. Sie ist verloren! oder gestohlen!

HEINRICH. Ei, suchen Sie nur erst recht nach.

ERNST GOTTHART sucht noch einmal. Nein, nein, sie ist fort! sie ist fort! Ich Unglückseliger!

HEINRICH sieht sich rund herum. Ei, sie muß sich noch finden!

ERNST GOTTHART. Ich bin verloren! Er wirft seine Perücke auf die Erde.

HEINRICH. Sachte, sachte! zerreißen Sie sich nicht!

ERNST GOTTHART. Ja, ja! ich muß mich freilich zerreißen. Er windet die Hände.

HEINRICH. Sein Sie doch nicht wunderlich! warten Sie! ich will sie suchen.

ERNST GOTTHART. Ei, was wollt Ihr suchen! Sie wird wohl vor dem Tore liegen. Ich armer, unseliger Mensch. Er läuft ängstlich herum.

HEINRICH. Haben Sie doch nur ein wenig Geduld! Ich will den Augenblick zurücklaufen und suchen, bis ich sie finde. Er will gehen.

ERNST GOTTHART hält ihn zurück. Um des Himmels willen nicht!

HEINRICH. Warum nicht?[234]

ERNST GOTTHART ängstlich. Nein, Heinrich, wo Ihr noch von mir geht, so muß ich mich gar erhenken.

HEINRICH. Ei, Possen! tun Sie's, wo Sie das Herz haben!


Er läuft weg; bleibt aber hinter der Szene stehen und macht zu allem, was Gotthart sagt, wunderliche Stellungen.


Quelle:
Die bürgerliche Gemeinschaftskultur der vierziger Jahre. Herausgegeben von Prof. Dr. Brüggemann, Leipzig 1933, S. 228-235.
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