3.

[318] Flammt empor in euren Höh'n, Morgensonnen, lobt den Herrn!

Rauscht in euren Tiefen auf, Schöpfungsbronnen, lobt den Herrn!

Die ihr, ohne zu verglühn, lang' geflammt vor seinem Blick,

Ohne zu verrinnen, lang' hingeronnen, lobt den Herrn!

Der ein mannigfaltiges Leben schaun will außer sich;

Alle, die ein Leben ihr habt gewonnen, lobt den Herrn!

Alle Tropfen seiner Huld, die zu Perlen sich geformt,

Funken Lichtes, die zu Gold sind geronnen, lobt den Herrn![318]

Soviel Halme von dem Tau seiner Gnade trunken sind,

Soviel sich an seinem Strahl Welten sonnen, lobt den Herrn!

Ob vor seinem ew'gen Blick ihr des Lebens raschen Tanz

Jetzt vollendet oder jetzt habt begonnen, lobt den Herrn!

Blumen, die der Frühling weckt, Garben, die der Sommer dörrt,

Trauben, deren Blut der Herbst preßt in Tonnen, lobt den Herrn!

Raupe, die das Blatt benagt, haftend an dem grünen Zweig,

Puppe, zur Verwandlung reif eingesponnen, lobt den Herrn!

Schmetterlinge, die ihr noch von dem Duft der Blüten nascht,

Schmetterlinge, die ins Licht schon zerronnen, lobt den Herrn!

Geister, eingeengt in Nacht oder aufgeflammt ins Licht,

Herzen, schmeckend Lebenslust, Todeswonnen, lobt den Herrn!

Die ihr mit dem Flügelschlag glühender Begeistrung strebt,

Oder fördert euer Werk still besonnen, lobt den Herrn!

Lobt den Herrn, des Lichtgewand auch durch dunkle Fäden wächst,

Die ein unscheinbarer Fleiß hat gesponnen, lobt den Herrn!

Lobt den Herrn, des Angesicht lächelnd in den Spiegel schaut

Auch des Tropfens, der am Halm hängt geronnen, lobt den Herrn!

Lobt den Herrn, der loben sich gern in allen Sprachen hört,

Die Bedürfnis seines Lobs hat ersonnen, lobt den Herrn!

Ob das Blatt am Zweige rauscht, ob des Menschen Zunge tönt,

Ob ein Engel höhern Gruß sich ersonnen, lobt den Herrn!

Alle, die ihr euren Gott fühlet, ahnet, denket, schaut,

Die ihr sinnt, was niemals wird ausgesonnen, lobt den Herrn!

Wenn in des Gemütes Nacht euch sein erster Schimmer brach,

Oder wenn ihr euch im Glanz habt versonnen, lobt den Herrn!

Alle Sinne, die des Sangs Woge schwellet himmelan,

Lobt mit allen rauschenden Schöpfungsbronnen, lobt den Herrn!

Alle Seelen, in der Glut des Gebetes Weihrauch-gleich,

Lobt mit allen brennenden Morgensonnen, lobt den Herrn!


Quelle:
Friedrich Rückert: Werke, Band 1, Leipzig und Wien [1897], S. 318-319.
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