Chidher

[291] Chidher, der ewig junge, sprach:

»Ich fuhr an einer Stadt vorbei,

Ein Mann im Garten Früchte brach;[291]

Ich fragte, seit wann die Stadt hier sei?«

Er sprach und pflückte die Früchte fort:

»Die Stadt steht ewig an diesem Ort

Und wird so stehen ewig fort.«

Und aber nach fünfhundert Jahren

Kam ich desselbigen Wegs gefahren.


Da fand ich keine Spur der Stadt;

Ein einsamer Schäfer blies die Schalmei,

Die Herde weidete Laub und Blatt;

Ich fragte: »Wie lang' ist die Stadt vorbei?«

Er sprach und blies auf dem Rohre fort:

»Das eine wächst, wenn das andre dorrt;

Das ist mein ewiger Weideort.«

Und aber nach fünfhundert Jahren

Kam ich desselbigen Wegs gefahren.


Da fand ich ein Meer, das Wellen schlug,

Ein Schiffer warf die Netze frei;

Und als er ruhte vom schweren Zug,

Fragt' ich, seit wann das Meer hier sei?

Er sprach und lachte meinem Wort:

»So lang' als schäumen die Wellen dort,

Fischt man und fischt man in diesem Port.«

Und aber nach fünfhundert Jahren

Kam ich desselbigen Wegs gefahren.


Da fand ich einen waldigen Raum

Und einen Mann in der Siedelei,

Er fällte mit der Axt den Baum;

Ich fragte, wie alt der Wald hier sei?

Er sprach: »Der Wald ist ein ewiger Hort;

Schon ewig wohn' ich an diesem Ort,

Und ewig wachsen die Bäum' hier fort.«

Und aber nach fünfhundert Jahren

Kam ich desselbigen Wegs gefahren.


Da fand ich eine Stadt, und laut

Erschallte der Markt vom Volksgeschrei.[292]

Ich fragte: »Seit wann ist die Stadt erbaut?

Wohin ist Wald und Meer und Schalmei?«

Sie schrien und hörten nicht mein Wort:

»So ging es ewig an diesem Ort

Und wird so gehen ewig fort.«

Und aber nach fünfhundert Jahren

Will ich desselbigen Weges fahren.


Quelle:
Friedrich Rückert: Werke, Band 1, Leipzig und Wien [1897], S. 291-293.
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