[Komm, o lieblicher Bruder]

[274] Komm, o lieblicher Bruder,

Mit geflügelten Schritten,

Laß das Thal uns beschweben,

Welchem jüngst wir entglitten.


Laß das Thal uns besuchen,

Wo sonst unseren Eltern

Blühten schönere Blumen

Unter unseren Tritten.


Wo noch unsere Brüder

Wandeln; daß sie die Eltern

Lieben, lieben einander,

Laß die Brüder uns bitten.


Wie wir immer die Mutter

Mit unschuldigem Spiele

Freuten, die sie betrübten

Oft mit wilderen Sitten.


Wie sie immer uns lobte,

Unsere liebende Mutter,

Daß wir still uns vertrugen,

Wenn sie lärmend sich stritten.


O sie würden nicht streiten,

Wenn sie wüßten, wie schmerzlich

Stimmen streitender Brüder

Elternherzen durchschnitten.
[275]

Komm, sie dürfen nicht streiten;

Laß den Frieden uns stiften!

Dazu braucht es im Hause

Keinen Fremden und Dritten.


Welcher Dritte vermögt' es,

Wenn wir zwei nicht vermögten,

Mit dem Mörtel der Eintracht

Ihren Bund zu verkitten?


Weh zu thun nicht einander,

Zu verzeihen was weh thut,

Laß beim Weh sie beschwören,

Das im Tode wir litten!


Laß uns ihnen es sagen,

Daß sie lieben sich müssen,

Wenn wir freuen uns sollen

In der Seligen Mitten.

Quelle:
Friedrich Rückert: Kindertodtenlieder aus seinem Nachlasse, Frankfurt a.M. 1872, S. 274-276.
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