Der Stylit

[579] Völker schlugen über ihm zusammen,

die er küren durfte und verdammen;

und erratend, daß er sich verlor,

klomm er aus dem Volksgeruch mit klammen

Händen einen Säulenschaft empor,


der noch immer stieg und nichts mehr hob,

und begann, allein auf seiner Fläche,

ganz von vorne seine eigne Schwäche

zu vergleichen mit des Herren Lob;


und da war kein Ende: er verglich;

und der Andre wurde immer größer.

Und die Hirten, Ackerbauer, Flößer

sahn ihn klein und außer sich


immer mit dem ganzen Himmel reden,

eingeregnet manchmal, manchmal licht;

und sein Heulen stürzte sich auf jeden,

so als heulte er ihm ins Gesicht.

Doch er sah seit Jahren nicht,
[579]

wie der Menge Drängen und Verlauf

unten unaufhörlich sich ergänzte,

und das Blanke an den Fürsten glänzte

lange nicht so hoch hinauf.


Aber wenn er oben, fast verdammt

und von ihrem Widerstand zerschunden,

einsam mit verzweifeltem Geschreie

schüttelte die täglichen Dämonen:

fielen langsam auf die erste Reihe

schwer und ungeschickt aus seinen Wunden

große Würmer in die offnen Kronen

und vermehrten sich im Samt.


Quelle:
Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 1, Wiesbaden und Frankfurt a.M. 1955–1966, S. 579-580.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Der neuen Gedichte anderer Teil
Der Neuen Gedichte Anderer Teil
Neue Gedichte - Der Neuen Gedichte anderer Teil.
Der neuen Gedichte anderer Teil