Vom Bäumlein, das spazieren ging

[279] Das Bäumlein stand im Wald

In gutem Aufenthalt;

Da standen Busch und Strauch

Und andre Bäumlein auch;

Die standen dicht und enge,

Es war ein recht's Gedränge;

Das Bäumlein mußt' sich bücken

Und sich zusammen drücken;

Da hat das Bäumlein gedacht

Und mit sich ausgemacht:

»Hier mag ich nicht mehr stehn,

Ich will wo anders gehn

Und mir ein Örtlein suchen,

Wo weder Birk' noch Buchen,

Wo weder Tann' noch Eichen

Und gar nichts desgleichen;

Da will ich allein mich pflanzen

Und tanzen.«


Das Bäumlein das geht nun fort

Und kommt an einen Ort,[279]

In ein Wiesenland,

Wo nie ein Bäumlein stand,

Da hat sich's hingepflanzt

Und hat getanzt.


Dem Bäumlein hat's vor allen

An dem Örtlein gefallen;

Ein gar schöner Bronnen

Kam zum Bäumlein geronnen;

War's dem Bäumlein zu heiß,

Kühlt's Brünnlein seinen Schweiß.

Schönes Sonnenlicht

War ihm auch zugericht';

War's dem Bäumlein zu kalt,

Wärmt' die Sonn' es bald.

Auch ein guter Wind

War ihm hold gesinnt,

Der half mit seinem Blasen

Ihm tanzen auf dem Rasen.


Das Bäumlein tanzt' und sprang

Den ganzen Sommer lang;

Bis es vor lauter Tanz

Hat verloren den Kranz.

Der Kranz mit den Blättlein allen

Ist ihm vom Kopf gefallen;

Die Blättlein lagen umher,

Das Bäumlein hat keines mehr;

Die einen lagen im Bronnen,

Die andern in der Sonnen,

Die andern Blättlein geschwind

Flogen umher im Wind.


Wie's Herbst nun war und kalt,

Da fror's das Bäumlein bald;

Es rief zum Brunnen nieder:

»Gib meine Blättlein mir wieder,

Damit ich doch ein Kleid[280]

Habe zur Winterszeit.«

Das Brünnlein sprach: »Ich kann eben

Die Blättlein dir nicht geben;

Ich habe sie alle getrunken,

Sie sind in mich versunken.«


Da kehrte von dem Bronnen

Das Bäumlein sich zur Sonnen:

»Gib mir die Blättlein wieder,

Es friert mich an die Glieder.«

Die Sonne sprach: »Nun eben

Kann ich sie dir nicht geben;

Die Blättlein sind längst verbrannt

In meiner heißen Hand.«


Da sprach das Bäumlein geschwind

Zum Wind:

»Gib mir die Blättlein wieder,

Sonst fall' ich tot darnieder.«

Der Wind sprach: »Ich eben

Kann dir die Blättlein nicht geben;

Ich hab' sie über die Hügel

Geweht mit meinem Flügel.«

Da sprach das Bäumlein ganz still:

»Nun weiß ich, was ich will;

Da haußen ist mir's zu kalt,

Ich geh' in meinen Wald,

Da will ich unter die Hecken

Und Bäume mich verstecken.«


Da macht sich's Bäumlein auf

Und kommt im vollen Lauf

Zum Wald zurück gelaufen,

Und will sich stell'n in den Haufen.

's fragt gleich beim ersten Baum:

»Hast du keinen Raum?«

Der sagt: »Ich habe keinen!«

Da fragt das Bäumlein noch einen,[281]

Der hat wieder keinen;

Da fragt das Bäumlein noch einen:

Es fragt von Baum zu Baum,

Aber kein einz'ger hat Raum.

Sie standen schon im Sommer

Eng in ihrer Kammer;

Jetzt im kalten Winter

Stehn sie noch enger dahinter.

Dem Bäumchen kann nichts frommen,

Es kann nicht unterkommen.


Da geht es traurig weiter

Und friert, denn es hat keine Kleider;

Da kommt mittlerweile

Ein Mann mit einem Beile,

Der reibt die Hände sehr,

Thut auch, als ob's ihn frör'.

Da denkt das Bäumlein wacker:

»Das ist ein Holzhacker;

Der kann den besten Trost

Mir geben für meinen Frost.«


Das Bäumlein spricht schnell

Zum Holzhacker: »Gesell,

Dich friert's so sehr wie mich

Und mich so sehr wie dich.

Vielleicht kannst du mir

Helfen und ich dir.

Komm, hau' mich um

Und trag' mich in deine Stub'n,

Schür' ein Feuer an,

Und leg' mich dran;

So wärmst du mich

Und ich dich.«


Das deucht dem Holzhacker nicht schlecht,

Er nimmt sein Beil zurecht;

Haut's Bäumlein in die Wurzel,[282]

Umfällt's mit Gepurzel;

Nun hackt er's klein und kraus

Und trägt das Holz nach Haus

Und legt von Zeit zu Zeit

In den Ofen ein Scheit.


Das größte Scheit von allen

Ist uns fürs Haus gefallen;

Das soll die Magd uns holen,

So legen wir's auf die Kohlen;

Das soll die ganze Wochen

Uns unsre Suppen kochen.

Oder willst du lieber Brei?

Das ist mir einerlei.


Quelle:
Friedrich Rückert: Werke, Band 1, Leipzig und Wien [1897], S. 279-283.
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