Bethlehem und Golgatha

[20] Er ist in Bethlehem geboren,

Der uns das Leben hat gebracht,

Und Golgatha hat er erkoren,

Durchs Kreuz zu brechen Todes Macht.

Ich fuhr vom abendlichen Strande

Hinaus, hindurch die Morgenlande;

Und Größeres ich nirgend sah

Als Bethlehem und Golgatha.


Wie sind die sieben Wunderwerke

Der alten Welt dahingerafft,

Wie ist der Trotz der ird'schen Stärke

Erlegen vor der Himmelskraft!

Ich sah sie, wo ich mochte wallen,

In ihre Trümmer hingefallen

Und stehn in stiller Gloria

Nur Bethlehem und Golgatha.


Weg ihr ägypt'schen Pyramiden!

In denen nur die Finsternis

Des Grabes, nicht des Todes Frieden

Zu bauen sich der Mensch befliß.

Ihr Sphinx' in kolossalen Größen,

Ihr konntet nicht der Erde lösen

Des Lebens Rätsel, wie's geschah

Durch Bethlehem und Golgatha.


Erdparadies am Roknabade,

Flur aller Rosen von Schiras![20]

Und am gewürzten Meergestade

Du Palmengarten Indias!

Ich seh' auf euren lichten Fluren

Noch gehn den Tod mit dunklen Spuren:

Blickt auf! Euch kommt das Leben da

Von Bethlehem und Golgatha.


Du Kaaba, schwarzer Stein der Wüste,

An den der Fuß der halben Welt

Sich jetzt noch stößt, steh' nur und brüste

Dich, matt von deinem Mond erhellt!

Der Mond wird vor der Sonn' erbleichen,

Und dich zerschmettern wird das Zeichen

Des Helden, dem Viktoria

Ruft Bethlehem und Golgatha.


O der du in der Hirten Krippe

Ein Kind geboren wolltest sein,

Und, leidend Pein am Kreuzgerippe,

Von uns genommen hast die Pein!

Die Krippe dünkt dem Stolze niedrig,

Es ist das Kreuz dem Hochmut widrig;

Du aber bist der Demut nah'

In Bethlehem und Golgatha.


Die Kön'ge kamen anzubeten

Den Hirtenstern, das Opferlamm,

Und Völker haben angetreten

Die Pilgerfahrt zum Kreuzesstamm.

Es ging in Kampfes Ungewitter

Die Welt, doch nicht das Kreuz in Splitter,

Als Ost und West sich kämpfen sah

Um Bethlehem und Golgatha.


O laßt uns nicht mit Lanzenknechten,

Laßt mit dem Geist uns ziehn ins Feld,[21]

Laßt uns das heil'ge Land erfechten,

Wie Christus sich erfocht die Welt!

Lichtstrahlen laßt nach allen Seiten

Hinaus als wie Apostel schreiten,

Bis alle Welt ihr Licht empfah'

Aus Bethlehem und Golgatha.


Mit Pilgerstab und Muschelhute

Nach Osten zog ich weit hinaus;

Die Botschaft bring' ich euch, die gute,

Von meiner Pilgerfahrt nach Haus:

O zieht nicht aus mit Hut und Stabe

Nach Gottes Wieg' und Gottes Grabe!

Kehrt ein in euch und findet da

Sein Bethlehem und Golgatha.


O Herz, was hilft es, daß du knieest

An seiner Wieg' im fremden Land?

Was hilft es, daß du staunend siehest

Das Grab, aus dem er längst erstand?

Daß er in dir geboren werde

Und daß du sterbest dieser Erde,

Und lebest ihm, nur dieses ja

Ist Bethlehem und Golgatha.


Quelle:
Friedrich Rückert: Werke, Band 2, Leipzig und Wien [1897], S. 20-22.
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