An die Sonne

[249] Sonne, helles Aug der Welt,

Höchster Schmuck vom Himmels-Zelt,

Denn wenn Alles noch so schön,

Was wärs, wär' es nicht zu sehn?


Keinen Gleichen hastu hier,

Dieser Vorzug bleibet dir,[249]

Doch ist noch ein' andre Sonn,

Die von mehrer Zier und Wonn.


Du gehst ab und wieder auff,

Und so ändert sich dein Lauff;

Nicht so aber macht es die,

Der es früh nach Abend nie.


Diesen auserwehlten Schein

Bild' ich mir durch dich stets ein,

Denn wie du regierst die Zeit,

Führet die die Ewigkeit.


Durch dich wird der Tag gemacht,

Trittstu ab, so wird es Nacht,

Du erweckst der Erden Pflicht

Und bist Vater aller Frücht.


Jesus gibt ein besser Licht,

Das nur mir die Nacht vernicht,

Ach, die schwere Sünden-Nacht,

Die mich sonst gantz dunkel macht.


Durch ihn wächset, grünt und blüht,

Was mein Herz für Frücht' erzieht,

Nichtes kan ich sonder ihn,

Als nur mich zur Höllen ziehn.


Dein beliebter Glantz erfreut,

Wärmet, quickt und benedeyt,

So daß du ohn Segen nicht,

Wenn du gleich bewölkst dein Licht.


Er entzündt in mir die Glut,

Die mit Himmels vollem Muth

Und des höchsten Geistes Geist

Meine schwache Seele speist.


Ob er mich auch gleich betrübt,

Bleibt er doch in mich verliebt,

Denn je härter er mich drückt,

Desto mehr er mich erquickt.
[250]

Ewger Auffgang vor der Zeit,

Sonne der Gerechtigkeit,

Gehe, Jesu, o mein Licht,

Nimmer in mir unter nicht.


Ohn dich bricht nur an der Tag,

Daß mein Kreutz anbrechen mag,

Und es macht der helle Schein

Mir nur sichtbar meine Pein.


Wirk' aus meiner Hände Pflicht

Viele dir genehme Frücht,

Leg' ich mich dann drauf zur Ruh,

Lege du dich auch dazu.


Wärm mich, wenn ich liebe kalt

Und mit dir es laulicht halt,

Leucht mir, daß ich zu dir geh',

Und erquick' mich, wenn mir weh.


Letzt laß deines Todes Pein

Meiner Asche Leben seyn;

Dieses bittet, ander ich,

Deine Sonnenwende dich.

Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 30, Stuttgart [o.J.], S. 249-251.
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