[356] Euer Locken
Lockt mich nicht,
Morgenglocken,
Morgenlicht!
Daß nur ließen
Euerm Chor
Sich verschließen
Aug' und Ohr!
Daß mich nimmer
Weckte bang
Euer Schimmer,
Euer Klang!
Euer Locken
Lockt mich nicht,
Morgenglocken,
Morgenlicht!
Freude tagen
Mag der Flur;
Meine Klagen
Weckt ihr nur.
Träum' umwoben
Wonnereich
Mich von oben,
Und vor euch
Floh erschrocken
Das Gesicht,
Morgenglocken,
Morgenlicht!
[357]
Schönre Fluren
Sah ich, ach;
Lieben Spuren
Ging ich nach.
Wo ich diese
Spuren sah,
Trug die Wiese
Fern und nah
Blüthenflocken
Voll und dicht,
Morgenglocken,
Morgenlicht!
Lilienstengel
In der Hand,
Kamen Engel,
Mir bekannt.
Mein bekanntes
Engelpaar,
Ihr verbannt es,
Eh es gar,
Meinen Locken
Kränze flicht,
Morgenglocken,
Morgenlicht!
[358]
Goldner Mährchen
Wunderhort
Bringt mein Pärchen
Mir von dort.
Ist der Faden,
Kaum geknüpft,
Ohne Gnaden
Schon entschlüpft?
Ihr macht stocken
Das Gedicht,
Morgenglocken,
Morgenlicht!
Dort entschwebet
Es der Thür;
Was denn gebet
Ihr dafür?
Die ich wiegen
Sah im Duft;
Daß sie liegen
In der Gruft,
Geht ihr trocken
Mir Bericht,
Morgenglocken,
Morgenlicht!
|
Ausgewählte Ausgaben von
Kindertodtenlieder
|
Buchempfehlung
Seine naturalistische Darstellung eines Vater-Sohn Konfliktes leitet Spitteler 1898 mit einem Programm zum »Inneren Monolog« ein. Zwei Jahre später erscheint Schnitzlers »Leutnant Gustl" der als Schlüsseltext und Einführung des inneren Monologes in die deutsche Literatur gilt.
110 Seiten, 6.80 Euro
Buchempfehlung
Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.
430 Seiten, 19.80 Euro